Entscheidungsstichwort (Thema)

Unzureichende Geldmittel als Anordnungsgrund zur Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung durch einstweiligen Rechtsschutz

 

Orientierungssatz

1. Zur Glaubhaftmachung des zur Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung durch einstweiligen Rechtsschutz erforderlichen Anordnungsgrundes ist es dem Betroffenen nicht zuzumuten, einen zivilrechtlichen Kündigungsgrund entstehen zu lassen, eine Kündigung hinzunehmen, eine Räumungsklage abzuwarten und auf die nachfolgende Beseitigung der Kündigung zu hoffen.

2. Es ist dem Hilfebedürftigen nicht zuzumuten, dauerhaft die Miete und die Heizkosten unter Inkaufnahme einer Unterdeckung der ihnen für den Regelbedarf zur Verfügung stehenden Mittel zu finanzieren. Bei Vorliegen einer solchen Situation ist der erforderliche Anordnungsgrund zu bejahen.

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 19.04.2016 geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, den Antragstellern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der Kosten der Unterkunft nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften vom 01.04.2016 bis 31.07.2016 zu zahlen.

Der Antragsgegner hat die Kosten der Antragsteller in beiden Rechtszügen zu erstatten.

 

Gründe

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht mit dem angefochtenen Beschluss den Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.

Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).

Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund iSd § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG glaubhaft gemacht.

Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung erfüllen die Antragsteller die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II und haben einen Anspruch auf Leistungen unter Anrechnung des ihnen zufließenden Einkommens. Sie haben auch ihre Hilfebedürftigkeit iSd § 9 SGB II glaubhaft gemacht. Aus den eingereichten Kontoauszügen ergibt sich zum 07.04.2016 lediglich ein Guthaben von 3,14 EUR. Weitere Konten sind nach den glaubhaften Erklärungen der Antragsteller nicht mehr vorhanden. Für die Konten D-bank 000 und Sparkasse X 111 haben die Antragsteller die Auflösung durch Bescheinigungen mittlerweile nachgewiesen, für das Konto D-bank 222 hält der Senat die entsprechende Angabe für glaubhaft. Für das Fehlen ausreichender bereiter Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts spricht auch, dass nach den Angaben der Antragsteller eine Telefon- und Internetsperre, eine Mahnung des Vermieters über die rückständige Kaution iHv 860 EUR und Mietrückstände vorliegen.

Die Antragsteller haben einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Zwar sind sie mit dem zur Verfügung stehenden Einkommen in der Lage, den Regelbedarf und Teile der Kosten für Unterkunft und Heizung zu decken. Sie sind aber nicht in der Lage, ihren Gesamtbedarf zu decken. Der Umstand, dass das einstweilige Rechtsschutzverfahren damit der Sache nach auf die Zahlung von Leistungen für Unterkunft und Heizung gerichtet ist (§ 19 Abs. 3 Satz 2 SGB II) und weder eine Kündigung des Wohnraum noch (sogar) eine Räumungsklage erfolgt sind, steht der Bejahung eines Anordnungsgrundes nicht entgegen.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (grundlegend Beschluss vom 04.05.2015 - L 7 AS 139/15 B ER mit zustimmender Anmerkung Siebold, ASR 2015,109; vergl. auch Beschlüsse vom 16.11.2015 - L 7 AS 1729/15 B ER, vom 04.03.2016 - L 7 AS 2143/15 B ER und vom 13.04.2016 - L 7 AS 507/16 B ER) gilt Folgendes:

Nach der Rechtsprechung des BVerfG (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 - 1 BvL 1/09 u. a.) ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Dieses Grundrecht ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden. Als Grundrecht ist die Norm nicht nur Abwehrrecht gegen Eingriffe des Staates. Der Staat muss die Menschenwürde positiv schützen. Wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus seiner Erwerbstätigkeit, noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür dem Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen. Mit dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiert ein Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers, da das Grundrecht die Würde jedes individuelle...

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