Entscheidungsstichwort (Thema)
Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes zur Gewährung von Leistungen für die Unterkunft und Heizung durch einstweiligen Rechtsschutz. Räumungsklage. Kündigung des Mietvertrags. Existenzminimum
Orientierungssatz
Der zur Bewilligung von Leistungen für die Unterkunft und Heizung nach § 22 SGB 2 durch einstweiligen Rechtsschutz erforderliche Anordnungsgrund liegt nicht erst dann vor, wenn Räumungsklage gegen den Hilfebedürftigen erhoben ist. Es ist dem Betroffenen nicht zuzumuten, einen zivilrechtlichen Kündigungsgrund entstehen zu lassen, eine Kündigung hinzunehmen, eine Räumungsklage abzuwarten und auf die nachfolgende Beseitigung der Kündigung zu hoffen. Der Staat ist im Rahmen seines Auftrags zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür dem Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen. Zu dieser geschützten physischen Existenz gehört die Gewährleistung von Unterkunft und Heizung (Anschluss BVerfG Urteil vom 09. Februar 2010, 1 BvL 1/09).
Normenkette
SGB II § 22 Abs. 1 S. 1, Abs. 9; BGB §§ 543, 569 Abs. 3 Nr. 2, § 573 Abs. 2 Nr. 1; SGG § 86b Abs. 2 S. 2; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 1
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 22.09.2015 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit vom 01.05.2015 bis zum 30.11.2015 Kosten der Unterkunft und Heizung iHv monatlich 383 EUR zu zahlen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat die Kosten des Antragstellers in beiden Rechtszügen zu erstatten.
Gründe
Die Beteiligten streiten im Wesentlichen um die Frage, ob hinsichtlich der Kosten für Unterkunft und Heizung ein Anordnungsgrund iSd § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG vorliegt. Dies ist vom Sozialgericht im angefochtenen Beschluss zu Unrecht verneint worden. Die zulässige Beschwerde ist hinsichtlich der Kosten für Unterkunft und Heizung begründet. Der Antragsteller kann sich hinsichtlich dieser Bedarfe, die der Antragsgegner - im Gegensatz zum Regelbedarf - im Eilverfahren nicht anerkannt hat, auf einen Anordnungsgrund iSd § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG stützen. Hierzu hat der Senat ausgeführt (Beschluss vom 04.05.2015 - L 7 AS 139/15 B ER):
"Der Senat bejaht den Anordnungsgrund auch hinsichtlich der Bedarfe für Unterkunft und Heizung. Die bisher vertretene Auffassung, ein Anordnungsgrund liege erst vor, wenn Wohnungs- und Obdachlosigkeit drohen, d.h. Räumungsklage erhoben wurde (u.a. Beschlüsse des Senats vom 10.09.2014 - L 7 AS 1385/14 B ER; vom 28.02.2013 - L 7 AS 306/13 B ER und vom 25.05.2012 - L 7 AS 743/12 B ER), gibt der Senat auf: Nach der Rechtsprechung des BVerfG (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 - 1 BvL 1/09 u. a.) ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Dieses Grundrecht ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden. Als Grundrecht ist die Norm nicht nur Abwehrrecht gegen Eingriffe des Staates. Der Staat muss die Menschenwürde positiv schützen. Wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus seiner Erwerbstätigkeit, noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür dem Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen. Mit dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiert ein Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers, da das Grundrecht die Würde jedes individuellen Menschen schützt und sie in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann. Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind. Er gewährleistet das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die die physische Existenz des Menschen umfasst. Zu dieser physischen Existenz gehört nach ausdrücklicher Rechtsprechung des BVerfG (Urteil vom 09.02.2010 a.a.O. Rn. 135) auch die Gewährleistung von Unterkunft und Heizung (vergl. hierzu jüngst SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 - S 3 AS 130/14 m.w.N.). Der elementare Lebensbedarf eines Menschen ist nach der Rechtsprechung des BVerfG grundsätzlich in dem Augenblick zu befriedigen, in dem er besteht (BVerfG, Urteil vom 09.02.210 a.a.O. Rn. 140). Die Versagung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung führt damit unmittelbar und sogleich zu einer Bedarfsunterdeckung, die bei glaubhaft gemachter Hilfebedürftigkeit den Kernbereich des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimum...