Entscheidungsstichwort (Thema)

Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. unbillige Entschädigung. Begrenzung der Entschädigungssumme auf das finanzielle Interesse im Ausgangsverfahren. unangemessene Verfahrensdauer. statistische Dauer vergleichbarer Verfahren. Sozialgerichte in Rheinland-Pfalz. zeitlicher Rahmen von etwa 24 Monaten. Verkürzung bei Existenzsicherung und Eilbedürftigkeit. Verzögerung durch Richterwechsel. sozialgerichtliches Verfahren. Verzögerungsrüge. Übergangsregelung. Mitverschulden des Entschädigungsklägers. Geschäftsverteilung. Wiedergutmachung auf andere Weise

 

Orientierungssatz

1. Der Entschädigungsbetrag für überlange Gerichtsverfahren ist im Grundsatz auf das mit dem Ausgangsverfahren verfolgte finanzielle Interesse begrenzt und kann insoweit nach § 198 Abs 2 S 4 GVG beschränkt werden.

2. Die angemessene Dauer eines gerichtlichen Verfahrens ist nicht der Durchschnittswert nach den Justizstatistiken. Stattdessen ist von einem zeitlichen Rahmen auszugehen, dessen obere Grenze etwa in der Nähe des Zeitpunktes zu suchen ist, in dem der allergrößte Teil aller vergleichbarer Gerichtsverfahren beendet ist (hier 24 Monate für Sozialgerichte in Rheinland-Pfalz).

3. Eine Verfahrensdauer von 24 Monaten ist allerdings dann nicht hinzunehmen und kann bereits überlang sein, wenn es um existenzielle und eilbedürftige Fragen geht, zumindest wenn das Verfahren nicht besonders umfangreich und schwierig ist und auch keine zeitaufwändigen Ermittlungen durchzuführen sind (hier bejaht für Grundsicherungsleistungen).

4. Richterwechsel fallen in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Es liegt im Zuständigkeitsbereich der Länder, für eine hinreichende materielle und personelle Ausstattung der Gerichte zu sorgen, damit diese ihrem Rechtsprechungsauftrag in einer Weise nachkommen können, die den Anforderungen des Art 19 Abs 4 Satz 1 GG genügt (entgegen LSG Halle vom 29.11.2012 - L 10 SF 5/12 ÜG = ASR 2013, 59; vgl hierzu BVerfG vom 13.8.2012 - 1 BvR 1098/11 = NZS 2013, 21).

 

Normenkette

GVG § 198 Abs. 1-2, 4-5, § 21e; ÜGRG Art. 23; ÜGRG Art. 24; GG Art. 19 Abs. 4

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 12.02.2015; Aktenzeichen B 10 ÜG 11/13 R)

 

Tenor

1. Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin eine Entschädigung in Höhe von 216,00 € zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Die Beklagte trägt 10,29 v.H., die Klägerin 89,71 v.H. der Kosten des Verfahrens.

3. Die Revision wird zugelassen.

4. Der Streitwert wird auf 2.100,00 € festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Entschädigung wegen unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens gemäß § 198 Abs. 1 Satz 1 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG).

Dem ursprünglichen Klageverfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Mit ihrer am 08.12.2009 beim Sozialgericht Speyer erhobenen Klage begehrte die Klägerin die Aufhebung eines Sanktionsbescheids der beklagten Gesellschaft für Arbeitsmarktintegration Vorderpfalz-Ludwigshafen mbH (später: Jobcenter Vorderpfalz-Ludwigshafen) vom 22.10.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01.12.2009. Durch diesen Bescheid senkte die Beklagte unter Änderung eines Bewilligungsbescheids die der Klägerin gewährte Regelleistung nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) um 20 v.H. für die Monate von November 2009 bis Januar 2010 ab. Bei einer für die Klägerin maßgeblichen monatlichen Regelleistung in Höhe von (iHv) 359 € ergab sich ein Kürzungsbetrag iHv monatlich 72 € und damit eine Beschwer der Klägerin iHv 216 € für die Kürzungsdauer von drei Monaten.

Zugrunde lag der - von der Klägerin bestrittene - Vorwurf, sie habe sich trotz Aufforderungsschreibens mit Belehrung über die möglichen Rechtsfolgen am 25.09.2009 nicht persönlich bei ihrer zuständigen Fallmanagerin gemeldet und dafür keinen wichtigen Grund nachgewiesen, insbesondere die erforderliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht vorgelegt. Da innerhalb der Jahresfrist bereits Anlass für den Eintritt einer Sanktion gegeben gewesen sei, handele es sich um eine erste wiederholte Pflichtverletzung, sodass die Voraussetzungen für eine Absenkung um 20 v.H. der maßgeblichen Regelleistung erfüllt seien.

Die Klägerin stellte in ihrer Klageschrift folgende Anträge:

1. Den Bescheid vom 22.10.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01.12.2009 aufzuheben, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden;

2. der Beklagten die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen.

Das weitere Klageverfahren nahm daraufhin im Wesentlichen folgenden Verlauf:

10.12.2009

Eingangsbestätigung und Aktenanforderung bei der Beklagten bis zum 29.12.2009.

06.01.2010

Eingang der Verwaltungsakten und Übersendung an die Bevollmächtigte der Klägerin zur Einsichtnahme.

11.02.2010

Klagebegründung und Vorlage der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin.

11.03.2010

Klageerwiderung.

17.03.2008

Übersendung angeforderter, bislang f...

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