Orientierungssatz

Unfallversicherungsschutz bei Fahrt zur Anbahnung eines neuen Arbeitsverhältnisses:

1. Die Meldepflicht nach dem AFG ist eine zwingende Voraussetzung für den Versicherungsschutz aufgrund des § 539 Abs 1 Nr 4 RVO (vgl BSG 31.1.1974 2 RU 169/72 = SozR 2200 § 550 Nr 1).

2. Der Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 4 gilt nicht für Personen, die ohne Aufforderung des Arbeitsamts einen Unternehmer zur Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses aufsuchen.

3. Verrichtungen und Wege, die mit der Arbeitssuche und Verhandlungen über den Abschluß eines Arbeitsvertrages zusammenhängen, sind grundsätzlich dem eigenwirtschaftlichen unversicherten Bereich des Arbeitsuchenden zuzurechnen.

4. Weder die Erfüllung einer Fürsorgepflicht des Arbeitgebers, noch seine Pflicht zur Sicherung des Betriebsfriedens oder das öffentliche Ansehen des Arbeitgebers können als ausreichend angesehen werden, die grundsätzlich zum unversicherten privaten Bereich des Beschäftigten gehörenden Bemühungen um einen anderen Arbeitsplatz rechtlich der Tätigkeit im Unternehmen zuzuordnen, da diese Interessen bei jeder betriebsbedingten Kündigung von Arbeitnehmern gegeben sind, ohne daß deshalb nach der ständigen Rechtsprechung des BSG bei der privaten Stellensuche Versicherungsschutz aufgrund des noch bestehenden oder beendeten Beschäftigungsverhältnisses gegeben ist.

 

Normenkette

RVO § 550 Abs. 1, § 539 Abs. 1 Nr. 4; BGB § 629

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 14.11.1984; Aktenzeichen L 3 U 1033/83)

SG Gießen (Entscheidung vom 11.08.1983; Aktenzeichen S 3 U 139/82)

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt eine Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Ihr im Jahre 1923 geborener Ehemann Emil B. ist am 2. Februar 1982 gegen 9.15 Uhr mit seinem Personenkraftwagen (PKW) auf der Rückfahrt von einem Vorstellungsgespräch zu seiner Arbeitsstätte tödlich verunglückt. Er war gelernter Schlosser und in den letzten Jahren als stellvertretender Magazinverwalter bei der A.-Z. "W." (AZW) in F. beschäftigt. Die AZW hatte ihm wegen Betriebseinstellung zum 31. März 1982 gekündigt. Am Unfalltag hatte er um 7.00 Uhr seine Arbeit begonnen, diese aber zur Bewerbung um eine Stelle als Magazinverwalter auf Vermittlung der AZW bei der Firma F. AG in O., einem Mitgliedsunternehmen der beigeladenen Berufsgenossenschaft (BG) der chemischen Industrie (Beigeladene zu 1), unterbrochen. Für die Zeit der Vorstellung war er bei voller Lohnfortzahlung beurlaubt. Ein Arbeitsvertrag mit der Firma F. AG wurde nicht abgeschlossen, der Ehemann der Klägerin sollte aber in die engere Wahl genommen werden.

Die Beklagte lehnte Hinterbliebenenentschädigung ab, da Verrichtungen und Wege, die der Arbeitsuche dienten, mit der Tätigkeit im Unternehmen nicht in einem ursächlichen Zusammenhang stünden. Der Ehemann der Klägerin sei auch nicht aufgrund einer Aufforderung des Arbeitsamts zur Vorstellung gefahren (Bescheid vom 25. Juni 1982).

Das Sozialgericht (SG) Gießen hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 11. August 1983). Das Landessozialgericht (LSG) hat die BG der chemischen Industrie und die Bundesanstalt für Arbeit (BA) beigeladen und auf die Berufung der Klägerin unter Aufhebung des Urteils des SG und des angefochtenen Bescheides die Beklagte verurteilt, der Klägerin vom 2. Februar 1982 an Hinterbliebenenrente zu gewähren (Urteil vom 14. November 1984). Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Der tödliche Unfall des Ehemannes der Klägerin sei ein Arbeitsunfall. Leistungspflichtig sei allerdings nicht die Beigeladene zu 1), da bei der Firma F. eine Beschäftigung nicht aufgenommen und auch nicht ein Beschäftigungsverhältnis zwecks unmittelbarer Arbeitsaufnahme begründet worden sei. Die Beigeladene zu 2) sei nicht zuständig, da die Voraussetzungen des § 539 Abs 1 Nr 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht vorlägen. Die Unfallfahrt sei dem damaligen Mitgliedsunternehmen der Beklagten (AZW) - jetzt S.-AG- zuzurechnen, so daß die Beklagte zur Gewährung der im Berufungsverfahren allein noch begehrten Witwenrente verpflichtet sei. Der Ehemann der Klägerin habe sich im Unfallzeitpunkt auf einem mit seiner versicherten Tätigkeit bei der AZW zusammenhängenden Weg nach dem Ort der Tätigkeit (§ 550 Abs 1 RVO) befunden. Dem stehe nicht entgegen, daß der Ehemann der Klägerin am Unfalltag ein zweites Mal den Ort der Tätigkeit aufgesucht habe. Der Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO sei nicht auf täglich nur einen Weg beschränkt. Der Weg zur erneuten Arbeitsaufnahme müsse seinen rechtlich wesentlichen inneren Grund in dem Beschäftigungsverhältnis haben. Dies sei hier der Fall, auch wenn grundsätzlich die Arbeitsplatzsuche dem unversicherten privaten Bereich eines Versicherten zuzurechnen sei. Der vorliegende Fall unterscheide sich grundlegend von den bisher vom Bundessozialgericht (BSG) entschiedenen Fällen. Weder habe die Firma F. den Ehemann der Klägerin zur Bewerbung aufgefordert, noch sei diese allein aufgrund eigener Initiative erfolgt. Vielmehr habe sich der Ehemann der Klägerin nicht nur auf Vermittlung der AZW, sondern auf deren Aufforderung beworben. Der damalige technische Direktor der AZW - der Zeuge Dr. K. (K.) - habe den Ehemann der Klägerin eindringlich aufgefordert, diese Chance wahrzunehmen. K. habe deswegen mit dem Personalleiter der Firma F., der einen qualifizierten Magazinleiter suchte, mehrfach telefoniert. Er habe den Ehemann der Klägerin vermittelt, weil dieser über entsprechende Qualifikationen verfügte. Die AZW und die Firma S.-AG, die Mehrheitsaktionärin der AZW, seien bestrebt gewesen, unter Wahrung ihres Ansehens möglichst vielen Arbeitnehmern alsbald zu neuen Arbeitsplätzen zu verhelfen. Dies habe der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers entsprochen und der Sicherung des Betriebsfriedens dienen sollen. Darüber hinaus habe die AZW mit ihrem Bemühen um die vorzeitige Vermittlung von Arbeitnehmern durchaus auch eigene wirtschaftliche Interessen verfolgt. Betriebsvereinbarung und Sozialplan hätten vorgesehen, daß Abfindungen nur an Arbeitnehmer gezahlt werden sollten, die ua mindestens bis Ende der Zuckerrüben-Kampagne am 31. Dezember 1981 im Betrieb verblieben. Auch sei für vorzeitig ausscheidende Arbeitnehmer der Anspruch auf Lohnfortzahlung entfallen mit der Folge der eigenen wirtschaftlichen Entlastung. Soweit der Ehemann der Klägerin auch eigene private Interessen verfolgt habe, liege allenfalls eine gemischte Tätigkeit vor, die ihren wesentlichen Grund in der Beschäftigung bei der AZW gehabt habe.

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Nach ihrer Auffassung reicht das allgemeine und natürliche Interesse des Unternehmens, seinen gekündigten Arbeitnehmern bei der Suche nach einem Arbeitsplatz behilflich zu sein, zur Begründung des Versicherungsschutzes bei der Arbeitsplatzsuche nicht aus.

Sie beantragt, das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 14. November 1984 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Gießen vom 11. August 1983 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beigeladene zu 1) stimmt den Ausführungen im Urteil des LSG insoweit zu, als ihre Zuständigkeit hiernach nicht in Betracht komme. Im übrigen schließt sie sich der Revisionsbegründung der Beklagten an und beantragt "hilfsweise" festzustellen, daß im Falle der Entschädigung nicht sie für die Hinterbliebenenleistungen aufzukommen habe.

Die Beigeladene zu 2) stellt keinen Sachantrag.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet.

Der Klägerin steht eine - bei Tod durch Arbeitsunfall zu gewährende - Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung (§§ 589 Abs 1 Nr 3, 590 RVO) nicht zu. Der tödliche Unfall des Ehemannes der Klägerin war kein Arbeitsunfall (§ 548 RVO), da im Unfallzeitpunkt kein Versicherungsschutz bestanden hat.

Nach § 539 Abs 1 Nr 4 RVO sind ua Personen gegen Arbeitsunfall versichert, die nach den Vorschriften des Arbeitsförderungsgesetzes der Meldepflicht unterliegen, wenn sie auf Aufforderung einer Dienststelle der Bundesanstalt für Arbeit diese oder andere Stellen aufsuchen. Der Ehemann der Klägerin war nicht meldepflichtig nach dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG). Die Meldepflicht ist jedoch eine zwingende Voraussetzung für den Versicherungsschutz aufgrund des § 539 Abs 1 Nr 4 RVO (s BSG SozR 2200 § 550 Nr 1 mwN). Darüber hinaus hat der Ehemann der Klägerin die Firma F. nicht auf eine Aufforderung des Arbeitsamts aufgesucht. Der Gesetzgeber des § 539 Abs 1 Nr 4 RVO hat bewußt davon abgesehen, den Versicherungsschutz nach dieser Vorschrift auf Personen auszudehnen, die ohne Aufforderung des Arbeitsamts einen Unternehmer zur Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses aufsuchen (s BT-Drucks IV/938 -neuS 4; BSG aaO).

Die im Unfallzeitpunkt verrichtete Tätigkeit stand auch nicht im inneren Zusammenhang mit der Beschäftigung des Ehemannes der Klägerin bei der AZW (§ 539 Abs 1 Nr 1 iVm § 548 RVO).

Wie die Revision zutreffend geltend macht und auch das LSG nicht verkannt hat, sind Verrichtungen und Wege, die mit der Arbeitssuche und Verhandlungen über den Abschluß eines Arbeitsvertrages zusammenhängen, grundsätzlich dem eigenwirtschaftlichen unversicherten Bereich des Arbeitsuchenden zuzurechnen (BSG SozR aaO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, S 484 d; - jeweils mwN). Der Unfallversicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO ist grundsätzlich auf die Beschäftigung im Unternehmen beschränkt. Auch das LSG ist - nach der Lage des Falles zutreffend - davon ausgegangen, daß der Ehemann der Klägerin mit der Fahrt zur Firma F. nicht einer betrieblichen Weisung entsprochen und sich daher nicht auf einem in Ausübung seiner versicherten Tätigkeit zurückgelegten Weg (Betriebsweg) befunden hat (§ 548 RVO; s BSG Urteil vom 20. Oktober 1983 - 2 RU 77/82 -). Die eindringliche Aufforderung des damaligen technischen Direktors der AZW zielte für den Ehemann der Klägerin erkennbar darauf ab, daß dieser die Chance, einen neuen Arbeitsplatz zu erhalten, in seinem eigenen Interesse wahrnehmen sollte.

Ein wirtschaftliches - finanzielles - Interesse des Unternehmens daran, daß sich der Ehemann der Klägerin im Februar 1982 um die Stelle des Magazinleiters bei der Firma F. bewarb, lag zwar darin, unter Umständen schon vor dem Wirksamwerden der Kündigung am 31. März 1982 den Arbeitslohn nicht mehr zahlen zu müssen. Diese - zumal ungewisse - Aussicht auf eine nicht erheblich ins Gewicht fallende finanzielle Entlastung kann jedoch nach der Lage des Falles nicht als so bedeutsam angesehen werden, daß hierdurch ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang der von dem Ehemann der Klägerin unternommenen Fahrt mit der Tätigkeit im Unternehmen hergestellt worden ist. Anderenfalls müßte bei jeder privaten Arbeitsplatzsuche, selbst wenn der Arbeitnehmer zu kündigen beabsichtigte, ein innerer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit angenommen werden, wenn das Unternehmen seine Stelle nicht wieder besetzen würde. Die Voraussetzungen der Betriebsvereinbarung und des Sozialplanes für die Zahlung einer Abfindung beim Ausscheiden aus dem Unternehmen hatte der Ehemann der Klägerin erfüllt. Durch den Erhalt eines neuen Arbeitsplatzes bei der Firma F. vor oder nach dem 31. März 1982 hätte sich daran nichts geändert. Es kann hier dahingestellt bleiben, inwieweit der Unternehmer - auch unabhängig von Betriebsvereinbarung und Sozialplan - aufgrund seiner Fürsorgepflicht einem Beschäftigten, dessen Arbeitsverhältnis er gekündigt hat, bei der Erlangung eines neuen Arbeitsplatzes behilflich sein muß (s § 629 BGB). Weder die Erfüllung einer solchen Fürsorgepflicht - oder deren Verletzung -, noch die vom LSG angeführte Pflicht zur Friedenssicherung oder das auch im Schreiben der S. Z.-AG vom 2. April 1984 ebenfalls angeführte "öffentliche Ansehen der AZW" - zumal in einem Unternehmen, dessen schon seit längerem angekündigte Stillegung kurz bevorstand - können als ausreichend angesehen werden, die grundsätzlich zum unversicherten privaten Bereich des Beschäftigten gehörenden Bemühungen um einen anderen Arbeitsplatz rechtlich der Tätigkeit im Unternehmen zuzuordnen, da diese Interessen bei jeder betriebsbedingten Kündigung von Arbeitnehmern gegeben sind, ohne daß deshalb - wie dargelegt - nach der ständigen Rechtsprechung des BSG bei der privaten Stellensuche Versicherungsschutz aufgrund des noch bestehenden oder beendeten Beschäftigungsverhältnisses gegeben ist.

Der Weg des Ehemannes der Klägerin zum Vorstellungsgespräch diente somit wesentlich allein privaten Zwecken. Deshalb scheidet auch ein Versicherungsschutz auf dem Weg zur Arbeitsstätte nach § 550 Abs 1 RVO aus, da der Rückweg unfallversicherungsrechtlich das Schicksal des Hinweges teilt (s Brackmann aaO S 486 i).

Die Revision der Beklagten ist danach begründet. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG ist zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1665245

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