Leitsatz (amtlich)

Der Versicherungsfall bei der Rente auf Zeit (RVO § 1276 Abs 1) fällt mit dem Eintritt der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit zusammen (Anschluss an BSG 1965-03-05 11/1 RA 239/61 = SozR Nr 2 zu § 1276 RVO; BSG 1965-04-06 4 RJ 239/62 = SozR Nr 3 zu § 1276 RVO).

 

Normenkette

RVO § 1276 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 42 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 18. November 1960 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Die Beteiligten streiten darüber, ob die dem Kläger wegen Erwerbsunfähigkeit zuerkannte Rente auf Zeit (§ 1276 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) gemäß Art. 2 § 42 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) nach dem für den Kläger günstigeren alten Recht zu berechnen ist oder nach dem am 1. Januar 1957 in Kraft getretenen neuen Recht. Da die übrigen Voraussetzungen des Art. 2 § 42 ArVNG erfüllt sind, ist allein Kern des Streits, ob die Anwendung dieser Vorschrift daran scheitert, daß der Kläger für das Jahr 1958 nicht neun Monatsbeiträge entrichtet hat, obwohl die Vorschrift verlangt, daß ab 1. Januar 1957 für jedes Kalenderjahr vor dem Kalenderjahr des Versicherungsfalles für mindestens neun Monate Beiträge entrichtet sind. Der Kläger verneint das. Er meint, der Versicherungsfall für die Gewährung der Rente auf Zeit sei schon eingetreten, als er am 25. September 1958 erwerbsunfähig geworden sei; daher seien für das Jahr 1958 nicht mindestens neun Monatsbeiträge zu entrichten gewesen; ihm stehe folglich die höhere Rente nach altem Recht zu. Die Beklagte nimmt den entgegengesetzten Standpunkt ein, wonach der Versicherungsfall erst mit dem Beginn der 27. Woche nach Eintritt der Erwerbsunfähigkeit, d. h. am 27. März 1959, eingetreten sein und daher die Berechnung der Rente nach altem Recht entfallen soll. Es geht also darum, wann der Versicherungsfall eingetreten ist.

In Literatur und Rechtsprechung sind unterschiedliche Auffassungen über den Eintritt des Versicherungsfalles bei der Rente auf Zeit vertreten worden. Der 11. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat in seinen Urteilen vom 5. März 1965 - 11/1 RA 239/61 - (SozR RVO § 1276 Nr. 2) sowie 11/1 RA 79/62 - nach eingehender Erörterung der Streitfrage ausgesprochen, bei einer wegen vorübergehender Berufsunfähigkeit gewährten Rente auf Zeit sei der Versicherungsfall der Eintritt der Berufsunfähigkeit. Auch der 4. Senat des BSG hat in seinem Urteil vom 6. April 1965 - 4 RJ 239/62 - (SozR RVO § 1276 Nr. 3) dahin entschieden, bei der Rente auf Zeit falle der Versicherungsfall mit dem Eintritt der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit zusammen. Das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung kennt nämlich bei den Fällen der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit nur jeweils einen einheitlichen Versicherungsfall, der immer dann eintritt, sobald die Voraussetzungen der Berufsunfähigkeit (§ 1246 Abs. 2 RVO) oder Erwerbsunfähigkeit (§ 1247 Abs. 2 RVO) erfüllt sind. Die Begriffsbestimmungen der Berufsunfähigkeit und der Erwerbsunfähigkeit in den §§ 1246 Abs. 2, 1247 Abs. 2 RVO werden durch § 1276 Abs. 1 RVO nicht abgeändert. Denn die Vorschrift des § 1276 Abs. 1 RVO bestimmt nichts über den Versicherungsfall und seinen Eintritt, sie trifft lediglich Sonderregelungen für den Beginn, den Wegfall und die Umwandlung der Rente.

Dieser Rechtsprechung des BSG (SozR RVO § 1276 Nr. 2 und 3) tritt der Senat nach Überprüfung der widerstreitenden Auffassungen bei.

Gegenüber dieser Rechtsprechung macht die Revision geltend, daß Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit (§§ 1246, 1247 RVO) nur zu gewähren sei, wenn der Versicherte dauernd berufs- oder erwerbsunfähig sei. Die Vorschrift des § 1246 Abs. 2 RVO besage zwar ausdrücklich nichts darüber, daß der Zustand der Berufsunfähigkeit nur ein dauernder sein dürfe, jedoch sei diese Vorschrift genauso zu verstehen wie diejenige des § 1247 Abs. 2 RVO, in der das Merkmal der Dauer ausdrücklich durch die Worte "auf nicht absehbare Zeit" zum Ausdruck gelangt sei. Die Auffassung des BSG, daß in § 1276 RVO auf den Tatbestand des Versicherungsfalls der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit verwiesen werde und so auch schon einschlußweise für § 1276 RVO die Frage des Eintritts des Versicherungsfalls geregelt sei, sei in sich unauflösbar widersprüchlich. Wenn zum Tatbestand der Erwerbsunfähigkeit die Dauer "auf nicht absehbare Zeit" gehöre, sei es logisch unmöglich, eine Erwerbsunfähigkeit auf absehbare Zeit zu schaffen. Die Begriffe der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit seien in § 1276 RVO nicht als Versicherungsfälle zu verstehen, sondern lediglich als Teiltatbestände der entsprechenden Minderung der Erwerbsfähigkeit. Der Versicherungsfall des Klägers sei daher erst mit dem Beginn der 27. Woche, nach-dem der Kläger erwerbsunfähig geworden sei, eingetreten.

Die Revision vermag auch mit diesen Ausführungen nicht durchzudringen. Sie verkennt, daß die §§ 1246 Abs. 2 und 1247 Abs. 2 RVO nicht etwa die Begriffe "dauernde Berufsunfähigkeit" oder "dauernde Erwerbsunfähigkeit" enthalten, denen in § 1276 Abs. 1 RVO der davon abweichende Begriff der "in absehbarer Zeit" behobenen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit gegenübergestellt wäre. Wenn in § 1276 Abs. 1 RVO die Begriffe Berufs- und Erwerbsunfähigkeit verwendet werden, so ist damit ein jeweils genau umschriebener Zustand, der den Versicherungsfall darstellt, gemeint, dem der Gesetzgeber regelmäßig eine nicht voraussehbare Dauer beimißt, wie auch dadurch erkennbar wird, daß der Gesetzgeber über die Entziehung und Umwandlung von Rente infolge Änderung in den Verhältnissen des Rentners durch § 1286 Abs. 1 RVO eine besondere Regelung getroffen hat. Nur wenn davon abweichend und nicht etwa dazu in Widerspruch stehend der durch die Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit umschriebene Zustand von der Art ist, daß begründete Aussicht besteht, daß die Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit "in absehbarer Zeit" behoben sein wird, also an die Stelle der Ungewißheit der Dauer eine gewisse zeitliche Überschaubarkeit getreten ist, ist § 1276 Abs. 1 RVO anzuwenden. Ohne die Regelung des § 1276 Abs. 1 RVO mit ihrer zusätzlichen Voraussetzung: "Besteht begründete Aussicht, daß die Berufsunfähigkeit oder die Erwerbsunfähigkeit in absehbarer Zeit behoben sein wird", wäre die Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit stets uneingeschränkt zu gewähren.

Da in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des 11. und 4. Senats des BSG (SozR RVO § 1276 Nr. 2 und 3) davon auszugehen ist, daß der Versicherungsfall der Rente auf Zeit mit dem Eintritt der Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit zusammenfällt, bedeutet dies für den Fall des Klägers, daß der Versicherungsfall für die Rente auf Zeit eingetreten ist, als der Kläger am 25. September 1958 erwerbsunfähig geworden ist. Der Kläger war daher nicht gehalten, für das Jahr 1958 Beiträge zu entrichten.

Daraus folgt: Die Beklagte ist verpflichtet, bei der Berechnung der dem Kläger bewilligten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit (§§ 1276, 1247 Abs. 2 RVO) die Vergleichsberechnung gem. Art. 2 § 42 ArVNG vorzunehmen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380180

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