Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung. Übernahme der Kosten für eine Schulbegleitung. keine Verpflichtung zum Besuch einer Sonderschule. schulrechtliches Wahlrecht der Eltern. kein Leistungsausschluss wegen Zuständigkeit der Schulverwaltung. kein Betroffensein des Kernbereichs pädagogischer Arbeit. Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers bei fehlender Hilfeleistung durch den Schulträger. evtl Rückgriff

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein Anspruch auf eine Integrationsbegleitung kann sich nach § 54 Abs 1 SGB 12 für ein geistig behindertes Kind auch dann im Rahmen einer inkludierenden Beschulung in einer Regelschule ergeben, wenn dabei pädagogische Aufgaben übernommen werden, die der Schulträger nicht erbringt. Entscheidend ist, dass die Hilfeleistung nicht ausschließlich oder weit überwiegend den Kernbereich der pädagogischen Arbeit des Lehrers/der Lehrerin umfasst.

2. Aufgrund des sozialhilferechtlichen Faktizitätsprinzips reicht es aus, dass feststeht, dass der Schulträger den notwendigen Bedarf nicht aus eigenen Mitteln erbringt. Ob er dazu verpflichtet ist, ist unerheblich. Ggf muss der Sozialhilfeträger mittels Überleitungsanzeige beim Schulträger Rückgriff nehmen (vgl BSG vom 22.3.2012 - B 8 SO 30/10 R = SozR 4-3500 § 54 Nr 8).

3. Der Sozialhilfeträger hat die auf dem schulrechtlichen Wahlrecht beruhende Entscheidung der Eltern für eine inkludierende Beschulung zu respektieren (vgl BVerwG vom 26.10.2007 - 5 C 35/06 = BVerwGE 130,1). Die Aufnahme in eine Sonderschule kann weder unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit noch des Nachranggrundsatzes oder des Mehrkostenvorbehalts verlangt werden, soweit das Kind aus schulrechtlicher Sicht in der Regelschule angemessen beschult wird.

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen vom 19. September 2012 abgeändert.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet, die Kosten einer qualifizierten Schulbegleitung im Umfang von 17 Stunden und 15 Minuten pro Woche bis zu einem Betrag von höchstens 43,- Euro pro Stunde zu übernehmen. Die Kostenverpflichtung beginnt mit der erstmaligen Aufnahme der Tätigkeit der Schulbegleitung und gilt bis zum Eintritt der Bestandskraft der Entscheidung des Antragsgegners über den am 24. Mai 2012 gestellten Antrag auf eine Schulbegleitung, längstens bis zum Ende des Schuljahres 2012/2013.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat der Antragstellerin deren außergerichtliche Kosten in beiden Rechtszügen zu 4/5 erstatten.

 

Gründe

Die gemäß § 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegten Beschwerde der Antragstellerin, der Beschwerdeausschlussgründe im Sinne des § 172 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 144 Abs. 1 Satz1 Nr. 1 SGG nicht entgegenstehen, ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Das Sozialgericht Reutlingen (SG) hat im angefochtenen Beschluss vom 19. September 2012 zu Unrecht den Antrag der Antragstellerin auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes in vollem Umfang abgelehnt.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit - wie hier - nicht ein Fall des Abs. 1 vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2). Vorliegend kommt nur eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die - summarische - Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung). Verfassungsrechtliche Vorgaben zwingen gegebenenfalls jedoch diesen grundsätzlichen Entscheidungsmaßstab zu revidieren. Der einstweilige Rechtsschutz ist Ausfluss der in Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) enthaltenen Garantie effektiven Rechtsschutzes. Aus dieser folgt das Gebot, soweit als möglich zu verhindern, dass durch hoheitliche Maßnahmen oder Entscheidungen der Verwaltungsbehörde Tatsachen geschaffen werden, die auch dann, wenn diese sich nach richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweisen, nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Diese Gefahr besteht auch in der Leistungsverwaltung, wenn die Verwaltung ein Leistungsbegehren zurückweist. Auch neben Art. 19 Abs. 4 GG enthält das Verfassungsrecht Vorgaben für Maßstab und Prüfungsumfan...

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