Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Zurückverweisung an die Verwaltung. Erheblichkeit und Sachdienlichkeit von weiteren Ermittlungen. Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens. Vorliegen eines Ermittlungsausfalls. Zurückverweisung in der Rechtsmittelinstanz. Auslegung von § 159 Abs 1 Nr 1 SGG. Erforderlichkeit der Zurückverweisung. kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage. Reduzierung des Streitgegenstandes auf den Anfechtungsteil

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zur Beurteilung der "Erheblichkeit" der noch ausstehenden Ermittlungen im Sinne des § 131 Abs 5 S 1 SGG sind diese mit denjenigen Ermittlungen und sonstigen notwendigen Handlungen des Gerichts zu vergleichen, die das Gericht ohnehin voraussichtlich hätte durchführen müssen, wenn die beklagte Behörde die vom Gericht für erforderlich gehaltenen ergänzenden Ermittlungen durchgeführt hätte (Anschluss an BFH vom 22.4.1997 - IX R 74/95 = BFHE 182, 300, juris RdNr 25, 26).

2. Es trifft nicht zu, dass das Einholen eines medizinischen Sachverständigengutachtens für das Gericht regelmäßig nicht mit einem erheblichen Aufwand verbunden ist und es sich deshalb nicht um "erhebliche" Ermittlungen im Sinne des § 131 Abs 5 S 1 SGG handelt; vielmehr kommt es auf den konkreten Einzelfall an, da je nach Fallgestaltung mit der Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens der Einsatz erheblicher sächlicher und mit Blick auf dessen Auswertung und Bewertung auch erheblicher personeller Mittel verbunden sein kann (Anschluss an LSG Berlin-Potsdam vom 25.4.2013 - L 13 SB 73/12, juris RdNr 25-27).

3. Eine Zurückweisung an die beklagte Behörde ist „sachdienlich“ im Sinne des § 131 Abs 5 S 1 SGG, wenn diese die aus Sicht des Gerichts notwendigen Ermittlungen besser durchführen kann als das Gericht und wenn es unter übergeordneten Gesichtspunkten vernünftiger und sachgerechter ist, die Behörde tätig werden zu lassen (Anschluss an BSG vom 25.4.2013 - B 8 SO 21/11 R = SozR 4-3500 § 43 Nr 3, juris RdNr 15).

4. Bessere bei der Behörde liegende Ermittlungsmöglichkeiten sind regelmäßig nicht bei fachärztlichen Standardgutachten gängiger medizinischer Fachrichtungen anzunehmen, insbesondere wenn die beklagte Behörde ebenso wie das Gericht externe Sachverständige zur Erstellung der Gutachten beauftragen müsste, weil ihr zur Aufklärung des medizinischen Sachverhaltes keine bessere personelle oder sachliche Ausstattung als dem Gericht zur Verfügung steht.

5. Übergeordnete Gesichtspunkte, die eine Zurückverweisung zur weiteren Sachaufklärung rechtfertigen, sind dann gegeben, wenn die Behörde ihre Aufgabe, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln, nicht wahrgenommen, sondern im Sinne eines Ermittlungsausfalls unterlassen hat, also keine für die Beurteilung des Streitgegenstandes verwertbare Ermittlung vorliegt (Anschluss an LSG Chemnitz vom 15.12.2011 - L 3 AS 619/10, juris RdNr 22), beziehungsweise eine Unterschreitung der an eine Sachaufklärung zu stellenden Mindestanforderungen vorliegt (Anschluss an LSG Darmstadt vom 29.1.2019 - L 3 U 63/18, juris RdNr 21), was nicht der Fall ist, wenn die beklagte Behörde Befundberichte behandelnder Ärzte eingeholt hat und versorgungsärztlich hat auswerten lassen.

6. Über seinen Wortlaut hinaus ist § 159 Abs 1 Nr 1 SGG entsprechend anzuwenden, wenn das erstinstanzliche Gericht, weil es gestützt auf § 131 Abs 5 SGG den Bescheid des Beklagten aufgehoben und die Sache an die Behörde zurückverwiesen hat, keine Entscheidung über das eigentliche (hier auf eine Erhöhung des GdB gerichtete) Begehren getroffen hat (Anschluss an LSG Darmstadt vom 29.1.2019 - L 3 U 63/18, juris RdNr 17, 18 und an LSG Stuttgart vom 23.1.2020 - L 6 SB 3637/19, juris RdNr 25).

7. Eine Zurückverweisung des Rechtsstreits nach § 159 Abs 1 Nr 1 SGG ist erforderlich, wenn bei einer kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage eine rechtsfehlerhafte Zurückverweisung an die Behörde durch das erstinstanzliche Gericht in Anwendung des § 131 Abs 5 SGG zu einer Reduzierung des Streitgegenstandes auf den Anfechtungsteil des Klageantrags in der Rechtsmittelinstanz geführt hat, weil dem erkennenden Gericht aufgrund der fehlenden Anhängigkeit des eigentlichen (Verpflichtungs-)Begehrens in der Rechtsmittelinstanz eine endgültige Entscheidung darüber verwehrt ist (Anschluss an LSG Darmstadt vom 29.1.2019 - L 3 U 63/18, juris RdNr 18, 26).

 

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten und die Anschlussberufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 11.12.2019 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Karlsruhe zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Neufeststellung des Grades der Behinderung (GdB) streitig.

Der am … geborene Kläger beantragte am 13.10.2016 die Feststellung seines GdB ab 01.01.2015. Das Berufliche Rehabilitationszentrum K. führte in seinem vom Beklagten beigezogenen Ärztlichen Kurzbericht vom 13.01.2016 als Diagnosen eine vollremittierte, dro...

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