Rz. 76

Die Anordnung der sofortigen Vollziehung kann im (besonderen) öffentlichen oder überwiegenden Interesse eines Beteiligten erfolgen. Die Vorschrift entspricht insoweit § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO. Dementsprechend verweist die amtliche Begründung auf die Rechtsprechung des BVerwG zur Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs des öffentlichen Interesses (BR-Drs. 132/01 S. 54). Unter Hinweis auf den Beschluss des BVerwG v. 29.4.1974 (NJW 1974 S. 1294, 1295) wird die Anordnung der sofortigen Vollziehung als gerechtfertigt angesehen, wenn eine umfassende Abwägung aller betroffenen öffentlichen und privaten Belange zu dem Ergebnis führt, dass das Vollzugsinteresse überwiegt. Ein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung wird regelmäßig dann angenommen, wenn sich ohne Weiteres und in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise erkennen lässt, dass der angefochtene Verwaltungsakt rechtmäßig ist oder wenn bestimmte Gründe für eine besondere Dringlichkeit sprechen. Grundsätzlich gilt, dass das den Sofortvollzug tragende öffentliche oder individuelle Interesse ("besonderes Interesse") mehr als das den Erlass des Verwaltungsaktes rechtfertigende Interesse sein muss, denn die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass des Verwaltungsaktes reichen für die Begründung des Sofortvollzugs nicht aus (LSG NRW, Beschluss v. 29.10.2010, L 11 KA 64/10 B ER; Beschluss v. 24.11.2004, L 10 B 14/04 KA; vgl. auch BVerfG, Beschluss v. 16.7.1974, 1 BvR 75/74, BVerfGE 38 S. 58; vgl. Rz. 71). So setzt die Anordnung der sofortigen Vollziehung zur Durchsetzung von Auskunftspflichten Dritter gemäß § 60 SGB II ein besonderes, über den generellen Zweck des Auskunftsanspruchs hinausgehendes öffentliches Interesse voraus (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 18.3.2010, L 5 AS 487/09 B ER).

2.2.5.3.1 Interessenbestimmung

 

Rz. 77

Fiskalische Interessen vermögen i. d. R. die sofortige Vollziehung eines Bescheids nicht zu rechtfertigen (vgl. LSG Hessen, Beschluss v. 12.2.2004, L 10 AL 1212/03 ER, Breithaupt 2005 S. 704; Beschluss v. 9.9.2011, L 9 SO 199/11 B ER). Eine beabsichtigte Verringerung des Verwaltungsaufwands ist in der Regel nicht geeignet, eine Vollzugsanordnung zu rechtfertigen; grundsätzlich erscheint es aber denkbar, dass auch im Rahmen der Sozialleistungsverwaltung fiskalische Interessen geeignet sein können, ein solches besonderes Interesse zu begründen (so LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 18.3.2010, L 5 AS 487/09 B ER). Ein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehung kann bei Geldforderungen bestehen, wenn deren Vollstreckung gefährdet erscheint (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 25.8.2003, L 13 AL 2374/03). Allein das öffentliche Interesse am Vollzug eines Gesetzes rechtfertigt den Sofortvollzug nicht (vgl. LSG NRW, Beschluss v. 4.5.2011, L 11 KA 120/10 B ER; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss v. 3.11.2005, L 5 ER 91/05 KA; Krodel, Eilverfahren, B Rn. 146).

 

Rz. 78

Das Interesse eines Beteiligten kann insbesondere bei Regelungen im grundrechtsrelevanten Bereich überwiegen. Erhebliche, unter Umständen irreparable Folgen bei einem Beteiligten sind ebenso zu berücksichtigen wie mögliche andere Maßnahmen der Behörde zur Sicherung des öffentlichen Interesses. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Zulassungsentziehung oder anderer statusbeendend wirkender (auch die Beendigung des Zulassungsstatus deklaratorisch feststellender) Verwaltungsakte stellt als verfahrensrechtliche Annexentscheidung zur Sachentscheidung schon für sich allein einen eigenständigen Eingriff in die Berufsfreiheit des Vertragsarztes (Art. 12 Abs. 1 GG) dar (LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 11.1.2011, L 5 KA 3990/10 ER-B, GuP 2011 S. 40).

 

Rz. 79

Soweit die Auffassung vertreten wird, dass die Behörde auch die Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs mit in ihre Abwägung einfließen lassen muss (Kordel, Eilverfahren, B Rn. 148; Keller, SGG, § 86a Rn. 22a), trifft das im Grundsatz zu. Indessen ist zu differenzieren. Die den zu vollziehenden Verwaltungsakt erlassende Ausgangsbehörde wird in der Regel von dessen Rechtmäßigkeit ausgehen und dies in der Abwägung berücksichtigen. Hat sie hingegen Rechtmäßigkeitsbedenken wird sie auch dies in ihre Erwägungen einbeziehen müssen. Insoweit ist es denkbar, dass sie von einer Vollzugsanordnung absieht, weil sich seit Erlass des Verwaltungsakts oder aber von vornherein Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit ergeben (Krodel, a. a. O.). Indessen kann hieraus nicht hergeleitet werden, dass für Gericht und Verwaltung im Rahmen der Abwägung die selben Maßgaben gelten (so aber Krodel, a. a. O.; Keller, a. a. O.). Bezugspunkt der Interessenabwägung ist vornehmlich der dem Bescheid zugrundeliegende Sachverhalt. In diesem Zusammenhang kommt es nicht darauf an, ob und inwieweit Widerspruch und/oder Anfechtungsklage voraussichtlich Erfolg haben werden. Eine derartige prospektive Erfolgsabschätzung ist der sofortigen Vollziehung auf Verwaltungsebene schon deswegen wesensfremd, weil die Verwaltung notwendigerweise davon überzeugt sein mus...

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