Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer in den ersten drei Monaten des Aufenthalts. Drittstaatsangehöriger. Rückausnahme bei Aufenthaltstitel nach § 25 Abs 5 AufenthG 2004 und Fiktionsbescheinigungen. Anwendung der Rückausnahme auch auf im Inland geborenen Säugling als Familienangehörigen. verfestigtes Aufenthaltsrecht der Mutter. verfassungskonforme Auslegung

 

Orientierungssatz

1. Wegen der Akzessorietät des Leistungsausschlusses für ausländische Staatsangehörige und ihrer Familienangehörigen in § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB 2 ist davon auszugehen, dass die Rückausnahme des § 7 Abs 1 S 3 SGB 2 sich auch auf Familienangehörige erstreckt.

2. Die Regelungen des § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 und S 3 SGB 2 sind einschränkend dahingehend auszulegen, dass kein Leistungsausschluss besteht, wenn der im Bundesgebiet lebende Familienangehörige ein verfestigtes Aufenthaltsrecht hat. Von einem solchen verfestigten Aufenthaltsrecht ist auszugehen, wenn der Mutter zuerst Fiktionsbescheinigungen nach § 81 Abs 3 S 1, Abs 5 AufenthG 2004, dann ein Aufenthaltstitel nach § 25 Abs 5 AufenthG 2004 und zuletzt wieder Fiktionsbescheinigungen erteilt worden sind. Die Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs 3 S 1 AufenthG 2004 vermittelt einen rechtmäßigen Aufenthalt im Inland.

3. Unter verfassungskonformer Auslegung entspricht die Ausländerbehörde der Pflicht des Staates zum Schutz der Familie aus Art 6 GG nur, wenn sie bei der Entscheidung über den Aufenthalt eines ausländischen Staatsangehörigen die Bindungen des Betroffenen an im Bundesgebiet berechtigterweise lebende Familienangehörige angemessen berücksichtigt. Da ein Säugling auf die Lebenshilfe der allein sorgeberechtigten Mutter zwingend angewiesen und die Ausreise unmöglich ist, ist das Ermessen der Ausländerbehörde entsprechend auf Null reduziert. Ein Verweis auf die alleinige Zuständigkeit der Ausländerbehörde für die Ermessensprüfung ist in solchen Fällen unzulässig.

 

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 18.07.2019 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch im Berufungsverfahren zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig sind Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) für den Zeitraum vom 10.08.2018 bis 09.11.2018.

Frau C (geb. am 00.00.1995) ist die alleinerziehende Mutter der Klägerin (geb. am 00.00.2018) und ihrer Schwester S (geb. am 00.00.2016). Alle drei sind bosnisch-herzegowinische Staatsangehörige und leben in einem Haushalt. Sowohl die Mutter als auch die Schwester der Klägerin besitzen einen Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen gemäß § 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG), die Schwester seit dem 01.06.2018.

Die Mutter der Klägerin und ihr leiblicher Vater, Herr K, bildeten zunächst eine Bedarfsgemeinschaft, die laufend Leistungen nach dem SGB II bezog; die Mutter der Klägerin steht seit März 2016 im Leistungsbezug. Der Beklagte gewährte der Mutter der Klägerin sowie Herrn K mit Bescheid vom 27.03.2018 Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.02.2018 bis 30.11.2018 (für Herrn K jedoch nur bis zu seinem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung am 31.03.2018; an Aufwendungen für Unterkunft und Heizung wurden dabei 731,04 Euro zu Grunde gelegt: Grundmiete: 563,04 Euro, Heizkosten: 56,00 Euro, Nebenkosten: 112,00 Euro). Mit Änderungsbescheiden vom 18. und 24.07.2018 gewährte der Beklagte auch der Schwester der Klägerin von August bis November 2018 Leistungen nach dem SGB II. Bis zum 31.07.2018 hatte diese Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) bezogen.

Mit Bescheid vom 09.08.2018 stellte der Beklagte gegenüber der Mutter der Klägerin die Leistungen vorläufig ein, weil für die Schwester der Klägerin kein Kindergeld beantragt worden war.

Die Mutter der Klägerin benachrichtigte den Beklagten am 15.08.2018 von der Geburt der Klägerin und beantragte für sie Leistungen nach dem SGB II. Der Klägerin wurden seitens des Ausländeramtes der Stadt N für die Zeiträume vom 17.09.2018 bis 05.06.2019 und vom 05.07.2019 bis 04.01.2020 Fiktionsbescheinigungen gemäß § 81 Abs. 3 S. 1, Abs. 5 AufenthG erteilt. Vom 09.05.2019 bis 18.11.2020 war die Klägerin im Besitz eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Seitdem besteht der Aufenthalt der Klägerin wieder auf Grundlage von Fiktionsbescheinigungen gemäß § 81 Abs. 4 S. 1 AufenthG fort, zuletzt befristet bis zum 16.05.2022.

Am 01.10.2018 stellte die Mutter der Klägerin für diese und deren Schwester einen Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz (UVG) bei der Stadt N.

Der Beklagte bewilligte der Mutter sowie Schwester der Klägerin mit Änderungsbescheid vom 10.10.2018 höhere Leistungen für den Zeitraum von April bis November 2018. Als Grund der Änderung wurde ein Mehrbedarf für Alleinerziehende und nun gewährte Unterkunftsaufwendungen angegeben. Zugleich bewilligte der Beklagte der Klägerin Le...

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