Entscheidungsstichwort (Thema)

Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. verspätete Verzögerungsrüge. spätester Rügezeitpunkt. Ladung zum Termin. immaterieller Nachteil. Widerlegung der Vermutung. Würdigung der Gesamtumstände. keine Information über wesentliche Entwicklungen an das Gericht. keine Sachstandsanfragen. geringes Interesse. verzögerndes Prozessverhalten. Rechtsmissbrauch

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die in § 198 Abs 2 GVG normierte Vermutung des Eintritts eines Nachteils, der nicht Vermögensnachteil ist, wenn ein Verfahren unangemessen lange gedauert hat, ist als widerlegt anzusehen, wenn unter Berücksichtigung der Gesamtumstände, namentlich des Gegenstands des streitgegenständlichen Ausgangsverfahrens sowie des Vorgehens der Beteiligten in diesem Verfahren nicht zu erkennen ist, dass der spätere Entschädigungskläger in irgendeiner Form einer seelischen Unbill ausgesetzt gewesen sein könnte.

2. Eine Verzögerungsrüge ist idR als verspätet erhoben und damit bedeutungslos anzusehen, wenn sie erst zu einem Zeitpunkt bei Gericht eingeht, zu dem dieses bereits die Ladungen zu einem Termin zur mündlichen Verhandlung bzw entsprechende Terminsmitteilungen abgesandt hat.

3. Die Erhebung einer Verzögerungsrüge kann sich im Einzelfall als rechtsmissbräuchlich und damit bedeutungslos erweisen.

4. Individueller Rechtsmissbrauch wird angenommen, wenn der Berechtigte kein schutzwürdiges Eigeninteresse verfolgt oder überwiegende schutzwürdige Interessen der Gegenpartei entgegenstehen und die Rechtsausübung im Einzelfall zu einem grob unbilligen und mit der Gerechtigkeit nicht mehr zu vereinbarenden Ergebnis führen würde. Dabei orientiert sich der Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs am Schutzbereich der Norm. Ein Missbrauchseinwand kommt in erster Linie dann in Betracht, wenn der Gesetzgeber rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten übersehen hat, die sich erst bei der späteren Anwendung des Gesetzes zeigen, und er diese nach seiner sonstigen Zielsetzung mit Sicherheit unterbunden hätte (Anschluss an BSG vom 25.6.2009 - B 10 EG 3/08 R = BSGE 103, 284 = SozR 4-7837 § 2 Nr 1).

5. Der Gesetzgeber hat bei der Einführung der §§ 198 ff GVG zum Ausdruck gebracht, dass weder die Geduld eines Verfahrensbeteiligten "bestraft" noch einem "Dulde und Liquidiere" Vorschub geleistet werden soll. Letzteres ist aber der Fall, wenn Verzögerungsrügen beliebig spät erhoben werden können. Der Verdacht, der Erwerb eines Entschädigungsanspruchs stehe im Vordergrund, drängt sich in der Sozialgerichtsbarkeit insbesondere dann auf, wenn der Streitgegenstand (zB Klagen gegen Aufhebungs- und Erstattungsbescheide angesichts des damit verbundenen Suspensiveffekts) und/oder weitere rechtliche oder tatsächliche Entwicklungen im Laufe des Verfahrens dafür sprechen, dass der spätere Entschädigungskläger kein wirkliches Interesse an dem Verfahren hatte oder durch dessen Dauer sogar in gewisser Weise profitierte, und seine eigene Verfahrensführung keinerlei Bemühen, auf einen zügigen Verfahrensabschluss hinzuwirken, erkennen ließ.

6. Erkundigt sich ein anwaltlich vertretener Kläger in einem Verfahren, an dem er unter Zugrundelegung des objektiven Empfängerhorizonts kein wirkliches Interesse (mehr) hat, fast drei Jahre lang nicht ein einziges Mal nach dem Sachstand und unterlässt er es selbst, das Gericht über maßgebliche Entwicklungen in der Sache zu informieren, dann ist davon auszugehen, dass mit einer Verzögerungsrüge, die erst nach Absendung der Ladung durch das Gericht erhoben wird, kein schutzwürdiges Interesse verfolgt wird und keinerlei Anlass besteht, einen vermeintlichen Grundrechts-verstoß zu kompensieren. Erst recht hat dies dann zu gelten, wenn die Verzögerungsrüge erst nach Zustellung der Ladung erfolgt.

 

Orientierungssatz

1. Im Hinblick auf die Verspätung der Verzögerungsrüge nach der Ladung zum Termin lässt der Senat offen, ob anderes zu gelten hat, wenn der Rechtsstreit in der anberaumten Sitzung wider Erwarten nicht zum Abschluss gebracht wird.

2. Der Senat sieht sich insoweit nicht in Widerspruch mit der Entscheidung des BSG vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 3/16 R = SozR 4-1720 § 198 Nr 14, sondern geht davon aus, dass diese eine abweichende Fallkonstellation betrifft.

 

Normenkette

GVG § 198 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 5, Abs. 4 S. 3, § 201 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 3; BGB § 242; SGG § 160 Abs. 2, §§ 183, 197a Abs. 1 S. 1, § 202 S. 2; VwGO § 154 Abs. 1

 

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt eine Entschädigung wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht P unter dem Aktenzeichen S 45 AS 535/16 geführten Verfahrens. Dem Ausgangsverfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Mit seiner durch seinen jetzigen Bevollmächtigten für ihn am 23. März 2016 erhobenen Klage wandte der seinerzeit Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch beziehende Kläger sich gegen den Bescheid des beklagten Jobcenters vom 05. Januar 2016 ...

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