1 Allgemeines

1.1 Historie, Sinn und Zweck

 

Rz. 1

Der Gerichtsbescheid ist mit dem Rechtspflegeentlastungsgesetz v. 11.1.1993 eingeführt worden, und zwar zunächst nur befristet. Mit dem 5. SGGÄndG ist er ab dem 1.3.1998 wieder in Kraft getreten. § 105 a. F. sah den Vorbescheid vor (zur Entstehungsgeschichte siehe Pawlak, in: Hennig, § 105 Rn. 1 bis 11).

§ 105 entspricht im Wesentlichen § 84 VwGO; anders sind dort nur die Rechtsmittel in Abs. 2 geregelt. Sowohl gegen § 84 VwGO als auch § 105 sind vielfach Bedenken in rechtspolitischer und auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht geäußert worden (zur Kritik an der Vorschrift siehe insbesondere die Vorauflage von Peters/Sautter/Wolff, § 105 Rn. 101 ff.; Leitherer, in: Meyer-Ladewig, § 105 Rn. 2 f m. w. N.; siehe auch zur Literatur unter Rn. 25). Nach der Rechtsprechung des BVerwG liegt aber weder ein Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, noch gegen das Gebot effektiven Rechtsschutzes, Art. 19 Abs. 4 GG, noch gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG, noch gegen Art. 6 Abs. 1 MRK vor (a. A. z. B. Kopp/Schenke, § 84 Rn. 2). Die neuere Rechtsprechung des BSG lässt zumindest eine restriktive Auslegung im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 MRK, Art. 19 Abs. 4 GG und das Gebot des gesetzlichen Richters, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, erkennen (vgl. hierzu BSG, Beschluss v. 12.1.2017, B 8 SO 55/16 B; Beschluss v. 8.11.2005, B 1 KR 76/05 R, SozR 4-1500 § 158 Nr. 2, sowie BSG, Urteil v. 16.3.2006, B 4 RA 59/04 R, SozR 4-1500 § 105 Nr. 1 = NZS 2007 S. 51).

Zweck der Regelung sollte eine Beschleunigung des Verfahrens sein. Allerdings führt die Regelung unter Umständen nur zur Beschleunigung des erstinstanzlichen Verfahrens, da das LSG nach § 153 Abs. 4 eine mündliche Verhandlung durchführen muss; eine Zurückweisung durch Beschluss ist nur im Rahmen des § 153 Abs. 5 in der ab dem 1.4.2008 geltenden Fassung durch das SGGArbGÄndG möglich. Danach kann eine Entscheidung in kleiner Besetzung durch den Berichterstatter und die ehrenamtlichen Richter erfolgen. Auch hierdurch wird garantiert, dass der Kläger in zwei Instanzen wenigstens einmal seinen Anspruch auf rechtliches Gehör innerhalb einer mündlichen Verhandlung verwirklichen kann (vgl. hierzu BSG, Beschluss v. 8.11.2005, B 1 KR 76/05 B). Der Zweck der Beschleunigung des Verfahrens wird verfehlt, wenn das SG erst 22 Monate nach Anhörung der Beteiligten und 16 Monate nach Eingang des letzten Schriftsatzes durch Gerichtsbescheid entscheidet (LSG Schleswig-Holstein, E-LSG RA-117, NZS 2000 S. 580; NZS 2001 S. 167).

1.2 Anwendungsbereich

 

Rz. 2

§ 105 findet nur im erstinstanzlichen Verfahren Anwendung. Für das Berufungsverfahren ist er nach § 153 Abs. 1 ausdrücklich ausgeschlossen. Soweit nicht in der ersten Instanz durch Gerichtsbescheid entschieden worden ist, besteht für das LSG die Möglichkeit der Beschlussfassung nach § 153 Abs. 4 (vgl. hierzu auch BSG, Beschluss v. 13.4.2011, B 14 AS 123/10) oder nach § 158 Satz 2 (BSG, Beschluss v. 8.4.2014, B 8 SO 22/14 B, SozR 4-1500 § 158 Nr. 7). Eine Entscheidung nach § 153 Abs. 4 setzt nicht wie § 105 voraus, dass die Streitsache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art enthält (BSG, Urteil v. 23.12.1996, 5 BJ 196/96). Auch insoweit ist aber eine enge Anwendung und Auslegung erforderlich (BSG, Beschluss v. 20.11.2003, B 13 RJ 38/03 B, SozR 4-1500 § 153 Nr. 1 = Breithaupt 2004 S. 327 = SGb 2004 S. 445). Der Gesetzentwurf des Bundesrats zum letzten SGGArbGÄndG sah noch die Möglichkeit der Beschlussfassung im Berufungsverfahren auch nach Erteilung eines Gerichtsbescheides vor, um das Verfahren weiter zu beschleunigen und eine Anpassung an die VwGO zu erwirken (vgl. BT-Drs. 684/06); in das Gesetz wurde dieser Vorschlag aber nicht übernommen, was angesichts der Rechtsprechung des BSG zur Auslegung des § 158 Satz 2 auch problematisch gewesen wäre. Stattdessen sieht § 153 Abs. 5 seit dem 1.4.2008 die Möglichkeit der Übertragung der Angelegenheit auf den Berichterstatter vor, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheiden kann. Ein Beschluss nach § 158 Satz 2 stellt nach dem Beschluss des BSG vom 8.11.2005, B 1 KR 76/05 B, SozR 4-1500 § 158 Nr. 2, eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter dar. Das LSG kann aber durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn es erstinstanzlich tätig wird, etwa bei einem Streit über den Risikostrukturausgleich nach § 29 Abs. 3 oder bei Entscheidung über eine erst in der Berufungsinstanz erhobene Widerklage. Das hat das BSG ausdrücklich für Entschädigungsklagen nach § 198 GVG entschieden (Beschluss v. 12.2.2015, B 10 ÜG 8/14 B). Sogar das BSG kann durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn es in erster Instanz nach § 39 Abs. 2 tätig wird, soweit die Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 Satz 1 vorliegen. Im Revisionsverfahren findet § 105 dagegen keine Anwendung, § 165 i. V. m. § 153 Abs. 1.

 

Rz. 3

Bei der Anwendung und Auslegung des § 105 ist zu berücksichtigen, dass die Vorschrift eine Ausnahmeregelung von den Grundsätzen der Entscheidung aufgrun...

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