Leitsatz (amtlich)

Die Entscheidung der Kassenärztlichen Vereinigung, welcher von mehreren Bewerbern an der Ersatzkassenpraxis beteiligt werden soll, ist nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen; der Klage auf Aufhebung einer solchen Entscheidung muß daher ein Vorverfahren vorangehen.

 

Normenkette

SGG § 79 Fassung: 1953-09-03; EKV-Ä

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30. Oktober 1957 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander Kosten des Revisionsverfahrens nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Klägerin und die Beigeladene bewarben sich um die Beteiligung an der Ersatzkassenpraxis für einen im Jahre 1954 neu errichteten Arztsitz in H. Der Beteiligungsausschuß der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KV.) wählte die Beigeladene aus, weil die Klägerin u. a. die Anforderungen an die Vorbereitungszeit nach § 2 Nr. 6 des Ersatzkassenvertrages vom 12.5.1950 (3 Jahre Ausbildung nach bestandenem Staatsexamen) nicht erfülle (Beschluß vom 18.12.1954). Der Einspruch der Klägerin, mit dem sie geltend machte, sie habe inzwischen weitere 6 Monate Ausbildung als Vertreterin eines Landarztes hinter sich, blieb erfolglos, ebenso ihr Widerspruch gegen den Einspruchsbescheid. Der Berufungsausschuß schloß sich der Stellungnahme des Beteiligungsausschusses an und begründete die Auswahl der Beigeladenen hilfsweise damit, daß diese lebensälter und Kriegerwitwe mit einem Kind sei und deshalb den Vorrang vor der (unverheirateten) Klägerin habe (Beschlüsse vom 14.1. und 12.7.1955). Die dagegen erhobene Klage wurde vom Sozialgericht Karlsruhe abgewiesen: die Vorbereitungszeit der Klägerin, die sich nach dem Recht im Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Verwaltungsentscheidungen bestimme, sei sowohl der Dauer als auch der Art nach unvollständig. Abgesehen davon, sei auch die Bevorzugung der Beigeladenen gegenüber der Klägerin bei Abwägung aller Umstände nicht ermessensfehlerhaft (Urteil vom 4.7.1956). Die Berufung der Klägerin, mit der sie die Aufhebung des Vorderurteils und der Entscheidungen der Beklagten beantragte, wurde vom Landessozialgericht (LSG.) - unter Zulassung der Revision - als unbegründet zurückgewiesen (Urteil vom 30.10.1957).

Das Berufungsgericht hält den Sozialrechtsweg bei Streitigkeiten um die Beteiligung an der Ersatzkassenpraxis für zulässig, und zwar rechnet es diese Streitigkeiten zu den Angelegenheiten des Kassenarztrechts im Sinne des § 51 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG); soweit die angefochtenen Verwaltungsakte (wie hier) allein von der KV. herrührten, sei über sie unter Mitwirkung zweier ärztlicher Beisitzer zu entscheiden. Ob dem gerichtlichen Verfahren ein Vorverfahren vorangehen müsse, könne offen bleiben, da hier ein solches Verfahren stattgefunden habe. Daß der vom Vorstand der Beklagten eingesetzte Berufungsausschuß erst im Jahre 1956 formell von der Delegiertenversammlung der Beklagten in seinem Amte bestätigt und damit zur Widerspruchsstelle im Sinne des § 85 SGG bestimmt worden sei, stehe der Wirksamkeit seiner Entscheidungen nicht entgegen; mindestens sei ein anfänglicher Mangel später geheilt worden. Die Klage sei hiernach zulässig erhoben, jedoch unbegründet. Die Verwaltungsinstanzen hätten die Klägerin mit Recht mangels Erfüllung der Vorbereitungszeit nicht als beteiligungsfähig angesehen. Im Zeitpunkt ihrer Entscheidungen sei "Voraussetzung für die Beteiligung an der Ersatzkassenpraxis in jedem Fall ... eine mindestens dreijährige Vorbereitung nach bestandenem Staatsexamen entsprechend den Anforderungen für die Zulassung zur RVO-Kassenpraxis" gewesen (§ 2 Nr. 6 des Ersatzkassenvertrages). Die Erfüllung dieser Voraussetzung hätte die Klägerin spätestens bis zur Entscheidung des Beteiligungsausschusses (18. 12.1954) nachweisen müssen. Tatsächlich hätten die von ihr vorgelegten Bescheinigungen jedoch nur eine Ausbildungszeit von zusammen höchstens 34 Monaten ergeben. Ob die - seit 1948 niedergelassene und seit 1950 im Arztregister eingetragene - Klägerin vor dem 1.1.1954, dem Tage des Inkrafttretens der Baden-Württembergischen Zulassungsordnung 1953 (ZulO 1953), den Anforderungen für die Zulassung zur RVO-Kassenpraxis und damit möglicherweise den Voraussetzungen für die Beteiligung an der Ersatzkassenpraxis genügt habe, könne dahingestellt bleiben. Selbst wenn dies der Fall gewesen sein sollte, hätten die Instanzen der Beklagten bei ihren Entscheidungen im Jahre 1954 und 1955 die neuen Bestimmungen über die Beteiligungsfähigkeit der Klägerin an der Ersatzkassenpraxis zugrunde legen müssen; denn die ZulO 1953 enthalte insoweit keine Übergangsvorschriften, obwohl das rechtliche Problem (Erhaltung einer einmal erworbenen Zulassungsfähigkeit im Falle späterer Rechtsänderungen) schon früher eine Rolle gespielt habe, dem Gesetzgeber also bekannt gewesen sein müsse. Der abweichenden Auffassung des Baden-Württembergischen Arbeitsministers könne nicht gefolgt werden. Im übrigen sei die Auswahl der Beigeladenen selbst dann, wenn die Klägerin beteiligungsfähig sein sollte, aus den vom Berufungsausschuß hilfsweise angeführten Gründen nicht ermessensfehlerhaft. Die Klägerin gehöre trotz einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 70 % infolge einer Hüftgelenks-Tb nicht zu dem Personenkreis, der durch das Schwerbeschädigtengesetz (SchwBG) geschützt werde, da sie bisher nicht nach § 2 dieses Gesetzes den Schwerbeschädigten gleichgestellt worden sei. Demgegenüber habe die Beigeladene als Kriegerwitwe den Vorrang nach § 36 SchwBG; zudem sei sie lebensälter und habe ein Kind. Die Beteiligungsinstanzen der Beklagten hätten daher der Beigeladenen nach pflichtgemäßem Ermessen den Vorzug vor der Klägerin geben können, obwohl diese Zivilversehrte sei, ihre Approbation früher erhalten habe, vor der Beigeladenen im Arztregister eingetragen worden sei und obgleich sie sich schon vor längerer Zeit niedergelassen und wiederholt um die Beteiligung an der Ersatzkassenpraxis beworben habe.

Die Klägerin wendet sich mit ihrer Revision in erster Linie gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, ihre Beteiligungsfähigkeit sei nach der Rechtslage des Jahres 1954 und nicht nach der Zeit ihrer Niederlassung im Jahre 1948 zu beurteilen. Bis zum Inkrafttreten der ZulO 1953 habe sie die Anforderungen an die Vorbereitungszeit in jedem Falle erfüllt; das neue Recht habe ihr die Zulassungsfähigkeit nicht "rückwirkend" entziehen dürfen. Im übrigen sei auch dem Erfordernis einer 3-jährigen Vorbereitungszeit nach der ZulO 1953 genügt; das LSG. gehe zu Unrecht davon aus, daß ihre mehr als 6-jährige ärztliche Tätigkeit in eigener Praxis und die nach ihrer Niederlassung zurückgelegte Zeit als Vertreterin in fremder Praxis nicht auf die Vorbereitungszeit angerechnet werden dürfe. Schließlich sei die Beigeladene, die eine erhebliche Witwenpension beziehe, ihr bei der Auswahl zu Unrecht vorgezogen worden.

Die beklagte KV. beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Von einer "Rückwirkung" der neuen Zulassungsbestimmungen der ZulO 1953 könne keine Rede sein; eine Anrechnung der nach der Niederlassung zurückgelegten ärztlichen Tätigkeit auf die Vorbereitungszeit sei rechtlich nicht statthaft.

Gegen die Zulässigkeit der vom LSG. zugelassenen Revision bestehen keine Bedenken.

Die Revision ist jedoch nicht begründet. Das Berufungsgericht ist mit Recht von der Zulässigkeit des Sozialrechtsweges ausgegangen. Wie der Senat in der am 30.10.1959 entschiedenen Sache 6 RKa 8/59 näher dargelegt hat, stehen die Mitglieder der KV., auch soweit es sich um die Beteiligung an der Ersatzkassenpraxis handelt, in einem öffentlich-rechtlichen Gewaltverhältnis zur KV. Dabei macht es keinen Unterschied, ob der beteiligte Arzt der KV. auf Grund der Zulassung zur Kassenpraxis als ordentliches Mitglied oder - wie hier - durch Eintragung in das Arztregister zunächst nur als außerordentliches Mitglied angehört. Schon die außerordentliche Mitgliedschaft bewirkt, daß der Arzt der Verbandsgewalt der KV. im Rahmen ihres Wirkungskreises unterworfen ist. Die Entscheidung der KV., welcher von mehreren Bewerbern an der Ersatzkassenpraxis beteiligt werden soll, ist daher als eine hoheitliche Willensäußerung, d. h. als Verwaltungsakt anzusehen. Da dieser Verwaltungsakt in Angelegenheit des Kassenarztrechts im Sinne des § 51 Abs. 2 SGG ergeht, ist die Anfechtungsklage, mit der seine Aufhebung begehrt wird, eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nach § 51 SGG. Das Berufungsgericht hat über den vorliegenden Rechtsstreit auch zutreffend in der Besetzung mit zwei ärztlichen Beisitzern entschieden, denn nach dem Ersatzkassenvertrag vom 12.5.1950 ist allein die KV. für die Auswahl des an der Ersatzkassenpraxis zu beteiligenden Arztes zuständig (vgl. das oben genannte Urteil des Senats).

Dem LSG. ist weiter darin beizutreten, daß ein ordnungsmäßiges Vorverfahren durchgeführt worden ist. Die Notwendigkeit eines Vorverfahrens ergibt sich dabei aus § 79 Nr. 1 SGG, der für Ermessensentscheidungen die Nachprüfung in einem Vorverfahren vorsieht (vgl. BSG. 3, 209 (215)). Die Auswahl unter mehreren Ärzten, die sich um denselben Arztsitz bewerben, stellt auch dann, wenn es sich nicht um die Zulassung zur Kassenpraxis, sondern die Tätigkeit für die Ersatzkassen handelt, eine Entscheidung dar, die "nach pflichtmäßigem Ermessen" zu treffen ist (vgl. § 22 Abs. 1 der Bundeszulassungsordnung vom 28.5. 1957, BGBl. I S. 582).

Das Berufungsgericht hat die Klage schließlich auch mit Recht als unbegründet angesehen. Der Senat braucht in diesem Zusammenhang nicht zu entscheiden, ob die Klägerin, wie das LSG. annimmt, mangels Erfüllung der erforderlichen Vorbereitungszeit überhaupt nicht an der Ersatzkassenpraxis beteiligt werden durfte. Auch wenn dem LSG. insoweit nicht gefolgt werden könnte, sondern mit der Revision von der Beteiligungsfähigkeit der Klägerin auszugehen wäre - beachtlich erscheint vor allem ihr Hinweis, daß die Klägerin nach ihrer Niederlassung noch längere Zeit als Vertreterin in einer fremden Praxis tätig gewesen sei -, würde dies an der Entscheidung des Rechtsstreits im Ergebnis nichts ändern. Denn die angefochtenen Beschlüsse der Beklagten lassen, wie das LSG. ohne Rechtsirrtum ausgeführt hat, keinen Ermessensfehler erkennen.

Da der Ersatzkassenvertrag selbst keine Bestimmungen darüber enthält, nach welchen Grundsätzen die Auswahl unter mehreren Bewerbern vorzunehmen ist, die Beklagte in Ausübung ihrer Satzungsgewalt offenbar bisher auch keine ergänzenden Bestimmungen erlassen hat, kann es allerdings zweifelhaft sein, welche Maßstäbe der Auswahlentscheidung zugrunde zu legen sind. Zu erwägen wäre, die in den Zulassungsordnungen aufgestellten Auswahlgrundsätze mit den dazu ergangenen gerichtlichen Entscheidungen sinngemäß auf das Beteiligungsverfahren nach § 2 des Ersatzkassenvertrages zu übertragen, soweit dabei im Einzelfall eine Auswahl unter mehreren Bewerbern vorzunehmen ist (vgl. auch LSG. Hessen, SGb. 1959 S. 237, das allerdings die für die Zulassung zur RVO-Kassenpraxis geltenden Auswahlgrundsätze für unmittelbar anwendbar hält; dagegen Kälker ebendort). Die Frage bedarf hier indessen keiner abschließenden Erörterung denn die angefochtene Auswahlentscheidung wird bereits durch § 36 SchwBG getragen, auf den sich der Berufungsausschuß der Beklagten zur Begründung seiner Entscheidung hilfsweise berufen hat.

Nach § 36 SchwBG soll u. a. der Witwe eines im Kriege Gefallenen die für die Ausübung eines Berufes erforderliche Zulassung bei fachlicher Eignung und Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen bevorzugt erteilt werden. Diese Vorschrift gilt auch für die Beteiligung an der Ersatzkassenpraxis. Der Berufsbegriff in § 36 SchwBG ist entsprechend dem Zweck der Vorschrift, den durch sie Begünstigten bei Begründung einer selbständigen Berufsposition bestimmte. Vorteile zukommen zu lassen, durch die ihre körperlichen oder sonstigen Benachteiligungen nach Möglichkeit ausgeglichen werden, nicht eng auszulegen (BSG. 6, 95). Zu den nach § 36 SchwBG bevorzugt zu erteilenden Zulassungen gehört daher auch die Beteiligung an der Ersatzkassenpraxis (vgl. BSG. 8, 252 (255)). Da die Beigeladene die Voraussetzungen des § 36 SchwBG erfüllt, waren die Ausschüsse der Beklagten gehalten, sie bei der Entscheidung über die beantragte Beteiligung bevorzugt zu berücksichtigen. Ob und mit welchem "Stellenwert" daneben die für die Klägerin sprechenden Umstände in die Waagschale gelegt werden durften, braucht hier nicht erörtert zu werden. Denn wenn auch § 36 SchwBG - als Sollvorschrift - eine Berücksichtigung anderer gewichtiger Auswahlmerkmale von Mitbewerbern nicht ausschließt, konnten die Verwaltungsinstanzen im vorliegenden Falle, wie das LSG. zutreffend ausgeführt hat, der Beigeladenen die streitige Beteiligung zusprechen, ohne die Grenzen ihres pflichtgemäßen Ermessens zu überschreiten. Da die angefochtenen Beschlüsse somit das Recht nicht verletzen - über ihre Zweckmäßigkeit kann der Senat nicht entscheiden -, war die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Berufungsgerichts als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2391751

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