2.4.1 Abgrenzung zu den Listen-Berufskrankheiten

 

Rz. 59

Abs. 2 enthält eine Öffnungsklausel, wonach unter bestimmten Voraussetzungen eine Krankheit, die nicht in der Berufskrankheitenliste der Anlage 1 zur BKV aufgeführt ist, "wie eine Berufskrankheit" anzuerkennen ist und Leistungen zu gewähren sind. Es handelt sich dabei um einen gesetzgeberischen Kompromiss. Um der Praktikabilität willen sieht Abs. 1 ein Listensystem vor, wonach nur diejenigen Krankheiten als Berufskrankheiten anerkennungsfähig sind, die in der Anlage 1 zur BKV aufgeführt sind. Ein solches geschlossenes System würde jedoch dem ständigen Wandel der Gegebenheiten der Arbeitswelt und den fortschreitenden Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft über Krankheitsursachen und über schädigende Einwirkungen am Arbeitsplatz nicht hinreichend gerecht. Die BKV und die darin enthaltene Berufskrankheitenliste können nicht kontinuierlich und nahtlos angepasst werden. An dieser Stelle sollen die Regelungen des Abs. 2 im Sinne einer eingeschränkten Generalklausel als Korrektiv dienen. Abs. 2 darf weder als Härtefallregelung noch als Beweiserleichterung verstanden werden (BSG, Urteil v. 30.1.1986, 2 RU 80/84).

2.4.2 Rechtslage im Zeitablauf bis zur Aufnahme in die Berufskrankheitenliste

 

Rz. 60

Abs. 2 ist als originäre Anspruchsgrundlage zu prüfen, solange die Krankheit nicht in die Berufskrankheitenliste in der Anlage 1 zur BKV aufgenommen wurde 1. Alternative) oder solange bei einer bereits aufgeführten Krankheit die dort genannten Einwirkungen oder Ursachen nicht vorliegen (2. Alternative). Sobald die Berufskrankheit in die Liste aufgenommen wurde, sind nach Maßgabe von Abs. 1 die im Berufskrankheitentatbestand vorgesehenen Voraussetzungen zu prüfen.

 

Rz. 61

Problematisch ist, ob Öffnungsklausel auch angewendet werden darf, nachdem die Prüfung der Voraussetzungen für die Aufnahme in die Berufskrankheitenliste aufgenommen worden ist. Diese Prüfung nimmt der ärztliche Sachverständigenbeirat beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales vor. Das Verfahren nimmt einen erheblichen Zeitraum in Anspruch. Es zieht sich i. d. R. über Jahre hinweg hin, da arbeitsmedizinische und epidemiologische Studien durchgeführt und deren Ergebnisse abgewartet werden müssen. Die Beratungen können auch über einen längeren Zeitraum hinweg ruhen oder ganz abgebrochen werden. Der Inhalt der Beratungen ist vertraulich.

2.4.2.1 Sperrwirkung

 

Rz. 62

Das BSG (Urteil v. 4.6.2002, B 2 U 20/01 R) hat Abs. 2 dahingehend ausgelegt, dass medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse einer Beurteilung der für die Anerkennung und Entschädigung einer Quasi-Berufskrankheit zuständigen Stelle (dem Versicherungsträger) entzogen sind; d. h., es tritt eine sog. Sperrwirkung ein, wenn dem Verordnungsgeber solche Erkenntnisse vorliegen und aktive Beratungen zu der Frage stattfinden, ob aufgrund dieser Erkenntnisse eine Empfehlung zur Aufnahme in die Berufskrankheitenliste ergehen soll. Diese Sperrwirkung soll für die Dauer des Entscheidungsprozesses andauern. Diese Abs. 2 einschränkende Auslegung sei einerseits aus gesetzessystematischen und andererseits auch aus praktischen Gründen gerechtfertigt. Die Sperrwirkung könne allerdings nur so lange gelten, wie die Beratungen aktiv betrieben werden und ein Abschluss der Beratungen innerhalb einer sozial verträglichen Zeitspanne zu erwarten ist. Welche Zeitspannen für die jeweiligen Beratungen des Sachverständigenausschusses als noch sozial verträglich anzusehen seien und welche Aktivitäten im Sachverständigenbeirat bzw. bei dem Verordnungsgeber stattfinden müssten, um noch von aktiv betriebenen Beratungen sprechen zu können, sei vom jeweiligen Einzelfall abhängig. Werden aber aufgenommene Beratungen vom Sachverständigenbeirat nicht fortgeführt, ruhen also und sind ohne erkennbares Ergebnis abgebrochen worden, so werde deutlich, dass der Verordnungsgeber von dem ihm zustehenden Vorrang keinen Gebrauch machen wolle. In einem solchen Fall lebe die Pflicht des Versicherungsträgers, über geltend gemachte Ansprüche auf Anerkennung von Quasi-Berufskrankheiten und damit letztlich auch über die Frage des Vorliegens neuer Erkenntnisse zu entscheiden, wieder auf.

Diese Rechtsprechung hat inzwischen wegen der oben dargestellten Unklarheiten und Unwägbarkeiten wiederholt Kritik und Ablehnung erfahren (Becker, SGb 2006 S. 7; Saarl. LSG, Urteil v. 18.2.2009, L 2 U 61/05; Brandenburg, juris-PK SGB VII, § 9 Rz. 132 f.).

2.4.2.2 Stichtagsregelungen nach § 6 BKV

 

Rz. 63

Führten die Beratungen zur Aufnahme der Krankheit in die Berufskrankheitenliste, so nahm der Verordnungsgeber regelmäßig eine Rückwirkungsklausel auf, wonach die Berufskrankheit nur dann anzuerkennen ist, wenn der Versicherungsfall nach einem bestimmten Stichzeitpunkt eingetreten ist (vgl. dazu die Regelungen in § 6 BKV). In den Stichtagsregelungen des § 6 BKV wird der Begriff des Versicherungsfalls nicht in seiner gemäß § 7 Abs. 1 SGB VII gesetzlichen Bedeutung, sondern untechnisch und gleichbedeutend mit "Erkrankung" verwendet, so dass in diesen Regelungen unter dem "Versicherungsfall" der "Erkrankungsfall" zu verstehen ist. Der Versicherungsfall einer Listen-Berufskrankheit kann nicht vor dem Zeit...

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