Entscheidungsstichwort (Thema)

Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. Vielkläger. Verzögerungsrüge. Auslegung. Äußerung nach Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG. Rüge der Verzögerung von allen seit bestimmter Zeit anhängigen Verfahren in 21-seitigem Schriftsatz zu anderem Verfahren. keine unmittelbare Nennung des Aktenzeichens erforderlich. Konkretisierung. objektivierter Maßstab. Bezugnahme auf Sammelschreiben im Einzelfall ausreichend. Beurteilung der Schwierigkeit. Vielzahl gleichzeitig anhängiger Klagen. Berücksichtigung der Zuordnungsprobleme bei der Verfahrensführung. Bewertung der Überlänge. Bearbeitung eines Befangenheitsantrags inmitten von Liegezeiten. aktive Zeit. keine Relevanz des hypothetischen Verfahrensverlaufs

 

Leitsatz (amtlich)

Stellt ein Kläger einen Befangenheitsantrag, kommt es für die - für die Entscheidung, ob eine unangemessene Verfahrensdauer vorliegt, erforderliche - Gegenüberstellung der aktiven und inaktiven Zeiten der Bearbeitung allein darauf an, ob das Gesuch bearbeitet wird. Ob der abgelehnte Richter das Verfahren ohne das Gesuch betrieben hätte, ist hingegen irrelevant. Denn der Prüfung ist stets der tatsächliche Verfahrensablauf zugrunde zu legen, während etwaige hypothetische Abläufe unbedeutend sind.

Ob für das zum Gegenstand der Entschädigungsklage gemachte Ausgangsverfahren eine wirksame Verzögerungsrüge vorliegt, bestimmt sich nicht aus der subjektiven Sicht des das Ausgangsverfahrens bearbeitenden Richters, sondern ist anhand objektivierter Maßstäbe zu ermitteln.

Zur Frage, welche Anforderungen an eine Verzögerungsrüge im Hinblick auf die Konkretisierung des als überlang gerügten Verfahrens zu stellen sind.

 

Orientierungssatz

1. Eine Auslegung im Einzelfall kann ergeben, dass es für die Erhebung der Verzögerungsrüge genügt, wenn der Kläger inmitten eines umfangreichen Schriftsatzes zu einem anderen Verfahren (hier 21-seitiges Fax) lediglich eine allgemeine Rüge der bisherigen Verzögerungen seiner bereits seit einer bestimmten Zeit anhängigen Fälle eingeflochten hat, ohne unmittelbar das Aktenzeichen des Ausgangsverfahrens zu benennen (hier: mit Bezugnahme auf ein vorhergehendes Sammelschreiben; Abgrenzung zu LSG Berlin-Potsdam vom 26.4.2018 - L 37 SF 38/17 EK AS).

2. Als Verzögerungsrüge können nur Äußerungen des Klägers ausgelegt werden, die nach Inkrafttreten des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (juris: ÜberlVfRSchG) erfolgt sind.

3. Bei der Bewertung der Schwierigkeit des Verfahrens kann auch berücksichtigt werden, wenn angesichts der Vielzahl an weiteren vom Kläger verfolgten Rechtsstreitigkeiten und der damit einhergehenden Probleme die Verfahrensführung für das SG erschwert war und eine gewisse Komplexität des Verfahrens zur Folge hatte.

 

Tenor

Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht Potsdam zunächst unter dem Aktenzeichen S 31 AS 1137/09 und zuletzt unter dem Aktenzeichen S 35 AS 1137/09 geführten Verfahrens eine Entschädigung in Höhe von 1.900,00 € zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens haben der Beklagte zu 85 % und zu 15 % der Kläger zu tragen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Verurteilung des Beklagten zur Zahlung einer Entschädigung in Höhe von 2.200,00 € wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht Potsdam (SG) zunächst unter dem Aktenzeichen S 31 AS 1137/09 und zuletzt unter dem Aktenzeichen S 35 AS 1137/09 geführten Verfahrens, das anschließend beim Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) anhängig war.

Dem Ausgangsverfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Der Kläger, der Volljurist ist und laufend Leistungen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) bezieht, beantragte mit Schreiben vom 23. Dezember 2008 bei der Potsdamer Arbeitsgemeinschaft zur Grundsicherung für Arbeitsuchende PAGA (jetzt: JobCenter Landeshauptstadt Potsdam) - dem Beklagten im Ausgangsverfahren - eine Förderung der beruflichen Weiterbildung für einen am 15. Januar 2009 beginnenden Fachanwaltslehrgang Verwaltungsrecht. Mit Bescheid vom 12. Januar 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Februar 2009 wurde der Antrag abgelehnt.

Am 02. Februar 2009 beantragte er u. a. die Erstattung von Porto- und Versandkosten i.H.v. 1,00 €, welche das JobCenter mit Bescheid vom 05. Februar 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Februar 2009 ablehnte.

Gegen den Bescheid vom 12. Januar 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Februar 2009 sowie gegen den Bescheid vom 05. Februar 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Februar 2009 erhob der Kläger am 18. März 2009 Klage vor dem SG, welche zunächst unter dem Az. S 31 AS 1137/09 registriert wurde, und begehrte die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Nichtbewilligung der Kostenübernahme für den Fachanwaltslehrgang Verwaltungsrecht sowie die Verpflichtung des damaligen Beklagten zur Erstattung der beantr...

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