Entscheidungsstichwort (Thema)

Überlanges Gerichtsverfahren. verspätete Verzögerungsrüge. Erhebung der Rüge nach Anhörung zum Gerichtsbescheid. Wiedergutmachung auf andere Weise. keine Geldentschädigung bei erkennbar aussichtsloser Ausgangsklage. Vielkläger. viele parallel geltend gemachte Klagen. verzögerndes Prozessverhalten. keine Kompensation der vorinstanzlichen Verfahrensdauer durch schnelles isoliertes Prozesskostenhilfeverfahren beim BSG

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine Verzögerungsrüge ist regelmäßig unwirksam, weil zweckwidrig und daher rechtsmissbräuchlich erhoben, wenn der Entschädigungskläger mit ihr zuwartet, bis ein baldiger Verfahrensabschluss - auch ohne Verzögerungsrüge - sich abzeichnet, und also davon auszugehen ist, dass er sein Verhalten an dem Ziel orientiert hat, eine möglichst hohe Entschädigungssumme zu erhalten.

2. Zu der bei der Beurteilung einer unangemessenen Verfahrensdauer anzustellenden Gesamtabwägung und den dabei zu berücksichtigenden Umständen.

 

Orientierungssatz

1. Ein Entschädigungsanspruch in Geld ist ausgeschlossen, wenn die dem Entschädigungsverfahren zugrunde liegende Klage aussichtslos und dies für den Kläger erkennbar war (vgl in diesem Sinne auch LSG Celle-Bremen vom 27.5.2020 - L 13 SF 5/19 EK AS) und er durch sein Gesamtverhalten erheblich zur Verzögerung beigetragen hat (vgl BSG vom 21.2.2013 - B 10 ÜG 1/12 KL = BSGE 113, 75 = SozR 4-1720 § 198 Nr 1).

2. Zusätzlich ist unter dem Gesichtspunkt des klägerischen Prozessverhaltens bei der Gesamtbewertung der überlangen Verfahrensdauer eine vorhandene Vielzahl der vom Kläger angestrengten Verfahren zu berücksichtigen, die dem Sozialgericht die Übersicht notwendig erschweren (zB im Hinblick auf mögliche Gründe der Unzulässigkeit wie einer doppelten Rechtshängigkeit oder zum Zwecke der gruppenweisen Bearbeitung).

3. Weiter kann in diesem Zusammenhang nicht unberücksichtigt bleiben, wenn der Kläger eine große Vielzahl von Verfahren beim Sozialgericht anhängig gemacht hat (hier: ua 30 Verfahren von 2011 bis 2016). Unter diesen Umständen muss ein Kläger damit rechnen, dass es bei seinen Verfahren zu Verzögerungen kommen kann, und zwar auch unabhängig von konkret beschreibbaren Hindernissen wie der Aktenübersendung an andere Gerichte.

4. Die schnelle Bearbeitung eines isolierten Prozesskostenhilfeverfahrens zur Einlegung einer Nichtzulassungsbeschwerde beim BSG kann nicht zur Kompensation einer überlangen Verfahrensdauer in der Vorinstanz herangezogen werden, da ein solches Verfahren den Eintritt der Rechtskraft nicht hinauszuschieben vermag.

5. Teilweise Parallelentscheidung zum Urteil des LSG Darmstadt vom 8.7.2020 - L 6 SF 8/19 EK AS.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 21.01.2021; Aktenzeichen B 10 ÜG 2/20 BH)

 

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

IV. Der Streitwert wird auf 1.200,- Euro festgesetzt.

 

Tatbestand

Der Kläger macht einen Anspruch auf Entschädigung in Geld wegen der nach seiner Auffassung unangemessenen Dauer des vor dem Sozialgericht Marburg unter dem Aktenzeichen S 8 AS 330/11 geführten Verfahrens geltend.

Das Ausgangsverfahren betraf in erster Linie die Erteilung von Zusicherungen hinsichtlich der Übernahme von Aufwendungen für Unterkunft und Heizung im Vorfeld der beabsichtigten Anmietung einer neuen Wohnung (heute § 22 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - [SGB II], damals § 22 Abs. 2 SGB II); es hatte folgenden Hintergrund: Der im Oktober 1970 geborene Kläger erhält seit dem 1. Januar 2005 Arbeitslosengeld II von dem Beigeladenen. In den Jahren 2010/11 befand er sich auf Wohnungssuche. In diesem Zusammenhang fragte er mit E-Mail vom 3. September 2010 unter Beifügung eines entsprechenden Angebots bei dem Beigeladenen an, ob die Anmietung einer konkreten, in A-Stadt gelegenen Wohnung zustimmungsfähig sei. Dies verneinte der Beigeladene mit E-Mail vom gleichen Tag, da die Mietaufwendungen nicht angemessen im Sinne von § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II seien. Mit einer weiteren E-Mail zwei Tage später bat der Kläger um Erteilung der Zustimmung hinsichtlich einer anderen, ebenfalls in A-Stadt gelegenen Wohnung. Auch hierzu teilte der Beigeladene, und zwar in einer E-Mail vom 6. September 2010, mit, dass die Kosten die Angemessenheitsgrenze überstiegen und deshalb keine Zustimmung erteilt werden könne. Der Kläger legte gegen diese Mitteilungen sowie gegen die für die Bemessung angemessener Kosten von Wohnraum maßgebliche „Dienstanweisung“ - tatsächlich handelt es sich offenbar um ein an die Leistungsberechtigten ausgegebenes Hinweisblatt des Beigeladenen - Widerspruch ein, den dieser durch Widerspruchsbescheid vom 14. September 2011 zurückwies.

Daraufhin erhob der Kläger am 17. Oktober 2011 Klage zum Sozialgericht Marburg. Die Begründung beschränkte sich auf folgende Ausführungen: „Die Klage ist zulässig und begründet. Mit dem angegriffenen Widerspruchsbescheid ist das Vorverfahren beendet. Der Kläger ist, wie es bei...

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