1 Allgemeines

 

Rz. 1

Die Vorschrift, die mit § 108 VwGO übereinstimmt, betrifft die Grundlagen der richterlichen Entscheidung, beinhaltet den Grundsatz der freien Beweiswürdigung, konkretisiert den grundrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör und bestimmt die Anforderungen an die Urteilsbegründung. Sie ist damit eine der zentralen Vorschriften des SGG.

2 Rechtspraxis

2.1 Gesamtergebnis des Verfahrens

 

Rz. 2

Das Gericht muss sich auf dem Wege zur Entscheidung zunächst Klarheit darüber verschaffen, was das Begehren des Klägers ist und was er zu dessen Begründung vorbringt. Hiervon, von dem Verteidigungsvorbringen der Beklagten und den tatbestandlichen Voraussetzungen der als streitentscheidend erkannten Normen hängt ab, welche Tatsachen für die Entscheidung in prozessualer und materieller Hinsicht wesentlich, also entscheidungserheblich sind. Als wesentlich lässt sich eine Tatsache bezeichnen, wenn sich aus ihr ein Tatbestandsmerkmal der anzuwendenden Norm ergibt oder mittelbar auf Vorliegen oder Nichtvorliegen einer unmittelbar erheblichen Tatsache geschlossen werden kann (vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, § 103 Rn. 4a; vgl. auch BSGE 77 S. 140). Diese entscheidungserheblichen Tatsachen erforscht das Gericht im sozialgerichtlichen Verfahren von Amts wegen (§§ 103, 106) und umfassend. Es entscheidet schließlich nach seiner freien Überzeugung, die es gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewinnt, wie es sich aufgrund der mündlichen Verhandlung bzw. – wenn ohne mündliche Verhandlung entschieden wird (§ 124 Abs. 2, § 126) – nach dem gesamten Akteninhalt darstellt. Bei der Entscheidung zu berücksichtigen ist deshalb nicht nur das Ergebnis einer förmlichen Beweisaufnahme (z. B. durch Zeugenvernehmung oder Sachverständigengutachten), sondern auch der schriftliche und mündliche Vortrag der Beteiligten zu Tatsachen wie Rechtsfragen, der Inhalt eingeholter Auskünfte und beigezogener Akten und Urkunden, der Sachbericht des Vorsitzenden oder Berichterstatters (§ 112 Abs. 1), der Eindruck, den Beteiligte und Zeugen in der Verhandlung hinterlassen haben, sonstige Wahrnehmungen des Gerichts in der mündlichen Verhandlung usw. Auf offenkundige Tatsachen, die allen Beteiligten gegenwärtig sind und von denen alle Beteiligten wissen, dass sie für die Entscheidung erheblich sind, kann das Gericht seine Entscheidung auch ohne vorherigen Hinweis stützen (Schmidt, in: Eyermann, § 108 Rn. 18). Gerichtskundige Tatsachen können dagegen nur verwertet werden, wenn die Beteiligten auf die Gerichtsbekanntheit der Tatsache hingewiesen worden sind und ihnen Gelegenheit gegeben wurde, sich dazu zu äußern (vgl. BSG, KOV 1974 S. 111; BSG, SozR 1500 § 128 Nr. 4, 6). Gesamtergebnis des Verfahren ist mithin alles, aber auch nur das, was Gegenstand der mündlichen Verhandlung (§ 124 Abs. 1) bzw., wenn auf diese nach § 124 Abs. 2 oder § 126 verzichtet worden ist, des entsprechenden schriftlichen Verfahrens gewesen ist (vgl. Kopp/Schenke, § 108 Rn. 2).

2.2 Grundsatz der freien Beweiswürdigung

2.2.1 Bedeutung

 

Rz. 3

Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung besagt nicht, dass das Gericht willkürlich entscheiden könnte, sondern nur, dass es an gesetzliche Beweisregeln nur in den durch das Gesetz bezeichneten Fällen gebunden ist (vgl. § 286 Abs. 2 ZPO). Soweit also nicht ausnahmsweise gesetzliche Beweisregeln eingreifen, z. B. nach § 118 SGG i. V. m. §§ 415 ff. ZPO über die Beweiskraft bestimmter Urkunden oder nach § 122 SGG i. V. m. § 165 ZPO über die Beweiskraft des Protokolls, ist das Gericht in der Würdigung der jeweiligen Beweismittel frei (siehe auch unten Rn. 11 ff.). Gesetzliche Vermutungen schränken nur die Beweisbedürftigkeit ein, nicht aber die freie Beweiswürdigung (Greger, in: Zöller, § 286 Rn. 3). Auch die Beweislast schränkt die freie Beweiswürdigung nicht ein, denn sie setzt erst ein, wenn trotz Beweiswürdigung Zweifel bleiben (Greger, in: Zöller, § 286 Rn. 7). Aus dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung i. V. m. dem der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 117) wird abgeleitet, dass sich das Berufungsgericht nicht ohne Weiteres über die auf Grund eines persönlichen Eindrucks des erstinstanzlichen Gerichts gewonnene Beurteilung der subjektiven Fahrlässigkeit des Klägers hinwegsetzen darf. Der Anwendung dieser Grundsätze stehe u. a. nicht entgegen, dass es im sozialgerichtlichen Verfahren das förmliche Beweismittel der Parteivernehmung nicht gebe. Die von der Rechtsprechung für Zeugen entwickelten Grundsätze gälten auch hier (vgl. BSG, Beschluss v. 28.11.2007, B 11a/7a AL 17/07 R).

2.2.2 Beweisanforderungen

2.2.2.1 Vollbeweis

 

Rz. 4

Beweispflichtige Tatsachen bedürfen grundsätzlich des Vollbeweises. Eine absolute Gewissheit ist regelmäßig nicht möglich und auch nicht erforderlich (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, § 128 Rn. 3b). In der Regel verlangt das Gesetz für den Beweis die an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit (vgl. BSGE 45 S. 285; BSG, USK 8985). Eine Tatsache ist danach bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falls nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allg...

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