Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen "RF". Beurteilung der Zumutbarkeit der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen. unentgeltliche Beförderung eines Fahrrades

 

Orientierungssatz

1. Es ist umstritten, ob die landesrechtlichen Regelungen über die Rundfunkgebührenbefreiung aus gesundheitlichen Gründen auf die Prüfung der Voraussetzungen der Vergabe des Merkzeichens “RF„ gemäß § 69 Abs 5 SGB 9 anzuwenden sind. Vereinzelt wird die Auffassung vertreten, die landesrechtlichen Regelungen über die Rundfundgebührenbefreiung aus gesundheitlichen Gründen würden nicht der bundesrechtlichen Ermächtigungsnorm (hier § 126 Abs 1 SGB 9) entsprechen, vgl. LSG Berlin-Potsdam, Urteil vom 30.04.2009 - L 11 SB 348/08.

2. Das Merkzeichen "RF" setzt voraus, dass behinderte Menschen öffentliche Veranstaltungen in zumutbarer Weise physisch nicht besuchen können, weil sie wegen ihres Leidens ständig, d.h. allgemein und umfassend, vom Besuch ausgeschlossen sind. Dabei ist unter “Teilnahme„ die körperliche Anwesenheit ohne Rücksicht darauf zu verstehen, ob der Teilnehmer geistig in der Lage ist, dem Dargebotenen zu folgen. Öffentliche Veranstaltungen sind Zusammenkünfte politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchliche, sportlicher, unterhaltender und wirtschaftlicher Art, die länger als 30 Minuten dauern.

3. Solange ein schwerbehinderter Mensch mit technischen Hilfsmitteln und mit Hilfe einer Begleitperson in zumutbarer Weise öffentliche Veranstaltungen aufsuchen kann, ist er von der Teilnahme am öffentlichen Geschehen nicht ausgeschlossen. Er kann bei fehlender Verfügbarkeit von Hilfsmitteln oder einer Begleitperson auch auf die Möglichkeit eines Hin- und Rücktransports durch die im allgemeinen gut organisierten Sozialdienste verwiesen werden.

4. Als Rechtsgrundlage für einen Anspruch auf Feststellung eines Anspruchs auf unentgeltliche Beförderung eines Fahrrades im öffentlichen Personennah- und Fernverkehr kommen § 69 Abs 4 SGB 9 i.V.m. § 145 Abs 1 S 1 SGB 9 und § 3 Abs 2 S 1 Nr 2 SchwAwV nicht in Betracht.

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 3. September 2008 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen “RF„ (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) sowie eines Anspruchs auf unentgeltliche Beförderung eines Fahrrades im öffentlichen Personennah- und Fernverkehr.

Der Kläger ist 1950 geboren. Nach eigenen Angaben erhält er seit 2001 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Nachdem der Kläger im August 2000 einen Fahrradunfall u. a. mit einer Kalottenfraktur rechts occipital und einer Felsenbeinfraktur rechts erlitten hatte, stellte der Beklagte mit Bescheid vom 1. März 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Oktober 2002 einen Grad der Behinderung (GdB) von 70 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen “G„ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) fest; die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen “RF„ lehnte der Beklagte ab. Nachdem der Beklagte einen Neufeststellungsantrag des Klägers vom Juli 2003 zunächst abgelehnt hatte, erkannte er in dem sich daran anschließenden Klageverfahren - S 46 SB 1475/04 - bei dem Kläger einen GdB von 80 und für den Zeitraum ab Februar 2004 einen GdB von 100 an.

Am 15. August 2006 machte der Kläger zunächst formlos die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen “RF„ geltend und wiederholte diesen Antrag mit seinem Schreiben vom 28. September 2006, mit dem er - ebenso wie mit seinem am 4. Oktober 2006 nachgereichten Formularantrag - ergänzend u. a. die “Anerkennung eines Fahrrades als orthopädisches Hilfsmittel im Sinne eines Rollstuhlersatzes„ begehrte. Zur Begründung machte er geltend, er habe hochgradige Schmerzen im linken Knie, zeitweise Schmerzen im rechten Knie, hochgradige Schmerzen im Lendenwirbelbereich und zum Kopf ausstrahlende Schmerzen im Halswirbelbereich. Da er nicht gehen könne, benötige er sein Fahrrad als Rollstuhlersatz. Einen Rollstuhl könne er nicht nutzen, weil seine Wohnung nicht rollstuhlgerecht sei.

Der Beklagte holte Befundberichte der behandelnden Ärzte ein und veranlasste die versorgungsärztliche Begutachtung des Klägers durch die Ärztin für Allgemeinmedizin A. Diese kam nach körperlicher Untersuchung des Klägers zu der Einschätzung, dass der GdB weiterhin 100 betrage und folgende Funktionsbeeinträchtigungen vorlägen:

- Belastungsminderung und Schwindelsymptomatik nach Schädel-Hirn-Trauma mit mehrfachen Schädelfrakturen, Schwerhörigkeit rechts mit Ohrgeräuschen rechts, depressives Syndrom (Einzel-50)

- Sehbehinderung (Einzel-GdB 40)

- Funktionseinschränkungen beider Knie (Einzel-GdB 30)

- degenerative Veränder...

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