Entscheidungsstichwort (Thema)

Einstweiliger Rechtsschutz. sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Arbeitslosengeld II. Unterkunft und Heizung. Zweifel an der Nutzung der Unterkunft. Untersuchungsgrundsatz. Zulässigkeit von Hausbesuchen. verfassungskonforme Auslegung. Beweislastverteilung bei Verweigerung des Hausbesuchs. Folgenabwägung. Inaugenscheinnahme. Unverletzlichkeit der Wohnung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bestehen begründete Zweifel an der tatsächlichen Nutzung einer Wohnung durch einen Leistungsempfänger nach dem SGB 2, ist das Jobcenter zur Überprüfung der Voraussetzungen eines Anspruchs auf Bedarfe für Unterkunft und Heizung berechtigt, die tatsächliche Nutzung durch Inaugenscheinnahme der Wohnung nach § 21 Abs 1 S 2 Nr 4 SGB 10 (Hausbesuch) zu überprüfen.

2. Die Duldung der Inaugenscheinnahme der Wohnung nach § 21 Abs 1 S 2 Nr 4 SGB 10 kann nicht mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden. Verweigert ein Leistungsempfänger die Duldung der Inaugenscheinnahme, trägt er, soweit die tatsächliche Nutzung nicht durch andere Beweismittel im Wege der Amtsermittlung festgestellt werden kann, die objektive Beweislast für die tatsächliche Nutzung der Wohnung als Anspruchsvoraussetzung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs 1 S 1 SGB 2.

3. Sind in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, findet eine umfassende Interessenabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls statt. Zur berücksichtigen ist hierbei auch die Mitverantwortung des Antragstellers für eine entstandene für ihn nachteilige Situation. Dies gilt bei Streitigkeiten über einen Anspruch auf Bedarfe für Unterkunft und Heizung auch für die Verweigerung der Duldung einer Inaugenscheinnahme der Wohnung, wenn begründete Zweifel an der tatsächlichen Nutzung bestehen.

 

Normenkette

SGB II § 22 Abs. 1 S. 1; SGB X §§ 20, 21 Abs. 1 S. 2 Nr. 4, Abs. 2; GG Art. 13; SGG § 86b Abs. 2

 

Tenor

1. Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Koblenz vom 12.6.2014 abgeändert und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung insgesamt abgelehnt.

2. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die 1950 geborene Antragstellerin steht im Bezug von Leistungen nach dem SGB II. Sie ist seit 1978 Mieterin einer 1-Zimmer-Wohnung in der R in M, für die sie im Jahr 2013 monatlich € 260 und ab 2014 monatlich € 278 (Kaltmiete € 170, Betriebskostenvorauszahlung € 50 und Gasabschlag € 58) aufwendet. Laut Jahresrechnung der R sind für den Zeitraum vom 18.1.2013 bis zum 20.1.2014 Stromkosten von € 131,07 angefallen (Verbrauch: 116 kWh). Über einen Festnetz-Telefonanschluss verfügt die Antragstellerin nicht (mehr). Der Antragsgegner zahlte der Antragstellerin im Bewilligungsabschnitt vom 1.9.2013 bis zum 28.2.2014 u. a. Kosten der Unterkunft in tatsächlich anfallender Höhe.

Am 9.7.2013 erhielt der Antragsgegner einen anonymen Anruf, in dem mitgeteilt wurde, die Antragstellerin halte sich nicht unter der Adresse in der R auf, sondern wohne ständig bei ihrer Tochter in der K in M. Am 23.1.2014 führte der Antragsgegner daraufhin einen Außendiensttermin durch, bei dem die Antragstellerin in der Wohnung in der R nicht angetroffen wurde. Anzeichen für einen Umzug oder einen verwaisten Briefkasten fanden sich aber nicht: Briefkasten und Türklingel waren ordnungsgemäß beschriftet und im Briefkasten befanden sich ein Prospekt und ein Brief. Laut einem vom Antragsgegner beigezogenen Vermerk der Stadtverwaltung M vom 28.5.2014 hatte der Vermieter des Hauses in der K (in dem die Tochter der Antragstellerin wohnt) mitgeteilt, nach Angaben seiner Mieter wohne die Antragstellerin mit in der Wohnung der Tochter, ohne sich dort angemeldet zu haben und ohne dass sie an den Nebenkosten beteiligt werde. Die Tochter der Antragstellerin habe auf daraufhin gestellte Nachfrage mitgeteilt, ihre Mutter halte sich dort lediglich besuchsweise auf.

Mit Schreiben vom 23.1.2014 - der Antragstellerin per PZU am 27.1.2014 zugestellt - bat der Antragsteller die Antragstellerin, “zwecks Klärung leistungsrechtlicher Fragen„ am 12.2.2014 um 10 Uhr persönlich im Jobcenter vorzusprechen. Er machte die Antragstellerin in diesem Schreiben “ausdrücklich darauf aufmerksam, dass die Vorsprache zum oben genannten Termin zu Ihren Mitwirkungspflichten gemäß §§ 61, 66 SGB I gehört und dass ich ohne weitere Ermittlungen die Grundsicherungsleistungen für Arbeitssuchende ganz entziehen werde [§ 66 SGB I], wenn Sie Ihrer Mitwirkungspflicht nicht zum vereinbarten Termin nachkommen„.

Am 4.2.2014 stellte die Antragstellerin einen Antrag auf Weiterbewilligung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, erschien zu dem Termin am 12.2.2014 aber nicht. Der Antragsgegner “versagte„ daraufhin die Leistungen mit Bescheid vom 13.2.2014 ganz ab dem 1.3.2014, da die Antragstellerin den Termin am 12.2.2014 trotz Belehrung über die Rechtsfolgen ohne Angabe von Gründen nicht wahrgenommen habe. ...

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