Leitsatz (amtlich)

Die Jahresfrist des RVO § 1635 Abs 1 beginnt, wenn das vorausgegangene Verfahren durch Klagerücknahme beendet worden ist, mit der Rücknahme der Klage.

Der Bescheid, durch den der wiederholte Antrag zurückgewiesen worden ist, ist anfechtbar; die entgegenstehende Vorschrift des RVO § 1635 Abs 2 S 2 ist durch GG Art 19 Abs 4, SGG § 51 Abs 1 derogiert.

 

Normenkette

RVO § 1635 Abs. 1 Fassung: 1924-12-15, Abs. 2 S. 2 Fassung: 1924-12-15; GG Art. 19 Abs. 4 Fassung: 1949-05-23; SGG § 51 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 102 S. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 3. Dezember 1963 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Beklagte hat den wiederholten Antrag des Klägers auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ohne Sachentscheidung zurückgewiesen, weil bei der Antragstellung seit endgültiger Ablehnung des Rentenbegehrens noch kein Jahr verstrichen gewesen sei und der Kläger die Verschlechterung seines Gesundheits- und Kräftezustandes auch nicht - wie es § 1635 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) für einen solchen Fall vorschreibe - glaubhaft gemacht habe (Bescheid vom 18. Mai 1961; Widerspruchsbescheid vom 15. März 1962). - Den ersten Leistungsantrag hatte die Beklagte im Februar 1958 abschlägig beschieden. Diesen Bescheid hatte der Kläger zwar angefochten, die Klage aber unter dem Eindruck des Ergebnisses mehrerer Sachverständigengutachten wieder zurückgenommen. In dem Schriftsatz vom 23. April 1961, in dem er die Zurücknahme der Klage erklärte, brachte er zugleich vor, sein "Gesamtleidenszustand" habe sich "in letzter Zeit verschlechtert"; er bat die Beklagte, abermals über sein Rentenbegehren zu entscheiden. - Von der Klagerücknahme an berechnete die Beklagte die Jahresfrist, innerhalb der sie einen zweiten - ohne Beleg für eine Tatsachenänderung gestellten - Antrag mit dem Hinweis auf die Vorentscheidung begegnen könne.

Der Kläger bekämpft diese Stellungnahme mit dem Argument, daß der erste Rechtsstreit infolge der Klagerücknahme als nicht anhängig anzusehen sei. Folglich könne auch der Lauf der Sperrfrist des § 1635 Abs. 1 RVO nicht als durch die damalige Klage aufgehalten gelten.

In den beiden ersten Rechtszügen wurde der Kläger abgewiesen (Urteil des Sozialgerichts - SG - Berlin vom 30. April 1963; Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Berlin vom 3. Dezember 1963). Das LSG ging ebenso wie der Kläger bei der Lösung des Streitfalles von der Rechtsfolge der Klagerücknahme aus. Es zog aber daraus den gegenteiligen Schluß. Durch § 102 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) werde der Klagerücknahme im Sozialgerichtsprozeß keine Rückwirkung beigelegt. Deshalb treffe die Auffassung der Beklagten zu.

Der Kläger hat die - von dem LSG zugelassene - Revision eingelegt und beantragt, die Beklagte unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile und der angefochtenen Verwaltungsakte zu verurteilen, über den geltend gemachten Rentenanspruch durch Sachentscheidung zu befinden; hilfsweise: den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen. Die Revision meint, das Berufungsurteil werde dem Inhalt des § 1635 Abs. 1 RVO nicht gerecht. Diese Vorschrift spreche davon, daß der Antrag erst ein Jahr, nachdem die Entscheidung zugestellt worden sei, erneuert werden könne. Die Klagerücknahme sei aber keine Entscheidung und dem Kläger nicht zugestellt worden; es müsse daher auf den ablehnenden Verwaltungsakt vom Februar 1958 zurückgegriffen werden.

Die Beklagte hat die Zurückweisung der Revision beantragt. Sie hebt den Zweck des § 1635 Abs. 1 RVO hervor: Dem Mißbrauch der Verwaltungseinrichtungen durch unbegründete Zweitanträge könne wirksam nur entgegengetreten werden, wenn die Abwehrfrist von einem Jahr erst von dem Eintritt der Bindung oder Rechtskraft der ersten Ablehnung an beginne. Allerdings bittet die Beklagte auch zu erwägen, ob § 1635 RVO insgesamt nicht infolge Einführung der sogenannten Generalklausel (Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes - GG -) bedeutungslos geworden sei.

Die Revision des Klägers ist unbegründet.

Die Vorinstanzen haben zu Recht die Bescheide, mit denen die Beklagte den wiederholten Antrag auf Rentenbewilligung abgelehnt hat, auf ihre Rechtmäßigkeit hin geprüft. Zwar erklärt § 1635 Abs. 2 Satz 2 RVO solche Bescheide für unanfechtbar. Diese Gesetzesbestimmung stammt jedoch aus einer Zeit, in der die Akte der Verwaltung nur in den durch das Gesetz aufgeführten Fällen vor einem Gericht angegriffen werden konnten. Durch Art. 19 Abs. 4 GG und mit Einführung der sozialgerichtlichen Generalklausel des § 51 SGG ist § 1635 Abs. 2 Satz 2 RVO gegenstandslos geworden (§ 224 Abs. 3 SGG). Ein auf § 1635 RVO gestützter Verwaltungsakt ist mithin der richterlichen Nachprüfung nicht entzogen.

Dagegen kann den weitergehenden Überlegungen der Beklagten nicht gefolgt werden. Diese meint - gestützt auf Tannen, Deutsche Rentenversicherung 1963, 300 -, für die Abwehrfrist von einem Jahr bestehe nach Wegfall der Unanfechtbarkeitsbestimmung des § 1635 Abs. 2 Satz 2 RVO kein praktisches Bedürfnis mehr. Da die Zurückweisung eines wiederholten Rentenbegehrens durch den Versicherungsträger nunmehr stets mit dem Widerspruch und der Klage angefochten werden könne, sei es nicht sinnvoll, den Streit lediglich auf den formellen Gesichtspunkt zu beschränken, ob der neue Rentenanspruch innerhalb der Jahresfrist wirksam gestellt sei. Der Beklagten ist zuzugeben, daß durch die Rechtswegeröffnung die mit § 1635 Abs. 1 RVO bezweckte Entlastung der Verwaltungsstellen und Gerichte nicht mehr in dem ursprünglich vorgesehenen Maße erreicht wird. Gleichwohl kann diese Verfahrensschranke auch jetzt noch bei einem angemessenen Gebrauch zu einem brauchbaren Mittel der erleichterten Verteidigung gegen voreilige Inanspruchnahmen der Verwaltung benutzt werden.

In der Sache selbst haben die Instanzgerichte zutreffend entschieden, daß die Beklagte befugt war, eine Einlassung auf den zum zweiten Mal erhobenen Anspruch zu verweigern. Der neue Antrag fiel in die einjährige Frist des § 1635 Abs. 1 RVO. Diese Frist wurde mit der Erklärung der Klagerücknahme gegenüber dem Sozialgericht in Lauf gesetzt.

Allerdings bezieht sich dem ersten Anschein nach die Zeitbestimmung des § 1635 Abs. 1 RVO nicht darauf, daß das frühere Verfahren durch eine Erklärung des Antragstellers selbst beendet worden ist. Nach dem Wortlaut des Gesetzes ist es für den Fristbeginn sogar unerheblich, wann die Ablehnung des ersten Antrages "endgültig" geworden ist. Als maßgeblich wird vielmehr, wenn man sich an den Text des Gesetzes hält, "die Zustellung der Entscheidung" und nicht der Eintritt ihrer Bindungswirkung bezeichnet. Müßte man § 1635 Abs. 1 RVO streng wortgetreu verstehen, so dürfte man es bei der Klagerücknahme jedenfalls nicht auf die Zeit der Erklärung abstellen. Denn nicht in der Rücknahme der Klage, sondern in dem Verwaltungsakt des Versicherungsträgers läge die "endgültige Ablehnung". Es bliebe mithin übrig, die Klagerücknahme dem § 1635 Abs. 1 RVO gar nicht unterzuordnen. Zu einer solchen Deutung zwingt aber schon nicht die Gesetzesfassung und sicher läge sie nicht in der erkennbaren Absicht des Gesetzgebers.

Der Anfang der Zeitspanne, innerhalb welcher der Antrag nur bedingt erneuert werden kann, fällt nicht immer unmittelbar mit der Endgültigkeit der Ablehnung, also ihrer formellen Bindung oder Rechtskraft, zusammen, sondern ist an die Zustellung der dies aussprechenden Entscheidung gekoppelt. Das hat zur Folge, daß die Frist eines an sich gegebenen, aber nicht eingelegten Rechtsmittels oder Rechtsbehelfs in die Jahresfrist miteingerechnet wird. Zu dieser Regelung mag sich der Gesetzgeber um der Klarheit und Eindeutigkeit willen entschlossen haben; das Datum der Zustellung einer Entscheidung springt deutlicher in die Augen als der Zeitpunkt, in dem sich ihre formelle Bindung oder Rechtskraft vollendet. Eine weitergehende Folgerung ist aber aus dieser Regelung nicht zu ziehen. Dem Umstand, daß die Jahresfrist von der Zustellung an rechnet, kommt lediglich eine rechtstechnische, für den Inhalt der Norm nur untergeordnete Bedeutung zu. Nur wenn sich die Zustellung direkt auf den das Verfahren abschließenden Verwaltungsakt oder Richterspruch bezieht, ist sie von Belang. Das kam in § 120 des Invalidenversicherungsgesetzes vom 13. Juli 1899 der Vorschrift, aus der § 1635 RVO hervorgegangen ist, noch deutlicher zum Ausdruck. Dort hieß es, daß die Abwehrfrist von der "Zustellung der endgültigen Entscheidung" an laufe. An dieser Regelung hat sich durch die spätere redaktionelle Neufassung nichts geändert. Solange eine Entscheidung infolge der Hemmungswirkung eines Rechtsmittels oder Rechtsbehelfs nicht formell verbindlich wird, kommt auch die Jahresfrist nicht in Gang. In diesem Sinne hat bereits das RVA in AN 1905, 285 erkannt; es hat das Wort "endgültig" schlechthin mit "nicht mehr anfechtbar" gleichgesetzt und von dieser Gleichsetzung auch für das Revisionsverfahren keine Ausnahme gemacht, obgleich das Revisionsgericht in der Regel an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden ist, spätere Tatsachenänderungen also nicht zu beachten hat. An dieser Auslegung hat der Gesetzgeber bei der Kodifikation des Sozialversicherungsrechts in der RVO keinen Anstoß genommen. Sie kann deshalb als gebilligt und gesichert gelten. In ihr tritt allgemein als der Gedanke des Gesetzes hervor, daß der Versicherungsträger nicht genötigt sein soll, sich schon bald wieder mit einem Rentenbegehren befassen zu müssen, das erst kürzlich Gegenstand von Verhandlungen und Ermittlungen gewesen ist. Dieser Gedanke gilt nicht minder im Falle der Klagerücknahme, vorausgesetzt freilich, daß der Kläger seine Klage fallen ließ in einer Sache, in der der Rentenanspruch wegen der Frage nach der Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit streitig war.

Bei einer anderen Interpretation würde der Zweck des § 1635 Abs. 1 RVO nur unvollkommen erreicht. Die Verfahrensbeendigung durch eine Entscheidung mag die vom Gesetzgeber allein ins Auge gefaßte Situation gewesen sein. Dem Versicherungsträger muß aber auch sonst die Einrede aus § 1635 Abs. 1 RVO gestattet sein, wenn er gegen eine vorzeitige Erneuerung zurückgewiesener Rentenforderungen geschützt werden soll. Daß dies die Sorge des Gesetzgebers war und daß der Gesetzgeber diesen Gedanken nicht nur auf einen Teilanwendungsbereich verwirklicht sehen wollte, ergeben die Beratungen über den Entwurf einer RVO (Bericht der 16. Reichstagskomm . über den Entwurf einer RVO, Nr. 340 der Drucksachen - 1909/1911 - VI S. 138 f). Die vom Gesetzgeber ersichtlich gewollte Lösung darf nicht auf einem Teilgebiet an einem zu engen Gesetzesverständnis scheitern.

Mit dieser Auffassung wird nicht gegen den Grundsatz verstoßen, daß zeitlich fest umgrenzte Befristungen sich im allgemeinen nicht für eine analoge Rechtsanwendung eignen. Dieser Grundsatz beruht auf der Erwägung, daß bei solchen Fristen kaum jemals gesagt werden kann, sie beruhten auf einem der Verallgemeinerung zugänglichen Rechtsgedanken. Aus dem allgemeinen Rechtsgedanken wäre aber gerade die Analogie, nämlich die Übernahme eines für einen ähnlichen Tatbestand geschaffenen Rechtssatzes auf die gegebene Sachlage zu rechtfertigen. Hier steht indessen nicht analoge, sondern sinngemäße und unmittelbare Gesetzesanwendung in Frage. Der Kerntatbestand des Satzes, der es auf die Endgültigkeit einer Rentenablehnung oder -entziehung abstellt, ist hier - bei der Klagerücknahme - wie dort -- bei einer abschließenden Entscheidung - gleichermaßen verwirklicht. Lediglich im Zusammenhang mit seiner Rechtsfolgeanordnung knüpft das Gesetz an tatsächliche Bedingungen an, die mit den Gegebenheiten der Klagerücknahme nicht übereinstimmen. In dieser Beziehung ist die Norm dem konkreten Sachverhalt anzupassen. Die hier in Rede stehende Gesetzesbestimmung über den zeitweiligen Verlust der unbegrenzten Antragsbefugnis hat eine nur geringe Tragweite und entspricht einem Bedürfnis der Versicherungsträger nach Schutz vor unnötiger Verwaltungsarbeit, so daß die ausdehnende Auslegung des § 1635 RVO angängig und angebracht erscheint. Es liegt jedenfalls näher, die Rechtsfolgeanordnung dieser Vorschrift auf die Klagerücknahme zu erstrecken, als aus der Gesetzesfassung auf die Notwendigkeit einer anderen rechtlichen Beurteilung zu schließen.

Dieses Ergebnis folgt aus der Sinnerklärung des § 1635 Abs. 1 RVO. Es hat an sich nichts mit den Wirkungen der Klagerücknahme im allgemeinen zu tun, wenngleich es sich auch damit verträgt. Im Gegensatz zur Regelung ... in der Zivilprozeßordnung beseitigt im sozialgerichtlichen Verfahren die Klagerücknahme nicht rückwirkend die Folgen der Rechtshängigkeit. Vielmehr erledigt sie hier mit Jetztwirkung den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 102 Satz 2 SGG). Wollte man aus dieser Bestimmung eine Nutzanwendung für § 1635 Abs. 1 RVO ziehen, so gelangte man zu einem Resultat, das mit der hier vertretenen Auffassung übereinstimmte. Das hat jedenfalls in einem Falle wie dem vorliegenden zu gelten, in dem zur Zeit der Klagerücknahme die Klagefrist des § 87 Abs. 1 SGG abgelaufen war und damit eine zweite Klage gegen die angefochtenen Verwaltungsakte nicht mehr fristgerecht hätte erhoben werden können. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob der materiell-rechtliche Anspruch der Gegenstand der ersten zurückgenommenen Klage gewesen war, trotz der aus § 102 Satz 2 SGG folgenden Hauptsacheerledigung überhaupt Streitobjekt einer nochmals erhobenen Anfechtungsklage sein könnte. Diese Frage ist offen, braucht hier jedoch nicht erörtert zu werden.

Den Urteilen der Vorinstanzen ist sonach im Ergebnis beizupflichten. Die Revision des Klägers ist mit der auf § 193 SGG beruhenden Kostenentscheidung zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2379943

BSGE, 147

NJW 1965, 2222

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