Entscheidungsstichwort (Thema)

Unzulässigkeit der Aufrechnung von Ansprüchen aufgrund des AufAG (Erstattungsanspruch) mit Beitragsansprüchen der Krankenkasse als Einzugsstelle im Rahmen des Insolvenzverfahrens. Insolvenzanfechtung. Vorliegen einer Rechtshandlung iSv § 96 Abs 1 Nr 3 InsO. Erklärung der Aufrechnung kann sowohl durch Verwaltungsakt als auch durch öffentlich-rechtliche Willenserklärung erfolgen

 

Orientierungssatz

1. § 24 Abs 2 Nr 7 SGB 10 ist nicht zu entnehmen, dass Aufrechnungen grundsätzlich nur durch Verwaltungsakt erfolgen dürfen.

2. Aus der ausdrücklichen gesetzlichen Bestimmung des § 43 Abs 4 SGB 2 für den Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist nur zu schließen, dass allein in diesem Leistungsbereich die Handlungsform "Verwaltungsakt" für die Erklärung der Aufrechnung zwingend vorgeschrieben ist. In den anderen Rechtsgebieten, für die der Gesetzgeber diese Sonderregelung nicht eingeführt hat, sind - entsprechend der Rechtsprechung des Großen Senates des BSG vom 31.8.2011 - GS 2/10 = BSGE 109, 81 = SozR 4-1200 § 52 Nr 4 - sowohl die Handlungsform des Verwaltungsakts als auch die der öffentlich-rechtlichen Willenserklärung zulässig.

3. Rechtshandlung im Sinne von § 96 Abs 1 Nr 3 InsO ist jedes von einem Willen getragene Handeln, das eine rechtliche Wirkung auslöst und das Vermögen des Schuldners zum Nachteil der Insolvenzgläubiger verändern kann. Ob die Wirkung selbst gewollt war, ist unerheblich. Eine Rechtshandlung ist auch dann anzunehmen, wenn Ansprüche "kraft Gesetzes" entstehen.

4. Nach der zwischenzeitlich gefestigten Rechtsprechung des BGH vom 22.10.2009 - IX ZR 147/06, der sich der BFH und das BSG jeweils angeschlossen haben (vgl BFH vom 22.11.2010 - VII R 62/10 = BFHE 232, 290 und BSG vom 23.3.2011 - B 6 KA 14/10 R = BSGE 108, 56 = SozR 4-2500 § 85 Nr 62) steht fest, dass beim Entstehen beider der Aufrechnung zugrundeliegenden Ansprüche (Erstattungsanspruch/Beitragsanspruch) von einer Rechtshandlung i.S.v. § 96 Abs 1 Nr 3 InsO auszugehen ist. Denn der Beitragsanspruch entsteht durch die Begründung und tatsächliche Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung; der Erstattungsanspruch wird dadurch begründet, dass einem arbeitsunfähigen Beschäftigten Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle gewährt wird.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 31.05.2016; Aktenzeichen B 1 KR 38/15 R)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 23.11.2012 abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 3.520,11 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszins seit dem 11.03.2010 sowie einen weiteren Betrag von 338,50 Euro zuzüglich Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszins seit dem 12.01.2012 zu zahlen.

Die Beklagte trägt die Kosten in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob gegenüber der Beklagten Ansprüche aufgrund des Gesetzes über den Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen für Entgeltfortzahlung (AAG) geltend gemacht werden können. Dabei ist primär streitig, ob diese Ansprüche durch Aufrechnung seitens der Beklagten erloschen sind.

Aufgrund eines Gläubigerantrags vom 21.10.2010 ist der Kläger durch Eröffnungsbeschluss des Amtsgerichts Duisburg vom 11.03.2011 zum Insolvenzverwalter über das Vermögen der N T GmbH (nachfolgend Insolvenzschuldnerin) bestellt worden.

Die Insolvenzschuldnerin machte gegenüber der Beklagten die Erstattung von Arbeitgeberaufwendungen für Entgeltfortzahlung in Höhe von insgesamt 3.520,11 Euro geltend. Die Beklagte teilte mit Schreiben vom 05.10.2010, 20.09.2010, 19.08.2010 und 26.07.2010 der Insolvenzschuldnerin mit, dass die geltend gemachten erstattungsfähigen Aufwendungen bestünden, jedoch auf dem Beitragskonto der Insolvenzschuldnerin noch Beitrags- und Nebenforderungen zwischen 12.211,29 Euro und 18.323,35 Euro offen seien. Weiter heißt es in den jeweiligen Schreiben: "Wir bitten Sie um Verständnis, dass wir Ihre Aufwendungen daher mit den offenen Beiträgen, Säumniszuschlägen und Mahnkosten vollständig verrechnet haben."

Mit Schreiben vom 23.10.2011 teilte der Kläger der Beklagten mit, dass in den letzten drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens an die Beklagte Beitragszahlungen in Höhe von insgesamt 15.449,- Euro erbracht worden seien, welche zurückgezahlt werden müssten. Er erklärte die Anfechtung dieser Zahlungen nach § 129 ff. Insolvenzordnung (InsO). Die Beklagte erstattete daraufhin einen Betrag in Höhe von 12.289,29 Euro und führte weiter aus, dass sie die darüber hinaus angefochtenen Aufrechnungen von Erstattungsansprüchen nach dem AAG nicht erstatten könne, da die Aufrechnungen zulässig seien; dem stehe auch § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO nicht entgegen. Der Kläger vertrat mit Schreiben vom 09.02.2012 die Auffassung, dass die Vorschrift des § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO der Zulässigkeit der Aufrechnungen entgegenstehe.

Der Kläger hat am 12.07.2012 Klage erhoben, mit der er begehrt, die Beklagte zur Zahlung...

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