Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilfe. Verpflichtung des Sozialhilfeträgers zur Zulassung der Einlegung von Widersprüchen durch einfache E-Mail. Formgebundenheit des Widerspruchs. Verfassungsmäßigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Durch einfache E-Mail wird die nach § 84 Abs 1 S 1 SGG iVm § 36a Abs 2 SGB I erforderliche Form des Widerspruchs nicht gewahrt.

2. Das in § 84 Abs 1 S 1 SGG iVm § 36a Abs 2 SGB I geregelte Formerfordernis verstößt weder gegen das Benachteiligungsverbot noch gegen den Förderauftrag von Art 3 Abs 3 GG.

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Kassel vom 16. Juli 2021 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Kommunikation des Klägers mit dem Beklagten per E-Mail im Streit.

Der 1962 geborene, alleinstehende Kläger ist Fachjournalist für IT-Technik. Er leidet an einer psychischen Störung mit funktionellen Organbeschwerden, Schwerhörigkeit, Stimmstörung, Asthma bronchiale, Bluthochdruck, Reizmagen, Gangstörung bei Übergewicht mit Stauungserscheinungen beider Beine, Polyneuropathie, Wirbelsäulen- und Gelenkbeschwerden. Nach einer Lungenembolie steht er unter Antikoagulanziendauerbehandlung. Er ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 70, das Merkzeichen „G“ ist festgestellt. Seit 1. April 2014 bezieht er eine Rente wegen voller Erwerbsminderung sowie Leistungen nach dem 4. Kapitel des Sozialgesetzbuches - Sozialhilfe (SGB XII), Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Seit 29. Juli 2019 erhält er weiterhin Leistungen des Pflegegrades 1.

Gegen einen ihm erteilten Leistungsbescheid des Beklagten vom 27. Januar 2021 (Bl. 1538 Verwaltungsakte - VA) legte der Kläger am 27. Januar 2021 per einfacher E-Mail Widerspruch (Bl. 1538 VA) ein, worauf ihm der Beklagte mit Schreiben vom 27. Januar 2021 (Bl. 1553 VA) mitteilte, dass der Widerspruch als unzulässig zurückgewiesen werden müsse, da die Widerspruchseinlegung per einfacher E-Mail erfolgt sei. Gemäß § 84 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sei der Widerspruch binnen eines Monats, nachdem der Verwaltungsakt dem Beschwerten bekannt gegeben worden sei, schriftlich, in elektronischer Form nach § 36a Abs. 2 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil (SGB I) oder zur Niederschrift bei der Stelle einzureichen, die den Verwaltungsakt erlassen habe. Nach § 92 SGG, der die Anforderungen an den Inhalt einer Klageschrift normiere, werde zwar überwiegend gefordert, dass an den Widerspruch keine höheren Anforderungen gestellt werden könnten als an die Klage. Gemäß § 60a Abs. 1 SGG könnten die Beteiligten einem Gericht auch elektronischer Dokumente übermitteln, soweit dies für den jeweiligen Zuständigkeitsbereich durch Rechtsverordnung der Bundesregierung oder der Landesregierung zugelassen worden sei. Nach den Maßgaben der Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr bei hessischen Gerichten und Staatsanwaltschaften sei das Einreichen von elektronischen Dokumenten jedoch lediglich bei den entsprechenden Gerichten und Staatsanwaltschaften zulässig. Für Dokumente, die, wie der Widerspruch, einem schriftlich zu unterzeichnenden Schriftstück gleichstünden, sei eine qualifizierte elektronische Signatur nach § 2 Nr. 3 des Signaturgesetzes (SigG) vorgeschrieben. Diesem Erfordernis entspreche die E-Mail des Klägers nicht. Qualifizierte elektronische Signaturen seien elektronische Signaturen, die auf einem zum Zeitpunkt der Erzeugung gültigen qualifizierten Zertifikat beruhten und mit einer sicheren Signaturerstellungseinheit erzeugt würden. Trotz der Verfügbarkeit moderner Kommunikationsmittel und dem sich allgemein durch Bürgerfreundlichkeit und fehlender Formstrenge auszeichnenden sozialrechtlichen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren müssten für die Wirksamkeit der Widerspruchseinlegung zur Sicherung der Authentizität- und Sicherungsfunktion besondere Anforderungen erfüllt sein. Für den Widerspruchsgegner müsse erkennbar sein, dass der Widerspruch vom Widerspruchsführer herrühre und dieser die Widerspruchsschrift wissentlich und willentlich in den Verkehr gebracht habe. Diese Sicherung der Authentizität sei durch einfache E-Mails nicht gewährleistet. Der Absender sei nicht ausreichend sicher identifizierbar und es bestehe eine größere Gefahr von Missbrauch und Täuschung durch Unbefugte. Mit am 29. Januar 2021 beim Beklagten eingegangenen Faxschreiben vom 28. Januar 2021 erhob der Kläger Widerspruch gegen den Bescheid vom 27. Januar 2021, der mit Widerspruchsbescheid vom 30. April 2021 als unbegründet zurückgewiesen wurde. Die hiergegen erhobene Klage wurde abgewiesen (Sozialgericht Kassel, Gerichtsbescheid vom 16. Juli 2021, Az. S 12 SO 21/21), das Berufungsverfahren ist unter dem Aktenzeichen L 4 SO 178/21 anhängig.

Am 23. März 2021 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht in Kassel mit dem Begehren erhoben, den Beklagten zu verpflichten, mit ihm generell - auch bei formgebund...

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