Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitslosengeld II. Mehrbedarf. unabweisbarer laufender besonderer Bedarf. Abgrenzung des laufenden vom einmaligen Bedarf. Passbeschaffungskosten. Sozialhilfe. Hilfe in sonstigen Lebenslagen. atypischer Bedarf. keine Berücksichtigung bei der Regelbedarfsermittlung. Verweis auf die Beschaffung eines gebührenfreien vorläufigen Reisepasses. - siehe dazu anhängiges Verfahren beim BSG: B 4 AS 33/17 R

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Kosten für die Neubeschaffung eines Reisepasses sind grundsätzlich als Zuschuss oder als Darlehen gemäß § 73 SGB XII zu übernehmen, weil in der Regelleistung nur die Kosten für einen Personalausweis enthalten sind.

2. Der Einsatz öffentlicher Mittel ist bei einem türkischen Reisepass (Gebühr: 217 Euro) nicht gerechtfertigt, weil ein gebührenfreier vorläufiger Reisepass der Ausweispflicht nach dem AufenthG (juris: AufenthG 2004) genügt. Die evtl mit einem vorläufigen Reisepass verbundenen Ein- und Ausreisebeschränkungen sind in diesem Zusammenhang unbeachtlich.

 

Orientierungssatz

1. Die Kosten für die Beschaffung eines ausländischen Reisepasses können nicht als "laufender" Mehrbedarf im Sinne des § 21 Abs 6 SGB 2 angesehen werden.

2. Die begriffliche Abgrenzung zwischen einmaligen und laufenden Bedarfen muss in Anlehnung an die Definition des Bewilligungszeitraums (§ 41 Abs 3 S 1 SGB 2) erfolgen. Ein nur im Abstand von mehreren Jahren auftretender Bedarf ist nicht als laufender zu behandeln (vgl LSG Stuttgart vom 21.10.2011 - L 12 AS 2597/11 = NDV-RD 2012, 54 = juris RdNr 25).

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 12.09.2018; Aktenzeichen B 4 AS 33/17 R)

 

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 1. Dezember 2015 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger bezog Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und begehrt die Erstattung der vom türkischen Konsulat erhobenen und von ihm durch ein Privatdarlehen aufgebrachten Kosten für die Neubeschaffung eines endgültigen Reisepasses.

Der 1966 geborene Kläger ist ausschließlich türkischer Staatsbürger und verfügt über eine Niederlassungserlaubnis i. S. des § 9 Aufenthaltsgesetzes (AufenthG). Nach Auflösung der Bedarfsgemeinschaft mit seiner Ehefrau und seinem volljährigen Sohn im Februar 2015 wurden dem Kläger mit Bescheid vom 23. Februar 2015 laufende Leistungen nach dem SGB II u. a. für den Monat März 2015 bewilligt. Der Kläger war im Besitz eines türkischen Personalausweises.

Am 10. März 2015 beantragte er beim Beklagten eine Beihilfe für die Beschaffung eines neuen Reisepasses, weil der Gültigkeitszeitraum seines Reisepasses abgelaufen sei. Der Beklagte lehnte die Bewilligung einer Beihilfe mit Bescheid vom 11. März 2015 ab, stellte aber für den Fall einer entsprechenden Antragstellung die Bewilligung eines Darlehens in Höhe der Kosten für die kürzeste Gültigkeitsdauer in Aussicht. Zur Begründung seiner Ablehnung führte der Beklagte aus, die Kosten für die Passbeschaffung seien in den pauschalen Regelbedarfen enthalten.

Auf den vom Kläger beim Türkischen Konsulat am 18. März 2015 gestellten Antrag wurde dem Kläger ein neuer endgültiger Reisepass mit einer Gültigkeitsdauer von mehr als vier Jahren  ausgestellt.  Die hierfür vom  Türkischen Konsulat erhobenen Gebühren in Höhe von 217,- Euro brachte der Kläger durch ein Privatdarlehen auf.

Gegen den Bescheid vom 11. März 2015 legte der Kläger am 13. April 2015 Widerspruch ein, den er damit begründete, dass er nach dem AufenthG einen Reisepass benötige. Ohne einen solchen drohe ihm eine strafrechtliche Verfolgung. Er sei nicht in der Lage, die Kosten für die Neuausstellung aus der Regelleistung anzusparen. Soweit der Regelsatz die Kosten für die Erneuerung eines Passes enthalte, seien lediglich die Verwaltungsgebühren für bundesdeutsche Personalausweise berücksichtigt. Die Ablehnung eines Darlehens sei ebenfalls rechtswidrig.

Mit dem seinem Prozessbevollmächtigten am 19. Mai 2015 bekannt gegebenen Bescheid vom 13. Mai 2015 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Soweit der Kläger sich gegen die Ablehnung eines Darlehens wende, sei der Widerspruch unzulässig, weil der Beklagte insoweit nicht entschieden habe. Im Übrigen sei er unbegründet, weil die Kosten in den Regelleistungen berücksichtigt seien.

Hiergegen hat der Kläger am 19. Juni 2015 Klage zum Sozialgericht (SG) Braunschweig erhoben, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.

Das SG hat die Klage zunächst mit Gerichtsbescheid im Wesentlichen unter Bezugnahme auf die Gründe des Widerspruchsbescheides abgewiesen. Hierauf hat der Kläger mündliche Verhandlung beantragt und ausgeführt, dass es sich bei der Passbeschaffung um eine den Anwendungsbereich des § 73 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) eröffnende atypische Bedarfslage handele. Aufgrund der bei der Nichterfüllung der Passpflicht drohenden Sanktionen werde er bei einer Versagung gegenüber anderen Leistungsempfängern benachteiligt.

Mit Urteil...

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