2.2.1 Bedeutung

 

Rz. 3

Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung besagt nicht, dass das Gericht willkürlich entscheiden könnte, sondern nur, dass es an gesetzliche Beweisregeln nur in den durch das Gesetz bezeichneten Fällen gebunden ist (vgl. § 286 Abs. 2 ZPO). Soweit also nicht ausnahmsweise gesetzliche Beweisregeln eingreifen, z. B. nach § 118 SGG i. V. m. §§ 415 ff. ZPO über die Beweiskraft bestimmter Urkunden oder nach § 122 SGG i. V. m. § 165 ZPO über die Beweiskraft des Protokolls, ist das Gericht in der Würdigung der jeweiligen Beweismittel frei (siehe auch unten Rn. 11 ff.). Gesetzliche Vermutungen schränken nur die Beweisbedürftigkeit ein, nicht aber die freie Beweiswürdigung (Greger, in: Zöller, § 286 Rn. 3). Auch die Beweislast schränkt die freie Beweiswürdigung nicht ein, denn sie setzt erst ein, wenn trotz Beweiswürdigung Zweifel bleiben (Greger, in: Zöller, § 286 Rn. 7). Aus dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung i. V. m. dem der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 117) wird abgeleitet, dass sich das Berufungsgericht nicht ohne Weiteres über die auf Grund eines persönlichen Eindrucks des erstinstanzlichen Gerichts gewonnene Beurteilung der subjektiven Fahrlässigkeit des Klägers hinwegsetzen darf. Der Anwendung dieser Grundsätze stehe u. a. nicht entgegen, dass es im sozialgerichtlichen Verfahren das förmliche Beweismittel der Parteivernehmung nicht gebe. Die von der Rechtsprechung für Zeugen entwickelten Grundsätze gälten auch hier (vgl. BSG, Beschluss v. 28.11.2007, B 11a/7a AL 17/07 R).

2.2.2 Beweisanforderungen

2.2.2.1 Vollbeweis

 

Rz. 4

Beweispflichtige Tatsachen bedürfen grundsätzlich des Vollbeweises. Eine absolute Gewissheit ist regelmäßig nicht möglich und auch nicht erforderlich (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, § 128 Rn. 3b). In der Regel verlangt das Gesetz für den Beweis die an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit (vgl. BSGE 45 S. 285; BSG, USK 8985). Eine Tatsache ist danach bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falls nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (BSG, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, § 128 Rn. 3b m. w. N.). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei voller Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl. BSG, Urteil v. 24.11.2010, B 11 AL 35/09 R). Strengere Anforderungen stellte z. B. § 93 RKG, wo es darauf ankam, ob der Beweis so stark und zwingend ist, dass jeder Zweifel auszuschließen und eine andere Beweiswürdigung nicht vertretbar ist (BSG, MittLVA Oberfr. 1980 S. 265).

2.2.2.2 Wahrscheinlichkeit

 

Rz. 5

Gegenüber dem Vollbeweis räumen bestimmte gesetzliche Vorschriften dem Anspruchsberechtigten ausdrücklich Milderungen der Beweisanforderungen ein. So begnügt sich der Gesetzgeber etwa in § 1 Abs. 3 BVG (und in Parallelbestimmungen des sozialen Entschädigungsrechts) für den Nachweis des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Schädigung und einer Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge mit dem Beweisgrad der (hinreichenden) Wahrscheinlichkeit. Wahrscheinlichkeit in diesem Sinn ist dann gegeben, wenn nach der geltenden ärztlichen wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (BSG, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4 m. w. N.). Wahrscheinlich ist nach anderer Definition diejenige Möglichkeit, der nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden (BSGE 45 S. 9 ff.; BSGE 45 S. 285, 287). Wenn die zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung anerkannt werden; die Zustimmung kann allgemein erteilt werden (§ 1 Abs. 3 Satz 2 BVG, sog. Kannversorgung).

2.2.2.3 Glaubhaftmachung

 

Rz. 6

Bei der Glaubhaftmachung handelt es sich um den mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts (BSG, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4). Außer im sozialen Entschädigungsrecht (Beispiele dazu in der o. g. Entscheidung des BSG) lassen auch das Fremdrentenrecht und das Recht der Wiedergutmachung die Glaubhaftmachung bestimmter Tatsachen ausreichen. Die Glaubhaftmachung genügt z. B. auch nach § 27 Abs. 2 Satz 2 SGB X (Wiedereinsetzung) oder für die Angaben im PKH-Verfahren (§ 118 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO) und ist im Verfahren wegen einstweiligen Rechtsschutzes nach § 86b erforderlich (vgl. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO). Nach § 23 Abs. 1 Satz 2 SGB X, § 4 Fremdrentengesetz und § 3...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt SGB Office Professional . Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge