Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Zulässigkeit der Berufung. Berufungsfrist. Monatsfrist. Urteil gegen Empfangsbekenntnis. nicht zurückgesendetes Empfangsbekenntnis. Freibeweis. Fristwahrung

 

Leitsatz (amtlich)

Sendet ein Empfänger, dem ein Urteil gegen Empfangsbekenntnis zugestellt werden darf, das Empfangsbekenntnis nicht zurück, hat das Berufungsgericht sich im Wege des Freibeweises die volle Überzeugung zu verschaffen, dass die Berufungsfrist eingehalten worden ist (hier verneint).

 

Orientierungssatz

Das Ausfüllen des Empfangsbekenntnisses ist nicht Wirksamkeitsvoraussetzung der Zustellung, sondern dient nur dem vereinfachten Nachweis der Zustellung (vgl BSG Beschluss vom 7.10.2004 - B 3 KR 14/04 R = SozR 4-1750 § 175 Nr 1).

 

Normenkette

SGG § 63 Abs. 2, §§ 64, 67 Abs. 1-2, § 151 Abs. 1-2; ZPO §§ 174, 189

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 10. März 2016 wird verworfen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch im Berufungsverfahren.

 

Gründe

I.

Der Rechtsstreit betrifft die Gewährung von Leistungen der privaten Pflegeversicherung.

Die Beklagte ist ein privates Kranken- und Pflegeversicherungsunternehmen in Form eine Aktiengesellschaft. Der Kläger ist bei ihr pflegepflichtversichert. Er bezieht von ihr seit März 2013 Leistungen nach der Pflegestufe I, seit Februar 2015 nach der Pflegestufe II.

Während des Bezuges von Leistungen nach der Pflegestufe I beantragte der Kläger am 5. März 2014 und am 18. Februar 2015 eine Höherstufung. Dies lehnte die Beklagte auf Grundlage von Begutachtungen durch die M. GmbH mit Schreiben vom 10. April 2014 ab. Am 12. März 2015 erhob der Kläger Klage beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) und begehrte Leistungen der Pflegestufe II ab März 2014.

Die Beklagte trat der Klage entgegen. Sie wies unter anderem darauf hin, dass Zustellungen an sie nicht gegen Empfangsbekenntnis erfolgen könnten.

Mit Urteil vom 10. März 2016 verurteilte das SG die Beklagte, dem Kläger für März 2014 bis Januar 2015 Pflegeleistungen nach der Pflegestufe II zu gewähren. Das Urteil wurde zum Zwecke der Zustellung mit Empfangsbekenntnis an den Kläger und die Beklagte am 15. März 2016 zur Post gegeben. Das Empfangsbekenntnis des Klägers, das Urteil am 16. März 2016 erhalten zu haben, gelangte am 21. März 2016 an das SG zurück.

Die Beklagte hat am 29. April 2016 Berufung gegen das Urteil des SG beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Das Rubrum des Urteil des SG enthalte bereits einen gravierenden Fehler. Der Kläger werde dort als gesetzlich vertreten durch eine Betreuerin bezeichnet. Nach ihrer Kenntnis liege weder eine Betreuung noch eine gesetzliche Vertretung des Klägerin vor. Die als Betreuerin aufgeführte Person könne allenfalls Bevollmächtigte des Klägers sein. Sie könne im Übrigen unter keine Umständen zur Gewährung von Leistungen nach der Pflegestufe II verurteilt werden, da sie bereits alle vertraglichen Leistungen nach der Pflegestufe I erbracht habe. Sie könne daher allenfalls dazu verurteilt werden, die Leistungen nach Pflegestufe II zu erbringen, soweit ihre Leistungspflicht durch die Erbringung der Leistungen nach der Pflegestufe I nicht bereits erfüllt sei. Im Übrigen habe das SG ohne ausreichende fachliche Kenntnisse, ohne nachvollziehbare Abwägung der Gründe für die Behauptung der “Unschlüssigkeit„ der von ihr eingeholten Gutachten und ohne Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Berücksichtigung der Behandlungspflege in der Pflegepflichtversicherung entschieden.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 15. März 2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das Urteil des SG für zutreffend.

Am 3. Mai 2016 hat die Urkundsbeamtin des SG telefonisch die Beklagte um Rücksendung des Empfangsbekenntnisses über die Urteilszustellung gebeten. Der Mitarbeiter der Beklagten hat ausweislich des Telefonvermerkes der Urkundsbeamtin um “ordnungsgemäße Zustellung„ gebeten, so wie es im Gesetz verankert sei. Auf Nachfrage, wann das Urteil bei der Beklagten eingegangen sei, hat der Mitarbeiter der Beklagten mitgeteilt, er gebe am Telefon keine Auskunft. Sie habe beim LSG Baden-Württemberg bereits Berufung eingelegt.

Am 3. Mai 2016 hat das SG das Urteil zum Zwecke der Zustellung mit Postzustellungsurkunde an die Beklagte erneut zur Post gegeben. Laut zur Akte des SG gelangter Postzustellungsurkunde ist das Urteil der Beklagten am 4. Mai 2016 zugestellt worden.

Mit Schreiben vom 9. Mai 2016 - adressiert an eine unzutreffende Postanschrift - hat der Senat die Beklagte um Äußerung zur Einhaltung der Berufungsfrist gebeten. Mit Schreiben vom 30. Juni 2016 - erneut an die unzutreffende Postanschrift - hat der Senat an die Erledigung der gerichtlichen Verfügung vom 1. Juni 2016 (Stellungnahme zur Berufungserwiderung des Klägers) erinnert.

Mit Schreiben vom 4. August 2016 - wiederum an die unzutreffende Postansc...

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