Entscheidungsstichwort (Thema)

Verweisungstätigkeit. konkrete Benennung. Nennung der Verweisungstätigkeit

 

Orientierungssatz

Die typisierende Behandlung der Verweisungstätigkeiten gestattet durchaus die Verwendung von Gutachten und Auskünften, die in anderen gleichgelagerten Fällen eingeholt wurden. Dies bedeutet, daß zur konkreten Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit nicht in jedem Einzelfall Auskünfte bzw Gutachten eingeholt werden müssen. Es wird vielmehr in der Regel ausreichen, wenn für bestimmte, häufig vorkommende Berufsgruppen (zB Maurer, Schlosser) sowie für häufig vorkommende Leistungseinschränkungen (zB leichte Arbeiten mit weiteren Einschränkungen) einige typische Tätigkeiten ermittel werden, die uU auch Aufschluß darüber geben können, wann die Grenze der Verweisungstätigkeit überschritten wird, weil keine Verweisungstätigkeit mehr benannt werden kann, und damit Berufsunfähigkeit vorliegt.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 14.12.1983; Aktenzeichen L 2 J 2107/81)

SG Mannheim (Entscheidung vom 14.09.1981; Aktenzeichen S 10 J 248/80)

 

Tatbestand

Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit.

Der 1932 geborene Kläger hat den Metzgerberuf erlernt und bis Juli 1955 ausgeübt. Vom 23. April 1956 bis 1. März 1977 war er als angelernter Schweißer und später mit selbständigen Schweiß-und Montagearbeiten sowie als Gruppenführer im Kranlaufkatzen-Bau beschäftigt. Anschließend arbeitete er als Partieführer vorwiegend beim Bau von Schilderbrücken, bis er am 17. April 1979 einen Herzinfarkt erlitt. Auf seinen Antrag leitete die Beklagte Rehabilitationsmaßnahmen ein und bewilligte Übergangsgeld ab 11. Juni 1979. Am 1. Oktober 1979 nahm er bei seinem früheren Arbeitgeber eine Beschäftigung als Elektrohelfer auf. Diese endete am 30. April 1981, weil das Unternehmen in Konkurs ging.

Den im September 1979 wegen der Folgen des Herzinfarktes gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte ab. Klage und Berufung gegen diesen Bescheid blieben ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Mannheim -SG- vom 14. September 1981, Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg -LSG- vom 14. Dezember 1983). In seinem Urteil sah das LSG als bisherigen Beruf des Klägers iS des § 1246 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) den eines Schlossers, weil sich der Kläger in langjähriger Tätigkeit die wesentlichen Kenntnisse und Fähigkeiten angeeignet habe. Diesen Beruf könne er nicht mehr ausüben. Indessen müsse er sich auf eine Tätigkeit als Prüfer bzw Kontrolleur verweisen lassen. In Betracht kämen ein großer Teil der in der Industrie vorkommenden Prüf- oder Kontrolltätigkeiten, die Facharbeitern oder angelernten Arbeitern übertragen und entsprechend entlohnt würden. Hierbei handele es sich in der Regel um körperlich leichte Tätigkeiten, die der Kläger nach seinem Gesundheitszustand noch ausüben könne. Dies ergebe sich aus einem von der Beklagten vorgelegten, in einem anderen Rechtsstreit erstatteten arbeitsmedizinischen Gutachten.

Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger insbesondere eine Abweichung des angefochtenen Urteils von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) dahin, daß das LSG die ins Auge gefaßten Verweisungstätigkeiten nicht daraufhin überprüft habe, welche beruflichen Anforderungen sie stellen, insbesondere ob sie keine längeren betrieblichen Einweisungs- und Einarbeitungszeiten als drei Monate voraussetzten. Die bei den einzelnen Prüf- und Kontrolltätigkeiten gestellten Anforderungen seien sehr unterschiedlich. Es sei zumindest zweifelhaft, ob er in der Lage sei, sich in eine Prüf- oder Kontrolltätigkeit innerhalb von drei Monaten einzuarbeiten und diese vollwertig zu verrichten.

Der Kläger beantragt, 1. das angefochtene Urteil, das Urteil des SG Mannheim vom 14. September 1981 sowie den Bescheid der Beklagten vom 9. Januar 1980 aufzuheben, 2. die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger für die Zeit vom 1. September 1979 bis 12. April 1982 Übergangsgeld und für die Zeit vom 19. Mai bis 8. Juli 1982 sowie ab 3. Oktober 1982 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen, hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Baden-Württemberg zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war. Die vom LSG getroffenen Feststellungen reichen zur Beurteilung des Vorliegens von Berufsunfähigkeit nicht aus.

Nach § 1246 Abs 2 Satz 1 RVO ist ein Versicherter berufsunfähig, dessen Erwerbsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren gesunden Versicherten beträgt. Nach Satz 2 der Vorschrift beurteilt sich dabei die Erwerbsfähigkeit des Versicherten nach allen (objektiv) seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeiten, die ihm (subjektiv) unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Die Änderung des Absatzes 1 dieser Vorschrift sowie die Einfügung eines Abs 2 a durch das Gesetz über Maßnahmen zur Entlastung der öffentlichen Haushalte und zur Stabilisierung der Finanzentwicklung in der Rentenversicherung sowie über die Verlängerung der Investitionshilfeabgabe - Haushaltsbegleitgesetz 1984 - vom 22. Dezember 1983, BGBl I, 1532, berühren diese Voraussetzungen die Berufsunfähigkeit nicht. Hiernach stehen die sogenannten Verweisungstätigkeiten in einer Wechselwirkung zum bisherigen Beruf. Von diesem aus bestimmt sich, welche Verweisungstätigkeiten als zumutbar in Betracht kommen. Deshalb muß er zunächst ermittelt und - da die Verweisbarkeit davon abhängt - nach den vorgenannten Kriterien des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO bewertet werden. Hierzu hat die Rechtsprechung ein Mehrstufenschema entwickelt, das die Arbeiterberufe in verschiedene "Leitberufe" untergliedert, nämlich diejenigen des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters, des "angelernten" und schließlich des ungelernten Arbeiters; grundsätzlich darf der Versicherte nur bis zur jeweils niedrigeren Gruppe verwiesen werden.

Das LSG ist, ohne daß dies rechtlich zu beanstanden wäre, vom Beruf des Schlossers als dem bisherigen Beruf ausgegangen und hat den Kläger dem Leitberuf des Facharbeiters zugeordnet. Es hat festgestellt, daß der Kläger die dafür erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten in langjähriger Tätigkeit erworben hat. An diese Feststellungen ist der Senat gebunden (§ 163 SGG).

Zutreffend hat das LSG den Kläger im Rahmen des Mehrstufenschemas allgemein nur auf Tätigkeiten verwiesen, die nach ihrem qualitativen Arbeitswert einem Anlernberuf entsprechen. Es hat allerdings keine ausreichenden Feststellungen dazu getroffen, welche speziellen Tätigkeiten der Kläger noch ausüben kann. Die Verweisung des Klägers auf Tätigkeiten als Prüfer bzw Kontrolleur ist aufgrund der vom LSG getroffenen Feststellungen zu allgemein gehalten.

Nach der Rechtsprechung des BSG (vgl Urteile vom 28. November 1978 - 5 RKn 10/77 = SozR 2200 § 1246 Nr 36 S 111, vom 15. Februar 1979 - 5 RJ 48/78 = SozR aaO Nr 38, vom 28. Juni 1979 - 4 RJ 70/78 = SozR aaO Nr 45 S 133 und vom 3. Dezember 1980 - 4 RJ 83/79 = SozR aaO Nr 72 S 229) muß mindestens eine Tätigkeit, auf die der Kläger verwiesen werden soll, konkret bezeichnet werden. Hierzu genügt nicht die Beschreibung einzelner Arbeiten oder Arbeitsgänge, erforderlich ist vielmehr die Angabe einer Erwerbstätigkeit, die im Arbeitsprozeß tatsächlich ausgeübt und als Arbeitsplatz - in nicht nur geringfügigem Maße - vorhanden ist, wobei es gleichgültig bleibt, ob er frei ist oder besetzt. Dabei genügt es, eine typisierende Beschreibung des Arbeitsinhalts zu geben, aus der sich erkennen läßt, welche Anforderungen an das Leistungsvermögen sowie an die Kenntnisse und Fähigkeiten des Versicherten gestellt werden (SozR aaO S 229). Diese Ermittlungen müssen sich auch auf den qualitativen Arbeitswert der Verweisungstätigkeit erstrecken (hierzu vgl BSG-Urteil vom 9. Dezember 1981 - 1 RJ 34/80 = SozR 2200 § 1246 Nr 85 S 263 ff), weil davon die soziale Zumutbarkeit im Sinne des Mehrstufenschemas abhängt. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch, daß ein Versicherter nur auf Tätigkeiten verwiesen werden darf, die keine längere Einarbeitungszeit als drei Monate erfordern (BSG Urteil vom 22. September 1977 - 5 RJ 96/76 = SozR 2200 § 1246 Nr 23), wobei Hilfsarbeiten, die nicht mindestens diese Einarbeitungszeit erfordern, einem Facharbeiter nicht zugemutet werden dürfen (BSG Urteil vom 3. Dezember 1980 - 4 RJ 35/80 = SozR aaO Nr 73 S 232).

Das LSG stützt seine Feststellungen auf ein von der Beklagten vorgelegtes, in einem anderen Verfahren erstatteten Gutachten. Gegen diese Verfahrensweise ist nichts einzuwenden; die typisierende Behandlung der Verweisungstätigkeiten gestattet durchaus die Verwendung von Gutachten und Auskünften, die in anderen gleichgelagerten Fällen eingeholt wurden. Dies bedeutet, daß zur konkreten Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit nicht in jedem Einzelfall Auskünfte bzw Gutachten eingeholt werden müssen. Es wird vielmehr in der Regel ausreichen, wenn für bestimmte, häufig vorkommende Berufsgruppen (zB Maurer, Schlosser) sowie für häufig vorkommende Leistungseinschränkungen (zB leichte Arbeiten mit weiteren Einschränkungen) einige typische Tätigkeiten ermittelt werden, die uU auch Aufschluß darüber geben können, wann die Grenze der Verweisungstätigkeit überschritten wird, weil keine Verweisungstätigkeit mehr benannt werden kann, und damit Berufsunfähigkeit vorliegt.

Im vorliegenden Fall hat das LSG den Kläger lediglich auf Prüf- und Kontrolltätigkeiten verwiesen, für die auch Facharbeiter eingesetzt werden. Erforderlich wäre indessen die Benennung eines (typischen) Arbeitsplatzes gewesen und damit verbunden die Feststellung, daß dieser Arbeitsplatz den Kenntnissen und Fähigkeiten des Klägers sowohl in gesundheitlicher als auch in beruflicher Hinsicht entspricht. Dies geht aus dem vom LSG verwendeten Gutachten nicht hervor. Demnach hätte das LSG nicht bei dem ihm vorgelegten Gutachten stehen bleiben dürfen, sondern hätte seine Ermittlungen in der beschriebenen Richtung fortsetzen müssen. Dies kann beispielsweise durch die Heranziehung von Tarifverträgen oder die Einholung von Auskünften bzw Gutachten berufskundlicher Art bei der Arbeitsverwaltung, den Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften sowie den Handwerks- oder Industrie- und Handelskammern geschehen. Diese Sachaufklärung kann der Senat nicht selbst vornehmen, sie wird vielmehr vom LSG nachzuholen sein.

Nach alldem war das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Über die Kosten wird das LSG zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663607

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