Entscheidungsstichwort (Thema)

Prozeßfähigkeit. Geschäftsfähigkeit

 

Orientierungssatz

1. Rügt ein Revisionskläger, er sei im Verfahren vor dem Berufungsgericht wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit geschäftsunfähig und daher nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten gewesen (§ 551 Nr 5 ZPO), so ist er im Revisionsverfahren insoweit als prozeßfähig zu behandeln, als über die Frage seiner Prozeßfähigkeit zu entscheiden ist.

2. Ist als erwiesen angesehen, daß sich der Kläger während des Berufungsverfahrens in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden, seiner Natur nach nicht nur vorübergehenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden hat und daß dieser Zustand wahrscheinlich auch schon früher bestand, so war er geschäftsunfähig und daher nicht imstande, sich durch Verträge zu verpflichten. Er ist demzufolge seitdem nach § 71 SGG prozeßunfähig und war auf jeden Fall von dieser Zeit an in dem vorliegenden Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten.

 

Normenkette

SGG § 71; BGB § 104

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 08.12.1960)

SG Hildesheim (Entscheidung vom 17.05.1957)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 8. Dezember 1960 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger macht Entschädigungsansprüche wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls geltend, der ihm im Oktober 1949 zustieß. Der Unfall hatte u.a. schwere Kopfverletzungen zur Folge. Antrag auf Feststellung der Entschädigungsleistung stellte der Kläger nicht. Die Beklagte gewährte ihm erst vom 1. März 1955 an eine Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v.H., weil sich seit dieser Zeit nervöse Beschwerden des Klägers herausgestellt hatten, die in der Form einer Wesensveränderung als Folgen seiner vom Unfall herrührenden Schädel- und Hirnverletzung bestanden.

Die Klage hiergegen, mit welcher der Kläger eine höhere Rente - diese schon vom 1. März 1950 an - begehrte, hatte keinen Erfolg. Nach Erlaß des klagabweisenden Urteils erster Instanz setzte die Beklagte durch Bescheid vom 26. Juni 1957 die Rente auf eine Teilrente von 20 v.H. der Vollrente herab und entzog diese durch Bescheid vom 25. November 1960. Das geschah auf Grund fachärztlicher Gutachten des Direktors des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Göttingen (Prof. Dr. K) vom 17. Juni 1957 und des Nervenarztes Dr. R vom 7. November 1960. Die beiden Bescheide waren Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden.

Der Sachverständige Dr. R, der den Kläger seit Mai 1959 behandelt hatte, hält den Kläger für erheblich psychisch gestört und meint, er sei nicht immer geschäftsfähig gewesen; einen ursächlichen Zusammenhang zwischen den psychischen Störungen des Klägers und seinem Unfall vom Jahre 1949 verneint er.

Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat durch Urteil vom 8. Dezember 1960 die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 17. Mai 1957 sowie gegen die Bescheide der Beklagten vom 26. Juni 1957 und 25. November 1960 zurückgewiesen. Es hat die Prozeßfähigkeit des Klägers bejaht, weil der ärztliche Sachverständige Dr. R in Übereinstimmung mit den anderen vorliegenden nervenärztlichen Gutachten lediglich zum Ausdruck gebracht habe, der Kläger sei mit Sicherheit längere Zeit, also nicht für die Dauer, geschäftsunfähig gewesen. Zur Frage des streitigen ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Gesundheitsstörung und dem Unfall hat das LSG ausgeführt: Die psychisch bedingte Wesensänderung des Klägers sei nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. R keine Unfallfolge. Die Beklagte sei indessen an die Anerkennung dieses Leidens als Unfallfolge gebunden. Die Bemessung der Höhe der gewährten Rente sowie die Herabsetzung und Entziehung der Rente unterlägen keinen Bedenken.

Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.

Das Urteil ist dem Kläger am 17. Januar 1961 zugestellt worden. Er hat dagegen durch seinen Prozeßbevollmächtigten am 14. Februar 1961 Revision eingelegt. Am 28. Februar 1961 sowie mit einem weiteren Schriftsatz vom 14. April 1961 ist das Rechtsmittel innerhalb der bis zum 17. April 1961 verlängerten Revisionsbegründungsfrist begründet worden. Die Revision rügt, das LSG habe zu Unrecht die Prozeßfähigkeit des Klägers bejaht; es hätte daher kein Sachurteil erlassen dürfen. Hierzu bringt die Revision vor: Aus den Aktenunterlagen ergäben sich Zweifel an der Geschäftsfähigkeit des Klägers. Das LSG hätte sich deshalb veranlaßt sehen müssen, die Frage der Prozeßfähigkeit des Klägers durch ein besonderes fachärztliches Gutachten zu klären; aus eigener Sachkunde sei es jedenfalls nicht in der Lage gewesen, diese medizinische Fachfrage zu beantworten. Die im Verfahren erstatten nervenärztlichen Gutachten, insbesondere auch das des Dr. R, seien lediglich zur Frage des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Nervenleiden des Klägers und seinem Unfall ergangen. Im übrigen leide das Verfahren ohnehin an wesentlichen Mängeln, die zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen müßten, vor allem, weil dem Kläger das rechtliche Gehör nicht gewährt worden sei.

Der Kläger beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen sowie die Bescheide der Beklagten vom 2. Dezember 1955, 26. Juni 1957 und 25. November 1960 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger für die Folgen des Unfalls vom 11. Oktober 1949 eine Rente nach einer MdE von 100 v.H. bis Ende Juni 1959 und von 60 v.H. ab 1. Juli 1959 zu zahlen und dabei von einem Jahresarbeitsverdienst von 3600,- DM auszugehen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise,

die Sache an das LSG zurückzuverweisen.

Sie pflichtet dem angefochtenen Urteil bei, verhehlt allerdings nicht, daß die Prüfung der Frage, ob der Kläger prozeßfähig war, im Revisionsverfahren wohl zur Einholung eines fachärztlichen Gutachtens werde führen müssen.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat durch Einholung eines Gutachtens der Psychiatrischen und Neurologischen Klinik der Universität Heidelberg Beweis darüber erhoben, ob und für welchen Zeitraum sich der Kläger in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden habe. Das am 29. Dezember 1961 von den Fachärzten für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. R und Dr. D erstattete Gutachten ist auf Grund stationärer Untersuchung des Klägers vom 18. bis 22. Dezember 1961 zu folgendem Ergebnis gekommen:

Der Kläger biete das eindrucksvolle und unbezweifelbare Bild einer paranoid-schizophrenen Psychose, die seine Geschäftsfähigkeit ausschließe. Mit fast völliger Sicherheit habe diese geistige Erkrankung bei graduell nur geringen Schwankungen seit dem 4. Mai 1959 vorgelegen. Mit großer Wahrscheinlichkeit habe sich die Psychose zwischen September 1957 und Mai 1959 gleichfalls auf einem ansehnlichen Intensitätsniveau befunden, welches Geschäftsunfähigkeit bedingt habe. Für die Zeit von Frühjahr 1950 bis Juni 1955 sei ein gleicher Grad von Wahrscheinlichkeit hinsichtlich der Intensität psychotischer Entäußerungen und hieraus resultierender Einbuße an Geschäftsfähigkeit anzunehmen. Von Mitte 1955 bis 13. Oktober 1956 könne die Psychose nach den vorhandenen Unterlagen als kaum erkennbar angesehen werden. Die Möglichkeit, daß auch in jener Zeit, in der sichere psychotische Entäußerungen selbst von fachärztlicher Seite nicht gesehen werden konnten, dennoch die Psychose geschwelt hat und sogar Geschäftsunfähigkeit bedingt haben konnte, sei gleichwohl nicht völlig zu verneinen. Der Wahrscheinlichkeitsgrad einer solchen damals bestandenen Geschäftsunfähigkeit sei jedoch weit geringer als in allen übrigen hier herausdifferenzierten Zeiträumen. Für die Zeit vom 13. Oktober 1956 bis September 1957 fehle jede Unterlage, die eine Entscheidung ermöglichen würde.

Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hat sich daraufhin bereit erklärt, zum besonderen Vertreter nach § 72 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bestellt zu werden.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden. Der Senat hat von dieser Entscheidungsmöglichkeit Gebrauch gemacht (§ 124 Abs. 2 SGG).

II

Die Revision ist zulässig. Ihre Statthaftigkeit hängt davon ab, ob der Kläger mit Erfolg gerügt hat, das Berufungsgericht habe über den Entschädigungsanspruch durch Sachurteil entschieden, obwohl der Kläger mangels Prozeßfähigkeit im Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten gewesen sei (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1, 150).

Der Umstand, daß die Statthaftigkeit der Revision daraus hergeleitet wird, das LSG habe die Prozeßfähigkeit des Klägers zu Unrecht bejaht, macht das Revisionsverfahren nicht unzulässig. Wie das BSG in Übereinstimmung mit der zu § 56 Abs.1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) ergangenen Rechtsprechung und dem dazu vorliegenden Schrifttum bereits ausgesprochen hat (BSG 5, 176, 177 mit den dort ersichtlichen Nachweisen), ist ein Revisionskläger, der rügt, er sei im Verfahren vor dem Berufungsgericht wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit geschäftsunfähig und daher nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten gewesen (§ 551 Nr. 5 ZPO), im Revisionsverfahren insoweit als prozeßfähig zu behandeln, als über die Frage seiner Prozeßfähigkeit zu entscheiden ist. Das Revisionsgericht muß sonach einen Beteiligten als prozeßfähig ansehen, solange seine Prozeßunfähigkeit nicht festgestellt ist. Das hatte zur Folge, daß der mit der Revision gerügte Mangel der Prozeßfähigkeit des Klägers im Revisionsverfahren nachzuprüfen war (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd.I, 254b).

Nach dem überzeugenden, überdies auch von der Beklagten unwidersprochen gebliebenen Gutachten der Psychiatrischen und Neurologischen Klinik der Universität Heidelberg vom 29. Dezember 1961 ist als erwiesen anzusehen, daß sich der Kläger mit Sicherheit seit Mai 1959 in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden, seiner Natur nach nicht nur vorübergehenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden hat und daß dieser Zustand wahrscheinlich auch schon früher, mindestens in der Zeit von Frühjahr 1950 bis Juni 1955, bestand. Der Kläger ist somit jedenfalls schon während des Berufungsverfahrens geschäftsunfähig und daher nicht imstande gewesen, sich durch Verträge zu verpflichten (§§ 104 ff BGB). Er ist demzufolge seitdem nach § 71 SGG prozeßunfähig und war auf jeden Fall von dieser Zeit an in dem vorliegenden Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten.

Die Revision ist somit statthaft.

Auf dem festgestellten Verfahrensmangel der fehlenden Prozeßfähigkeit des Klägers beruht das angefochtene Urteil ohne weiteres im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG. Der unbedingte Revisionsgrund des § 551 Nr. 5 ZPO gilt gemäß § 202 SGG auch im Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit (BSG 3, 185; 5, 177). Das angefochtene Urteil mußte daher aufgehoben werden und, da das BSG nicht gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 SGG in der Sache selbst entscheiden konnte, war diese an das Berufungsgericht zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Bei der Prüfung der Möglichkeiten zur Herbeiführung einer den gesetzlichen Erfordernissen entsprechenden Vertretung des Klägers wird das LSG die in dem Schriftsatz vom 25. Oktober 1962 erklärte Bereitschaft des Prozeßbevollmächtigten des Klägers zu beachten haben, als besonderer Vertreter nach § 72 SGG bestellt zu werden.

Über die Kosten des Revisionsverfahrens wird im abschließenden Urteil zu entscheiden sein.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1984211

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