Rz. 16

Gemäß § 141 Abs. 1 binden rechtskräftige Urteile, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Damit ist die Rechtskraftwirkung bewusst eng auf die Entscheidung über den Streitgegenstand begrenzt (vgl. zu § 121 VwGO BVerwG, Urteil v. 18.9.2001, 1 C 4.01, DVBl. 2002 S. 340). Nur in diesem Umfang soll sie die Beteiligten des Vorprozesses auch im Folgeverfahren binden und so im Interesse des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit wie auch zur Wahrung der Autorität der getroffenen Gerichtsentscheidung unterschiedliche Ergebnisse zu der aus einem festgestellten Tatbestand hergeleiteten Rechtsfolge vermeiden (BVerwG, Urteil v. 18.9.2001, 1 C 4.01, DVBl. 2002 S. 340). Verbunden mit der Begrenzung auf den entschiedenen Streitgegenstand ist auch eine zeitliche Dimension der materiellen Rechtskraft eines Urteils. Ändert sich der Streitgegenstand, endet die Rechtskraft (zur Frage der Identität des Streitgegenstands und zur zeitlichen Dimension vgl. unten Rn. 22).

 

Rz. 17

Um die materielle Rechtskraft eines Urteils bestimmen zu können, ist daher zunächst entscheidend, welcher Teil eines Urteils in materieller Rechtskraft erwächst und was im konkreten Falle der Streitgegenstand des Urteils ist.

 

Rz. 18

Bedeutung der Urteilsformel

Nach allg. Meinung und ständiger Rechtsprechung erlangt bei Urteilen lediglich die Urteilsformel (der Tenor) Bindungswirkung, nicht jedoch die die Urteilsformel tragenden Gründe. Die Rechtskraft des Urteils erfasst den sich aus den festgestellten Tatsachen und den angewandten Rechtsnormen ergebenden Subsumtionsschluss als Ganzes, nicht die einzelnen Glieder dieses Schlusses (vgl. BSGE 14 S. 99, 101; BSGE 39 S. 14; BSG, Urteil v. 15.12.1999, B 11 AL 53/99 R; BGHZ 94 S. 29; BVerwG, Urteil v. 18.9.2001, 1 C 4.01, DVBl 2002 S. 340). Die Rechtskraftwirkung erlangen also nicht die tatsächlichen Feststellungen, die Feststellungen einzelner Tatbestandsmerkmale, die der Entscheidung zugrunde liegenden vorgreiflichen Rechtsverhältnisse, sonstige Vorfragen sowie Schlussfolgerungen, auch wenn diese für die Entscheidung tragend gewesen sind (vgl. BVerwG, a. a. O., m. w. N.; BSG, Urteil v. 21.3.2006, B 2 U 2/05 R, SGb 2006 S. 152; BVerwG, Urteil v. 31.8.2011, 8 C 15/19). Materiell-rechtliche Vorfragen können daher in einem späteren Verfahren anders entschieden werden (vgl. BSG, Beschluss v. 3.3.2000, B 2 U 4/00 B). Weist das Gericht die Klage mangels Rechtsschutzbedürfnis des Klägers gegen die Beklagte ab (Prozessurteil) und führt es in den Entscheidungsgründen aus, der Anspruch des Klägers gegen die Beklagte scheitere daran, dass die Erstattungsforderung gegenüber der Beigeladenen vorrangig geltend zu machen sei, handelt es sich um rechtliche Erwägungen im Rahmen der Begründung der Entscheidung, die jedoch nicht in Rechtskraft erwachsen. Eine die Beigeladene rechtlich belastende Beurteilung ist damit nicht verbunden (vgl. BSG, Beschluss v. 29.3.2007, B 9a V 7/06 B, SozR 4-2600 § 118 Nr. 3 m. w. N.).Soll eine bindende Entscheidung über ein präjudizielles Rechtsverhältnis erwirkt werden, muss Zwischenfeststellungsklage erhoben werden. Ein obiter dictum kann ebenso wenig Rechtskraftwirkung haben (BVerwG, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 43) wie hilfsweise Begründungen eines die Klage als unzulässig abweisenden Prozessurteils (vgl. BVerwGE 5 S. 27; BGHZ 11 S. 222; Clausing, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, § 321 Rn. 52). Daran, dass ein Begründungselement der Entscheidung nicht in Rechtskraft erwächst (vgl. z. B. BVerwG, Beschluss v. 10.7.2003, 1 B 338/02, Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 87), ändert sich nichts durch die Aufnahme des Begründungselements in den Tenor (vgl. BSG, Beschluss v. 30.9.2002, B 11 AL 33/02 B). War Gegenstand der Klage, ob der Kläger Arbeitslosengeld zu beanspruchen hatte und lautet der Tenor des LSG "Die Berufung wird zurückgewiesen, das Klageverfahren ist durch gerichtlichen Vergleich vom ... beendet", so hat das Gericht lediglich über den Streitgegenstand "Arbeitslosengeld" entschieden und es kann nur insoweit nach § 141 das Urteil in Rechtskraft erwachsen, denn die Wirksamkeit des Vergleichs hat lediglich die Bedeutung eines unselbständigen Begründungselements.

 

Rz. 19

Auch wenn allein der Entscheidungssatz in materieller Rechtskraft erwachsen kann, müssen in bestimmten Fällen ergänzend der Tatbestand, insbesondere der Klageantrag, und die Entscheidungsgründe zur Auslegung des Entscheidungssatzes herangezogen werden (vgl. z. B.BSG, SozR 3-100 § 141 Nr. 6). Während bei stattgebenden Urteilen auf Leistungs- oder Verpflichtungsklagen regelmäßig die Urteilsformel aus sich heraus hinreichend verständlich sein wird, kann bei klageabweisenden Urteilen, aber auch bei einer Anfechtungsklage stattgebenden Urteilen, erst anhand des Antrags der Streitgegenstand erkannt und anhand der Urteilsbegründung festgestellt werden, weshalb der Verwaltungsakt aufgehoben bzw. der Anspruch verneint worden ist. Scheidet die grundsätzlich zulässige Auslegung der Urteilsformel (vgl. BSGE 4 S. 121, 123...

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