Entscheidungsstichwort (Thema)

Prozeßfähigkeit. Geschäftsfähigkeit

 

Orientierungssatz

1. Rügt ein Revisionskläger, er sei im Verfahren vor dem Berufungsgericht wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit geschäftsunfähig und daher nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten gewesen (§ 551 Nr 5 ZPO), so ist er im Revisionsverfahren insoweit als prozeßfähig zu behandeln, als über die Frage seiner Prozeßfähigkeit zu entscheiden ist (vgl BSG 1957-05-28 3 RJ 98/54 = BSGE 5, 176).

2. Hat sich der Kläger während des gesamten Verfahrens in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden, seiner Natur nach nicht nur vorübergehenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden, so ist er, schon von der Klageerhebung an geschäftsunfähig und daher nicht imstande gewesen, sich durch Verträge zu verpflichten. Er ist demzufolge nach § 71 SGG prozeßunfähig und war deshalb schon im Verfahren der Vorinstanzen nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten.

 

Normenkette

SGG § 71; BGB § 104; ZPO § 551 Nr. 5

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 11.01.1961)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 11. Januar 1961 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger macht Entschädigungsansprüche wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls geltend, den er im Mai 1937 erlitten haben will. Er behauptet, aus Anlaß dieses Unfalls von der Beklagten mit einer Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 40 v.H. bis zum Jahre 1944 entschädigt worden zu sein. Amtliche Unterlagen hierüber sind nicht vorhanden.

Im Juli 1952 beantragte der Kläger, ihm die Rente wiederzugewähren. Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 30. April 1953 mit der Begründung ab, daß der Unfall vom Mai 1937 nach den fachärztlichen Untersuchungen und Begutachtungen keinerlei nachteilige Folgen mehr hinterlassen habe; in dem Bescheid sind als vom Unfall unabhängige Gesundheitsstörungen des Klägers u.a. "Sterilisation 1938" und "Debilität" bezeichnet. Dieser Bescheid blieb unangefochten.

Im Jahre 1954 machte der Kläger "dauernde Kreuzschmerzen" als Folgen des Unfalls geltend und behauptete, er sei wegen dieser Beschwerden sterilisiert worden, um ihre Vererbung zu verhindern. Der von der Beklagten zugezogene ärztliche Sachverständige, Facharzt für Chirurgie Dr. N... verneinte den ursächlichen Zusammenhang zwischen den Kreuzschmerzen und dem Unfall. Er bezeichnete den Kläger als geistesschwach. Daraufhin lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 28. Juli 1954 die Wiedergewährung einer Rente ab. Auf einen im Februar 1957 mit der gleichen Begründung wiederholten Antrag auf Rentengewährung teilte die Beklagte dem Kläger durch Schreiben vom 18. Februar 1957 mit, daß keine Veranlassung bestehe, ein erneutes Entschädigungsverfahren durchzuführen. Einen im September 1959 wiederholten Antrag des Klägers auf Unfallentschädigung beschied die Beklagte am 16. Dezember 1959 nochmals dahin, daß sie in seiner Unfallsache nichts mehr veranlassen werde, und stellte ihm anheim, auf Feststellung zu klagen, daß die Beklagte verpflichtet sei, die Sterilisation als Folge des Unfalls anzuerkennen.

Der Kläger erhob diese Klage vor dem Sozialgericht (SG) Mannheim. Sie hatte in den beiden Vorinstanzen jedoch keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 11. Januar 1961 die Berufung mit der Begründung zurückgewiesen, daß die Frage, ob die Sterilisation des Klägers Folge seines Unfalls vom Mai 1937 ist, durch die unangefochtenen Bescheide der Beklagten bindend entschieden sei und daß die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens nicht gegeben seien.

Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.

Das Urteil ist dem Kläger am 30. Januar 1961 zugestellt worden. Er hat hiergegen durch seinen Prozeßbevollmächtigten am 24. Februar 1961 Revision eingelegt und sie gleichzeitig begründet. Die Revision rügt, das Verfahren leide an einem wesentlichen Mangel. Dazu bringt sie vor: Der Kläger sei während des gesamten Verfahrens nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten gewesen. Er sei nicht prozeßfähig; schon seit Jahren leide er an Debilität. Er sei sterilisiert worden. Die Vorinstanzen hätten daher bei Vermeidung eines Verfahrensmangels die Frage der Prozeßfähigkeit prüfen müssen. Das sei unterblieben.

Er beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 11. Januar 1961 aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Sie ist der Auffassung, der Kläger habe nicht ausreichend dargelegt, daß er prozeßunfähig sei.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat durch Einholung eines Gutachtens des Staatlichen Gesundheitsamtes Mannheim Beweis darüber erhoben, ob der Kläger unter einem seine freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit leidet und gegebenenfalls seit wann er sich in einem solchen Zustand befindet. Das am 14. August 1961 von dem Facharzt für Psychiatrie und Neurologie Reg. Medizinalrat Dr. M... erstattete Gutachten ist auf Grund einer Untersuchung des Klägers zu dem Ergebnis gekommen, daß der Kläger schon seit seiner Kindheit an Schwachsinn leidet; dieser komme einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit gleich, welche die freie Willensbestimmung ausschließt.

Durch Beschluß des Senats vom 13. Oktober 1961 ist dem Kläger antragsgemäß unter Beiordnung seines Prozeßbevollmächtigten das Armenrecht bewilligt worden.

II

Gegen die Zulässigkeit der Revision bestehen nach Ansicht des erkennenden Senats keine Bedenken. Ihre Statthaftigkeit hängt davon ab, ob der Kläger mit Erfolg gerügt hat, daß das Berufungsgericht über den Entschädigungsanspruch durch Sachurteil entschieden habe, obwohl der Kläger mangels Prozeßfähigkeit im Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten gewesen sei (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -; BSG 1, 150).

Der Umstand, daß der Kläger seine Prozeßfähigkeit bezweifelt, macht das Revisionsverfahren nicht unzulässig. Wie das BSG in Übereinstimmung mit der zu § 56 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) ergangenen Rechtsprechung und dem dazu vorliegenden Schrifttum bereits ausgesprochen hat (BSG 5, 176, 177 und die dort ersichtlichen Nachweise), ist ein Revisionskläger, welcher rügt, er sei im Verfahren vor dem Berufungsgericht wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit geschäftsunfähig und daher nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten gewesen (§ 551 Nr. 5 ZPO), im Revisionsverfahren insoweit als prozeßfähig zu behandeln, als über die Frage seiner Prozeßfähigkeit zu entscheiden ist. Das Revisionsgericht muß sonach einen Beteiligten als prozeßfähig ansehen, solange seine Prozeßunfähigkeit nicht festgestellt ist. Das hatte zur Folge, daß der mit der Revision gerügte Mangel der Prozeßfähigkeit des Klägers im Revisionsverfahren nachzuprüfen war (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band I S. 254 b).

Nach dem überzeugenden, überdies auch von der Beklagten unwidersprochen gebliebenen Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Neurologie beim Staatlichen Gesundheitsamt M..., Reg.-Medizinalrat Dr. M..., vom 14. August 1961 ist als erwiesen anzusehen, daß sich der Kläger während des gesamten Verfahrens in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden, seiner Natur nach nicht nur vorübergehenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden hat. Der Kläger ist somit schon von der Klagerhebung an geschäftsunfähig und daher nicht imstande gewesen, sich durch Verträge zu verpflichten (§§ 104 ff BGB). Er ist demzufolge nach § 71 SGG prozeßunfähig und war deshalb schon im Verfahren der Vorinstanzen nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten. Die Revision ist somit statthaft.

Auf dem festgestellten Verfahrensmangel der fehlenden Prozeßfähigkeit des Klägers beruht das angefochtene Urteil ohne weiteres im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG. Der unbedingte Revisionsgrund des § 551 Nr. 5 ZPO gilt gemäß § 202 SGG auch im Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit (BSG 3, 185; 5, 177). In einem Falle des § 551 ZPO ist dem Revisionsgericht die Entscheidung über das Rechtsmittel im Sinne des § 170 Abs. 1 Satz 2 SGG versagt, d.h., es ist der Nachprüfung des Revisionsgerichts entzogen, ob sich das Berufungsurteil trotz der wirksam geltend gemachten Gesetzesverletzung etwa aus anderen Gründen als richtig erweist (BSG 4, 281, 288; 5, 177). Das angefochtene Urteil mußte daher aufgehoben werden.

Das BSG konnte gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 SGG in der Sache selbst nicht entscheiden, obschon bereits die Klage von einem Prozeßunfähigen erhoben worden war. Wie auch hierzu in dem mehrfach angeführten, in BSG 5, 176 veröffentlichten Urteil ausgesprochen ist, verbietet sich im Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit gemäß § 72 Abs. 1 SGG grundsätzlich eine Klagabweisung wegen der Prozeßunfähigkeit eines Beteiligten. Einer solchen Entscheidung stünde der in dieser Vorschrift enthaltene Grundgedanke der Betreuung des prozeßunfähigen Beteiligten im Verfahren von Gerichts wegen entgegen.

Es ließe sich im vorliegenden Falle die Abweisung der Klage wegen mangelnder Prozeßfähigkeit des Klägers auch nicht etwa ausnahmsweise deshalb rechtfertigen, weil nach den Unterlagen der vom Kläger behauptete ursächliche Zusammenhang seiner Sterilisation mit dem Unfall als unwahrscheinlich anzusehen wäre; denn abgesehen davon, daß einer solchen Entscheidung die Behauptungen eines Prozeßunfähigen zugrunde gelegt werden müßten, wäre dem Kläger nicht in vollem Umfange Gelegenheit gegeben, alle Möglichkeiten einer erfolgversprechenden Führung des Rechtsstreits durch einen ordnungsmäßigen Vertreter (§ 72 SGG) ausschöpfen zu lassen.

Hiernach war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Über die Kosten des Revisionsverfahrens wird im abschließenden Urteil zu entscheiden sein.

Die Beteiligten hatten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Der erkennende Senat hat von dieser Entscheidungsmöglichkeit Gebrauch gemacht (§ 124 Abs. 2 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1984159

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