Entscheidungsstichwort (Thema)

wehrdiensteigentümliche Verhältnisse. Begriff. Abgrenzung zum Zivilleben. militärärztliche Behandlung. Umfang. Sorgfaltspflicht. Folgen der Verletzung der Sorgfaltspflicht. Fürsorgepflicht bei Selbstmordgefahr

 

Orientierungssatz

1. Zur Frage, ob eine Psychose und Verletzungen, die sich ein Soldat im akuten Schub der Psychose bei einem durch die Bundeswehr veranlaßten Arztbesuch nach einem Sprung aus dem Fenster zugezogen hat, als Wehrdienstbeschädigung anzuerkennen sind.

2. Zum Umfang der truppenärztlichen Behandlung und der Sorgfaltspflicht des Truppenarztes.

 

Normenkette

SVG §§ 80, 81 Abs. 1, 2 Nr. 2

 

Verfahrensgang

SG Landshut (Entscheidung vom 20.07.1984; Aktenzeichen S 11 V 222/82)

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 09.08.1988; Aktenzeichen L 15 V 276/84)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob eine Psychose und Verletzungen, die sich der Kläger im akuten Schub der Psychose bei einem durch die Bundeswehr veranlaßten Arztbesuch nach einem Sprung aus dem Fenster zugezogen hat, als Wehrdienstbeschädigung (WDB) anzuerkennen sind.

Der Kläger leistete vom 1. Juli 1980 bis zum 15. August 1981 als Wehrpflichtiger Dienst in der Bundeswehr. Wegen plötzlicher psychischer Auffälligkeiten wurde er zunächst im Sanitätsbereich seiner Einheit behandelt. Am 25. November 1980 sollte er sich auf Veranlassung des Truppenarztes in Begleitung eines Sanitätsdienstgrades bei einer niedergelassenen Ärztin für Neurologie und Psychiatrie zur Weiterbehandlung vorstellen. Als der Begleitsoldat während der Wartezeit in der Praxis kurz das Wartezimmer verließ, sprang der Kläger im akuten Schub einer Psychose aus dem in der 3. Etage gelegenen Fenster des Wartezimmers. Dadurch zog er sich schwere Verletzungen zu.

Seinen Antrag auf Anerkennung der verbliebenen Gesundheitsstörungen als WDB lehnte der Beklagte ab, weil die erlittenen Verletzungen Folge der Psychose seien, die wiederum wehrdienstunabhängig entstanden sei (Bescheid vom 9. November 1982). Klage und Berufung blieben erfolglos (Urteil des Sozialgerichts -SG- vom 20. Juli 1984; Urteil des Landessozialgerichts -LSG- vom 9. August 1988). Das LSG hat ausgeführt, der Kläger habe keine WDB erlitten, weil die Ursache der Verletzungen, eine endogene Psychose des schizophrenen Formenkreises, nicht auf Einflüsse des Wehrdienstes zurückgeführt werden könne. Der Sturz selbst sei keine Dienstverrichtung und kein Unfall während der Ausübung des Wehrdienstes, weil er keinerlei Bezug zum Wehrdienst gehabt habe. Der Kläger sei auch nicht wehrdiensteigentümlichen Verhältnissen zum Opfer gefallen. Als Soldat habe er zwar die truppenärztliche Behandlung ohne freie Arztwahl in Anspruch nehmen müssen. Die Gesundheitsschäden seien aber nicht durch eine Behandlungsmaßnahme der Truppenärzte oder durch eine Verletzung der Fürsorgepflicht entstanden, was allein einen Anspruch auf Entschädigung begründen würde. Die Truppenärzte hätten den Kläger ordnungsgemäß behandelt und keine Anzeichen für eine Selbstgefährdung gesehen. Sie hätten den Kläger zur weiteren Befundabklärung, wie ein niedergelassener Arzt im Zivilleben, einem Facharzt überwiesen. Daß der Begleitsoldat nicht angewiesen worden sei, den Kläger ständig zu beobachten, könne nicht als Verletzung der Fürsorgepflicht gewertet werden; eine Überwachung dieses Umfanges wäre auch im zivilen Leben und selbst bei stationärer Aufnahme des Klägers in ein Krankenhaus nicht gewährleistet gewesen. Auch sonstigen Angehörigen der Bundeswehr könne keine Pflichtverletzung angelastet werden, die zu dem Fenstersturz beigetragen habe. Die Vorgesetzten hätten das Erforderliche veranlaßt. Der Begleitsoldat habe aus dem Verhalten des Klägers nicht erkennen können, daß dieser in einem unbewachten Augenblick aus dem Fenster springen werde.

Mit der vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Revision wendet sich der Kläger in erster Linie gegen die Annahme des LSG, die erlittenen Verletzungen seien nicht auf wehrdiensteigentümliche Verhältnisse zurückzuführen. Wehrdiensteigentümlich sei es vielmehr, daß die Soldaten auf die Behandlung durch Truppenärzte angewiesen seien, die keine ausreichende Berufserfahrung hätten. Ein erfahrener Arzt hätte die mit den psychischen Störungen verbundene Selbstmordgefahr erkannt und eine lückenlose Aufsicht gewährleistet. Die Truppenärzte hätten es versäumt, den Begleitsoldaten anzuweisen, ihn, den Kläger, ständig zu beobachten. Auch die Psychose selbst müsse als durch wehrdiensteigentümliche Verhältnisse verursacht angesehen werden, weil vor der Wehrdienstzeit Krankheitssymptome nicht aufgetreten seien.

Der Kläger beantragt

unter Aufhebung der angefochtenen Urteile und des angefochtenen Bescheides den Beklagten zu ver-

urteilen, eine psychotische Erkrankung und die Sturzverletzungen als WDB anzuerkennen und entsprechende Versorgung ab 1. September 1981 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beigeladene zu 1) schließt sich dem Kläger, die Beigeladene zu 2) dem Beklagten an.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet, soweit sie die Anerkennung der endogenen Psychose als WDB betrifft. Daß die Erkrankung des Klägers erstmalig während des Wehrdienstes aufgetreten ist, reicht zur Anerkennung als WDB nicht aus. Das LSG hat zu Recht geprüft, ob die Umstände des Wehrdienstes wesentlich an dem Ausbruch der Erkrankung mitgewirkt haben. Gegen seine Feststellung, daß dies nicht der Fall sei, weil Erkrankungen dieser Art nach dem gegenwärtigen Stand der medizinischen Wissenschaft in erster Linie auf ererbte Faktoren zurückzuführen seien und der Kläger keinen besonderen Belastungen im Wehrdienst ausgesetzt gewesen sei, die das Ausbrechen der Krankheit wesentlich hätten beeinflussen können, hat die Revision keine Rügen erhoben. Das Revisionsgericht ist an diese Feststellung deshalb gebunden (§ 163 SGG).

Im übrigen ist die Revision im Sinne einer Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet. Die Folgen des Fenstersturzes sind als WDB anzuerkennen, und dem Kläger ist eine entsprechende Versorgung zu gewähren. Weil nähere Feststellungen über Art und Umfang der Schädigungsfolgen sowie die daraus resultierende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) noch nicht getroffen worden sind, ist dem Senat eine abschließende Entscheidung nicht möglich.

Nach § 80 Soldatenversorgungsgesetz -SVG- (idF vom 9. Oktober 1980 - BGBl I 1957 -) erhält ein Soldat, der eine WDB erlitten hat, nach Beendigung des Wehrdienstverhältnisses wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der WDB auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Wehrdienstbeschädigung ist nach § 81 Abs 1 SVG eine gesundheitliche Schädigung, die durch eine Wehrdienstverrichtung, durch einen während der Ausübung des Wehrdienstes erlittenen Unfall oder durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden ist. Nach § 81 Abs 2 Nr 2 Buchst a und b SVG ist eine Wehrdienstbeschädigung auch eine Schädigung durch einen Unfall, den der Beschädigte auf dem Weg zu oder bei der Durchführung einer Maßnahme der Heilbehandlung erleidet.

Es kann offenbleiben, ob der Kläger trotz seiner krankheitsbedingten Dienstunfähigkeit Wehrdienst verrichtet hat, als er zu Schaden kam und ob er einen Unfall während des Dienstes oder im Zusammenhang mit einer Heilmaßnahme erlitten hat, als er aus innerem unwiderstehlichen Drang aus dem Fenster sprang (zum Arbeitsunfall aus innerer Ursache vgl BSG SozR 2200 § 48 Nrn 75, 81). Der Kläger hat jedenfalls eine Schädigung durch die den Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse erlitten, obwohl der Sprung aus dem Fenster durch innere, wehrdienstunabhängige Ursachen ausgelöst worden ist. Wehrdiensteigentümliche Umstände waren für die schweren Verletzungen des Klägers wesentlich mitursächlich, weil sich der Kläger im Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit in der Obhut der Bundeswehr befunden hat und die schweren Folgen nicht zwangsläufig und schicksalhaft eingetreten sind, sondern objektiv vermeidbar waren.

Wehrdiensteigentümliche Verhältnisse sind nach der ständigen Rechtsprechung (vgl BSG SozR 3200 § 81 Nrn 20, 30, 31) solche, die der Eigenart des Dienstes entsprechen und eng mit ihm verbunden sind, also alle nicht näher bestimmbaren Einflüsse des Wehrdienstes, die sich aus der besonderen Rechtsnatur dieses Verhältnisses mit ihrer weitgehenden Beschränkung der persönlichen Freiheit des Soldaten ergeben. Nicht erforderlich ist hingegen, daß diese typischen Besonderheiten des Wehrdienstes auch mit einer besonderen Gefährdung einhergehen, die im Zivilleben nicht vorkommt. Die Feststellung des LSG, daß die Verletzungen des Klägers auch im Zivilleben hätten eintreten können, weil auch dort eine lückenlose Überwachung geistesgestörter Personen nicht immer gewährleistet sei, ist rechtlich ohne Bedeutung, denn mit dieser Begründung läßt sich eine Unfallschädigung durch wehrdiensteigentümliche Verhältnisse nicht verneinen. Anders ist das nur, wenn unfallunabhängige Erkrankungen während des Wehrdienstes auftreten, deren konkrete Ursache unbekannt ist und die ebenso im Zivilleben auftreten. Dann bedarf es der Feststellung von dazu geeigneten außergewöhnlichen, über die durchschnittlichen Belastungen des Zivillebens hinausgehenden Belastungen durch den Wehrdienst, um Gesundheitsstörungen nicht als schicksalhaft dem allgemeinen Lebensrisiko, sondern dem versorgungsrechtlich geschützten Bereich des Wehrdienstes zuzuordnen (vgl BSG SozR 3200 § 81 Nr 1). Liegen hingegen Gesundheitsstörungen vor, die auf ein bestimmtes äußeres Geschehen in Zusammenhang mit dem Wehrdienst zurückgeführt werden können, kann die erforderliche Abgrenzung der Risikobereiche nicht in der Weise getroffen werden, daß gefragt wird, ob ähnliche Vorfälle auch im Zivilleben vorkommen können. Damit würden Schadensereignisse aus dem versorgungsrechtlichen Schutz herausgenommen und dem zivilen Haftungsrecht zugeordnet, was nach dem Willen des Gesetzgebers vermieden werden soll, damit nicht Haftungsfragen zwischen Kameraden geklärt werden müssen. Der versorgungsrechtliche Schutz soll den Soldaten nicht nur gegen typische Risiken des Wehrdienstes, sondern gegen alle Risiken schützen, die im Zusammenhang mit dem Wehrdienst stehen. Auf Verschulden kommt es hier grundsätzlich nicht an. Sofern keine vorsätzlich unerlaubte Handlung vorliegt, will das Gesetz durch den Ausschluß von sämtlichen Ansprüchen außerhalb des SVG gegen öffentlich-rechtliche Dienstherren und deren Dienstangehörige (§ 91a SVG) interne Auseinandersetzungen über das Verschulden von Vorgesetzten, Kameraden und Militärärzten im Interesse eines spannungsfreien Dienstbetriebes vermeiden. Auch Ermittlungen über das eigene Verschulden des Geschädigten, die im zivilen Haftungsrecht (vgl § 254 BGB) erforderlich wären, haben zu unterbleiben, wenn nicht eine absichtliche Selbstschädigung in Betracht kommt (§ 81 Abs 6 SVG).

Wehrdiensteigentümliche Verhältnisse haben zu den schweren Verletzungen des Klägers wesentlich beigetragen. Diese Beurteilung ist durch die Besonderheiten der militärärztlichen Behandlung gerechtfertigt. Die Besonderheit der freien Heilfürsorge, die der Staat den Soldaten gewährt, besteht darin, daß er sich eigenen medizinischen Personals und eigener Behandlungseinrichtungen bedient. In diesem Behandlungswesen gilt allgemein das militärdiensteigentümliche Befehls- und Gehorsamsverhältnis, abgesehen von Grenzen der Operationsduldungspflicht. Soweit die Bundeswehrärzte in Einzelfällen Soldaten niedergelassenen zivilen Ärzten zur Behandlung überweisen, erstreckt sich die Gehorsamspflicht der Soldaten, die in besonderer Weise für ihre Gesundheit zu sorgen haben, auch in diesen zivilen Bereich hinein. Schädigungen durch militärärztliche Behandlungen sind von der Rechtsprechung stets als durch wehrdiensteigentümliche Umstände verursacht angesehen worden, wenn sich der Zwang, im Rahmen der truppenärztlichen Versorgung (§ 30 Soldatengesetz, § 69 Abs 2 Satz 1 Bundesbesoldungsgesetz) den behandelnden Arzt nicht frei wählen zu können, auf das Eintreten einer gesundheitlichen Schädigung ausgewirkt hat, etwa durch unsachgemäße ärztliche Behandlung (BSG SozR 3200 § 81 Nr 16) oder durch unzureichende Aufklärung über alle Behandlungsrisiken (BSG SozR 3200 § 81 Nr 20). Hierbei muß nicht festgestellt werden, daß nach zivilrechtlichen Maßstäben eine Verletzung der ärztlichen Aufklärungspflicht als Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit des Heileingriffs vorliegt und der ärztliche Eingriff selbst entgegen den Regeln der ärztlichen Kunst vorgenommen worden ist. Als Ausgleich für den Zwang, sich truppenärztlicher Behandlung zu unterziehen, reicht es für den versorgungsrechtlichen Schutz gegen die Risiken einer solchen Behandlung aus, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, daß bei freier Arztwahl die konkret eingetretene Schädigung in dieser Form nicht eingetreten wäre, das Krankheitsgeschehen damit keinen unabänderlichen, schicksalhaften Verlauf genommen hat.

Zu der truppenärztlichen Behandlung gehören nicht nur die eigentlichen medizinischen Maßnahmen am Patienten, sondern auch die Veranlassung der weiteren Maßnahmen, wenn die eigenen Behandlungsmöglichkeiten des Truppenarztes erschöpft sind. Der Truppenarzt muß aufgrund seiner dienstlichen Fürsorgepflicht (§ 31 Soldatengesetz) ebenso wie der niedergelassene Allgemeinarzt aufgrund des Behandlungsvertrags einen Facharzt zu Rate ziehen oder den Patienten ins Krankenhaus einweisen. Das haben die Truppenärzte hier auch pflichtgemäß getan. Sofern es der gesundheitliche Zustand erfordert, ist aber auch dafür zu sorgen, daß dies ohne vermeidbare Gefährdung für den Patienten geschieht. Der erkennende Senat hat bereits entschieden, daß der Truppenarzt einen an einer psychischen Erkrankung leidenden Soldaten an einen Facharzt zu überweisen und ihn bis dahin zu überwachen hat, um eine Selbstgefährdung auszuschließen (BSG vom 13. Dezember 1984 - 9a RVs 2/83 - Der Versorgungsbeamte 1985, S 83). Im Falle des Klägers haben die behandelnden Truppenärzte zwar die Notwendigkeit einer weiteren fachärztlichen Behandlung erkannt; sie haben aber nicht, obwohl dies bei dem Krankheitsbild des Klägers objektiv erforderlich war, für eine ausreichende Beaufsichtigung gesorgt. Dazu hätte entweder eine ärztliche Begleitung gehört, oder zumindest angeordnet werden müssen, daß der begleitende Sanitäter den Kläger wegen akuter Selbstmordgefahr nicht aus den Augen läßt. Bei ausreichender Beobachtung wäre der Sprung des Klägers aus dem Fenster mit hoher Wahrscheinlichkeit zu verhindern gewesen. Unerheblich ist, ob die behandelnden Truppenärzte die Gefahr der Selbstschädigung nicht erkannt oder unterschätzt haben und ob ihnen oder dem begleitenden Sanitäter oder militärischen Vorgesetzten eine Pflichtverletzung vorgeworfen werden kann. Entscheidend ist, daß die schweren Verletzungen des Klägers nicht nur Folgen seiner schicksalhaften Erkrankung, sondern ebenso auch Folgen einer objektiv unzureichenden truppenärztlichen Betreuung waren. Das genügt, um einen Anspruch auf Versorgung zu begründen.

Welche Schädigungen der Kläger im einzelnen erlitten hat und wie hoch die darauf beruhende MdE ist, hat das LSG wegen seiner abweichenden Rechtsauffassung nicht festgestellt. Diese Feststellungen sind nunmehr nachzuholen. Abschließend wird das LSG auch über die Kosten des Verfahrens, einschließlich des Revisionsverfahrens, zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1175064

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