Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilfe für Ausländer. Leistungsausschluss für Leistungsberechtigte nach § 1 AsylbLG. vollziehbare Ausreisepflicht. Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels nach § 2 UkraineAufenthÜV. Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs 5 AufenthG 2004. Leistungsausschluss für dem Grunde nach Leistungsberechtigte der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Erwerbsfähigkeit. rechtliche Möglichkeit zur Aufnahme einer Beschäftigung. Negativentscheidung in der Fiktionsbescheinigung. Anwendbarkeit der Übergangsregelung des § 74 Abs 1 SGB 2. fehlende erkennungsdienstliche Behandlung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Voraussetzung der "erkennungsdienstlichen Behandlung" in § 74 Abs 1 und Abs 2 SGB II ist ein anspruchsbegründendes Tatbestandsmerkmal, nicht nur eine Ordnungsvorschrift.

2. Eine nicht erkennungsdienstlich behandelte Person, die sich zunächst nach § 2 Abs 1 UkraineAufenthÜV und danach nach § 81 Abs 3 AufenthG (juris: AufenthG 2004) rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufhält, aber anfänglich mangels Antrag auf einen Aufenthaltstitel und danach wegen eines die Erwerbstätigkeit ausdrücklich nicht gestattenden Vermerks in der Fiktionsbescheinigung nicht die Voraussetzungen des § 8 Abs 2 SGB II erfüllt, hat nach drei Monaten des Aufenthalts einen Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe auf der Grundlage von § 23 Abs 1 SGB XII.

 

Tenor

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 29. Juli 2022 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat den Antragstellern auch die außergerichtlichen Kosten der Beschwerde zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten im Wesentlichen um den zuständigen Träger für die Gewährung existenzsichernder Leistungen an die Antragsteller.

Die 1997 geborene Antragstellerin zu 1) ist eine simbabwische Staatsangehörige. Der am 2022 geborene Antragsteller zu 2) ist das Kind der Antragstellerin zu 1). Die Antragstellerin zu 1) übt das Sorgerecht allein aus. Die Antragstellerin zu 1) reiste aufgrund eines Visums vom 31. August 2018 in die Ukraine ein und hielt sich nach ihren unwidersprochen gebliebenen Angaben in den letzten Jahren als Studentin in der Ukraine auf. Sie ist im Besitz einer am 11. Dezember 2018 ausgestellten, bis 31. August 2022 gültigen Aufenthaltserlaubnis für die Ukraine.

Die Antragstellerin zu 1) reiste nach unwidersprochen gebliebenem Vortrag kurz nach Kriegsbeginn aus der Ukraine aus und am 4. März 2022 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Seit dem 7. März 2022 hält sie sich in A-Stadt auf. Die Sicherung des Lebensunterhalts erfolgte zunächst durch Spenden. Ein Kontoauszug einer ukrainischen Bank vom 20. Juni 2022 weist einen Saldo von 17.212,31 Hrywnja (zum Zeitpunkt der Entscheidung ca. 471,70 €) aus.

Am 14. April 2022 erfolgte eine Vorsprache bei einem Sozialamt der Antragsgegnerin. Dort wurde der Antragstellerin zu 1) mitgeteilt, sie solle in D-Stadt einen Asylantrag stellen. Die Antragsgegnerin bot Hilfe in Gestalt der Fahrtkosten zur Auslandsvertretung nach Berlin an. Am 3. Juni 2022 wurde ein Antrag auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) bei der Antragsgegnerin gestellt. Einen Asylantrag stellte die Antragstellerin zu 1) nicht.

Der Eingang eines Antrages auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) wurde von der Ausländerbehörde am 12. August 2022 bestätigt; die Fiktionsbescheinigung der Antragstellerin zu 1) datiert vom 12. August 2022. In der Fiktionsbescheinigung ist vermerkt: „Erwerbstätigkeit nicht erlaubt.“

Eine erkennungsdienstliche Behandlung der Antragsteller erfolgte nicht.

Am 21. Juni 2022 haben die Antragsteller beantragt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragstellern vorläufig ab Antragstellung Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII), hilfsweise nach dem AsylbLG, in gesetzlich vorgesehenem Umfang zu gewähren.

Die Bevollmächtigte der Antragsteller hat gegenüber dem Sozialgericht vorgetragen, der Aufenthalt gelte nach § 2 Ukraine-Aufenthalts-Übergangsverordnung als rechtmäßig bis 31. August 2022. Die Antragstellerin zu 1) werde rechtzeitig eine Aufenthaltserlaubnis beantragen. Es bestehe keine Notwendigkeit, einen Asylantrag zu stellen. Die Beschränkung der Leistungen auf Fahrtkosten sei rechtswidrig.

Die Antragsgegnerin hat vorgetragen, am 14. April 2022 sei der Antragstellerin zu 1) nach § 23 Abs. 1 SGB XII nur eingeschränkte Hilfe in Gestalt der Fahrtkosten zur Auslandsvertretung nach Berlin angeboten worden. Die Antragstellerin zu 1) werde voraussichtlich keinen vorübergehenden Schutz nach § 24 AufenthG erhalten.

Das Sozialgericht hat die Antragsgegnerin mit Beschluss vom 29. Juli 2022, der Antragsgegnerin zugestellt am 3. August 2022, verpflichtet, den Antragstellern vom 21. Juni 2022 bis zum 31. August 2022 - längstens jedoch bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung über einen Antrag nach dem SGB XII - existenzsichernde Leistungen in gesetzlicher Höhe zu gewäh...

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