Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen Bl. Blindheit. gnostische Störung. Versorgungsmedizinische Grundsätze. organbezogene Zuordnung. sozialgerichtliches Verfahren. Zuerkennung des Merkzeichens in erster Instanz. Versterben des Klägers im Berufungsverfahren. verbleibende Beschwer des Beklagten als Berufungskläger. Erlöschen des Anspruchs auf Feststellung des Merkzeichens mit dem Tod. keine Vererbung. faktische Möglichkeit der Geltendmachung des Anspruchs durch Rechtsnachfolger ausreichend. Vermeidung eines Verwaltungsverfahrens um einen abzulehnenden Ausführungsbescheid

 

Leitsatz (amtlich)

1. Das Vorliegen einer Beschwer als spezielle Form des Rechtsschutzbedürfnisses für die Rechtsmittelinstanz ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen. Sie muss grundsätzlich bei Einlegung des Rechtsmittels vorliegen und darf nicht vor dem Urteil vollständig entfallen sein.

2. Liegt eine zusprechende erstinstanzliche Entscheidung vor und verstirbt der Kläger im Berufungsverfahren, reicht die bloße Möglichkeit, dass der Anspruch des Verstorbenen seitens der materiell nicht berechtigten Rechtsnachfolger geltend gemacht wird, für die Annahme einer Beschwer der beklagten Behörde aus.

3. Der Nachteilsausgleich Blindheit ist beschränkt auf Störungen des Sehapparats im organischen Sinn. Gnostische Störungen des visuellen Erkennens sind davon nicht erfasst.

 

Orientierungssatz

Zum Leitsatz 3 vgl BSG vom 24.10.2019 - B 9 SB 1/18 R = BSGE 129, 211 = SozR 4-3250 § 152 Nr 2.

 

Tenor

Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hannover vom 12. September 2017 wird aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid vom 2. Januar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. März 2017 abgewiesen.

Kosten sind für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens „Bl“ für den 2020 verstorbenen H. (nachstehend: der Verstorbene) vorliegen.

Der Verstorbene ist im Jahr 2000 geboren worden. Er erlitt bei seiner Geburt aufgrund mangelnder Sauerstoffversorgung schwerste Hirnschäden. Wegen der Funktionsbeeinträchtigung „Hirnschädigung“ erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 26. März 2001 einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Merkzeichen „G“, „B“, „RF“ und „H“ an. Die Feststellung des Merkzeichens „Bl“ lehnte er ab. Zur Begründung führte er aus, es liege eine visuelle Agnosie vor. Es sei das Benennen des Gesehenen betroffen, eine faktische Blindheit liege somit nicht vor. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 23. August 2001 als unbegründet zurück. Die Eltern des Verstorbenen, die jetzigen Kläger, erhoben für ihn Klage bei dem Sozialgericht (SG) Hannover -S 19 SB 603/01-. Das stattgebende Urteil des SG Hannover vom 12. Mai 2005 wurde durch das Urteil des Landessozialgerichtes (LSG) Niedersachsen-Bremen vom 13. Juli 2007 -L 5 SB 90/05- aufgehoben. Auf den Inhalt dieser Entscheidung wird Bezug genommen.

Mit ihrem Überprüfungsantrag vom 2. Dezember 2016 begehrten die Kläger für den Verstorbene unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. August 2015 -B 9 BL 1/14 R- die rückwirkende Feststellung des Merkzeichens „Bl“. Zur weiteren Begründung ihres Antrages überreichten sie eine ärztliche Stellungnahme von Frau I., Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, vom 26. November 2016. Die Ärztin führte dort u.a. aus, die visuelle Reizverarbeitung sei bei dem Verstorbenen stark gestört. Im Vergleich zu den zwischen Geburt bis Ende 2003 eingeholten Befunden, Berichten und Gutachten zeige sich keine Verbesserung.

Der Beklagte veranlasste eine sozialmedizinische Stellungnahme. Die Ärztin Frau Dr. J. führte unter dem 9. Dezember 2016 aus, seit August 2001 habe sich keine Änderung des medizinischen Sachverhalts ergeben. Eine Rindenblindheit liege nicht vor. Es sei weiterhin von einer gnostischen Störung im Sinne einer Seelenblindheit auszugehenden.

Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 2. Januar 2017 ab und wies den dagegen eingelegten Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 3. März 2017 als unbegründet zurück.

Die Kläger haben für den Verstorbenen am 15. März 2017 Klage bei dem SG Hannover erhoben. Zur Begründung führen sie aus, das BSG habe seine frühere Rechtsprechung, wonach Blindheit nur bei einer nachgewiesenen Schädigung des optischen Sehapparates („Nichterkennenkönnen“), nicht aber bei einer zerebralen Schädigung mit der Unfähigkeit, visuelle Reize zu verarbeiten („Nicht-Benennen-Können“), ausdrücklich aufgegeben. Aufgrund der bei dem Verstorbenen seit seiner Geburt vorliegenden zerebralen Schäden liege eine faktische Blindheit vor. Der Beklagte habe diese Änderung der Rechtsprechung nicht berücksichtigt. Der Verstorbene sei seit seiner Geburt faktisch blind. Dies gehe aus den ärztlichen Stellungnahmen von Frau I. vom 16. November 2016 und Herrn Prof. Dr. K. vom 13. Dezember 2016 hervor.

Das SG Hannover hat d...

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