Entscheidungsstichwort (Thema)

Rente wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins nach Bundesversorgungsgesetz

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 7. September 1972 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Streitig ist die Erhöhung der Rente wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins nach § 30 Abs. 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).

Der Kläger bezieht wegen verschiedener Schädigungsfolgen auf Grund des Bescheides vom 10. März 1966 Rente nach einer Hinderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 90 v.H. Er war vor der Schädigung Maschinensteller; seit 1949 arbeitete er als Kettenmacher. Nachdem er seit dem 2. Mai 1969 arbeitsunfähig krank geschrieben war, beantragte er bei der Landesversicherungsanstalt (LVA) Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und erstritt sie inzwischen vor dem Sozialgericht (SG).

Im Juni 1969 beantragte der Kläger die Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen einer Verschlimmerung seiner Schädigungsfolgen. Gestützt auf ein versorgungsärztliches Gutachten, welches eine Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolgen verneint, aber neue schädigungsunabhängige Gesundheitsstörungen in Gestalt von Aufbrauchschäden an der Wirbelsäule festgestellt hatte, lehnte der Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 20. Oktober 1969 ab. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 2. Juli 1970).

Das SG hat ein Gutachten von Prof. Dr. von B. und Dr. G. eingeholt. Prof. Dr. von B. ist zu dem Ergebnis gelangt, daß die Schädigungsfolgen sich nicht verschlimmert hätten und mit 90 v.H. weiterhin zutreffend bewertet seien. Daneben seien schädigungsunabhängige Verschleißerscheinungen an der Wirbelsäule festzustellen. Der Kläger könne nur noch leichte Arbeiten, nicht aber die als Kettenmacher, bis zu fünf Stunden täglich körperlich durchhalten. Ohne die Schädigungsfolgen würde er dagegen - einer Erwerbstätigkeit im Rahmen der normalen Arbeitszeit ohne weiteres nachgehen können. Die festgestellte Einschränkung der Leistungsfähigkeit sei im wesentlichen durch die Schädigungsfolgen verursacht. Durch Urteil vom 22. Oktober 1971 hat das SG den Beklagten verurteilt, die MdE vom 1. Juni 1969 an wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins um 10 v. H. höher zu bewerten und Heute nach einer MdE um 100 v. H. zu gewähren.

Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) über die Arbeit eines Kettenmachers Beweis erhoben und eine ergänzende gutachtliche Stellungnahme von Prof. Dr. von B. eingeholt. Es hat durch Urteil vom 7. September 1972 die Berufung des Beklagten als unbegründet zurückgewiesen. Die Berufung sei trotz § 148 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nach § 130 Nr. 2 SGG zulässig, weil der Beklagte zu Recht als wesentlichen Mangel des Verfahrens des SG gerügt habe, daß der Sachverhalt vor allem hinsichtlich der körperlichen Belastungen durch den Beruf eines Kettenmachers nicht ausreichend aufgeklärt sei; die Berufung sei aber unbegründet. Die Voraussetzungen für eine Neufeststellung gemäß § 62 Abs. 1 BVG seien hier erfüllt, obwohl die Schädigungsfolgen unverändert geblieben seien. Denn nachdem schädigungsunabhängige Aufbrauchschäden an der Wirbelsäule hinzugekommen seien, sei ein besonderes berufliches Betroffensein gemäß § 30 Abs. 2 BVG eingetreten, weshalb die MdE gemäß dieser Vorschrift um 10 % habe höher bewertet werden dürfen. Auch eine Änderung schädigungsunabhängiger Umstände könne eine Heufeststellung der MdE-Bewertung gemäß § 30 Abs. 2 BVG rechtfertigen, wie das Bundessozialgericht (BSG) gelegentlich entschieden habe. Dem Urteil des BSG vom 27. Juli 1965 (BSG 23, 188 ff) sei nicht zu folgen. Entscheidend sei, ob die Schädigungsfolgen eine gleichwertige Bedingung neben anderen für den Eintritt des beruflichen Betroffenseins gewesen seien. Daß § 30 BVG nur eine einheitliche MdE kenne, müsse nicht dazu führen, daß Nachschäden bei der Bewertung der MdE gemäß § 30 Abs. 2 BVG genauso zu behandeln seien wie bei § 30 Abs. 1 BVG. Durch das Hinzutreten neuer schädigungsunabhängiger Gesundheitsstörungen könnten sich die Schädigungsfolgen erstmals auf den Beruf "auswirken" , indem sie jetzt im Zusammenwirken mit den neuen Leiden den Beschädigten zur Aufgabe des Berufes zwängen. Dies zeige der vorliegende Fall besonders deutlich: Die Schädigungsfolgen des Klägers hätten sich bis Ende April 1969 noch nicht entscheidend auf seine berufliche Tätigkeit ausgewirkt, weil er seinem Beruf gerade noch habe nachgehen können. Erst durch die schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörungen, die allein den Kläger nicht an der Ausübung seines Berufes gehindert hätten, sei die Wirkung der Schädigungsfolgen entscheidend vergrößert worden, so daß eine Änderung in der beruflichen Situation des Klägers eingetreten sei. Nach dem überzeugenden Gutachten des Prof. Dr. von B. seien die anerkannten Schädigungsfolgen wesentlich mitursächlich dafür gewesen, daß der Kläger in seiner Tätigkeit als Kettenmacher nunmehr stark eingeschränkt sei bzw. diese Tätigkeit habe aufgeben müssen, weil sie im Zusammenwirken mit den schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörungen das Leistungsvermögen des Klägers eingeschränkt hätten. Diese Einschränkung der Leistungsfähigkeit sei auch erst nach dem Bescheid vom 10. März 1966 eingetreten, so daß eine Neufeststellung gemäß § 62 BVG gerechtfertigt sei.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 7. September 1972 und des Urteils des Sozialgerichts Aachen vom 22. Oktober 1971 die Klage abzuweisen.

Er rügt mit näherer Begründung eine Verletzung der §§ 30 Abs. 2 und 62 Abs. 1 BVG. Der vom LSG festgestellte Sachverhalt rechtfertige schon deshalb keine Höherbewertung der MdE gemäß § 30 Abs. 2 BVG, weil das besondere berufliche Betroffensein durch schädigungsunabhängige Nachschäden zumindest in naturwissenschaftlich-philosophischem Sinne mitverursacht worden sei und dies nach der Rechtsprechung des BSG nicht berücksichtigt werden dürfe. Eine wesentliche Änderung sei daher entgegen der Auffassung des LSG nicht eingetreten. Bei der Feststellung der MdE nach § 30 Abs. 1 BVG müßten schädigungsunabhängige Nachschäden außer Betracht bleiben. Bei § 30 Abs. 2 BVG, der nicht vorschreibe, wie bei der Höherbewertung der MdE zu verfahren sei, biete es sich an, in gleicher Weise wie bei der Feststellung nach § 30 Abs. 1 BVG vorzugehen.

Der Kläger beantragt,

die Revision des Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II

Der Beklagte hat die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) form- und fristgerecht eingelegt und begründet (§§ 164, 166 SGG). Sein zulässiges Rechtsmittel hatte keinen Erfolg.

Das LSG hat zu Recht die an sich nach § 148 Nr. 3 SGG ausgeschlossene Berufung nach § 150 Nr. 2 SGG als zulässig erachtet, weil der vom Beklagten gerügte wesentliche Verfahrensfehler des SG, eine unzureichende Sachaufklärung (§ 103 SGG), vorgelegen hat. Denn das SG hat das Berufsbild eines Kettenmachers nicht aufgeklärt und auch nicht ermittelt, wann die Umstände eingetreten waren, die den Kläger zur Aufgabe seines Berufes gezwungen haben.

Das Berufungsgericht hat zutreffend angenommen, daß die Voraussetzungen des § 62 BVG für eine Neufeststellung der Versorgungsbezüge des Klägers gegeben waren. Nach § 62 Abs. 1 BVG idF des Dritten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Kriegsopferrechts (3. NOG) vom 28. Dezember 1966 (BGBl I, 750) ist der Anspruch auf Versorgung neu festzustellen, wenn in den Verhältnissen, die für seine Feststellung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eintritt. Das BSG hat zwar mehrfach entschieden, daß bei einer Änderung des Gesundheitszustandes der Versorgungsanspruch nur dann neu festgestellt werden kann, wenn sich die Schädigungsfolgen geändert haben (vgl. SozR Nr. 19, 28, 38 zu § 62 BVG). Hier aber ist eine Neufeststellung nicht wegen Verschlimmerung der Schädigungsfolgen oder Anerkennung neu hinzugetretener Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen streitig, sondern wegen eines zwischenzeitlich eingetretenen besonderen beruflichen Betroffenseins. Unabhängig von einer Änderung der Schädigungsfolgen hat das BSG eine Neufeststellung in Fällen für gerechtfertigt gehalten, in denen andere Umstände als die Schädigungsfolgen, welche für die Feststellung des Versorgungsanspruches maßgebend gewesen waren, sich geändert hatten, so z.B. bei einer Änderung des maßgeblichen Rechts (BSG 10, 202 ff; 15, 208 ff; SozR Nr. 39 zu § 62 BVG), bei einer Aufwertung des im Rahmen des § 30 Abs. 1 BVG berücksichtigten Beruf es (SozR Nr. 34 zu § 62 BVG), bei der Aufgabe eines mit außergewöhnlicher Energie und Anstrengung ausgeübten Berufes (SozR Nr. 60 zu § 30 BVG) oder bei Verlegung des Wohnsitzes aus Ostgebieten (SozR Nr. 6 zu § 64 BVG). Auch die Aufgabe des vom Kläger ausgeübten Berufes kann einen Grund für eine Neufeststellung des Versorgungsanspruchs bilden. Denn zu den Verhältnissen, die für seine Feststellung maßgebend sind, gehört auch die berufliche Situation des Beschädigten (§ 30 Abs. 2 BVG).

Die berufliche Situation des Klägers hat sich nach den bindenden Feststellungen des LSG insofern geändert, als er seinen bisher ausgeübten Beruf als Kettenmacher aufgeben mußte. Der ursprüngliche Bescheid vom 10. März 1966 ist durch diese Änderung unrichtig geworden; denn der Kläger ist nunmehr beruflich besonders betroffen im Sinne des § 30 Abs. 2 BVG. Nach dieser Vorschrift ist die MdE höher zu bewerten, wenn der Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen in seinem vor der Schädigung ausgeübten oder begonnenen Beruf, in seinem nachweislich angestrebten oder in dem Beruf besonders betroffen ist, den er nach Eintritt der Schädigung ausgeübt hat oder noch ausübt. Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger durch die bei ihm mit einem Grad der MdE um 90 v.H. anerkannten Schädigungsfolgen nicht gehindert gewesen ist, seinem Beruf, (gerade noch) nachzugehen, daß die Schädigungsfolgen aber im Zusammenwirken mit zwischenzeitlich eingetretenen schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörungen ihn gezwungen haben, seinen Beruf aufzugeben. Wegen dieses Umstandes hat das LSG die MdE des Klägers gemäß § 30 Abs. 2 BVG erhöht. Seine rechtlichen Erwägungen stehen nicht im Einklang mit dem Urteil des BSG in BSG 23, 188 ff.

Der erkennende Senat hat dort auf Grund des BVG idF des 1. NOG entschieden, daß bei der Festsetzung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG ... Nachschäden, also Gesundheitsstörungen, die nach Eintritt der Schädigung unabhängig von dieser auftreten, ebensowenig zu berücksichtigen sind, wie bei der Festsetzung der MdE nach § 30 Abs. 1 BVG. Er hat dies damit begründet, daß für die Feststellung des Schadens, den ein Beschädigter durch ein schädigendes Ereignis i. S. des § 1 BVG erlitten hat, stets nur die Verhältnisse maßgebend seien, die bei Eintritt des schädigenden Ereignisses bestanden haben. Danach ergebe sich das Ausmaß der MdE aus dem Vergleich der beim Beschädigten unmittelbar vor der Schädigung vorhandenen Erwerbsfähigkeit mit der unmittelbar danach vorhandenen Erwerbsfähigkeit. Da § 30 BVG nicht mehrere unterschiedliche, sondern nur eine einheitliche MdE kenne, könne diese auch nur nach einem einheitlichen und nicht nach unterschiedlichen Grundsätzen festgesetzt werden, je nachdem, ob nur Abs. 1 oder auch Abs. 2 des § 30 BVG anzuwenden sei. Die Rechtsprechung des BSG zur Gewährung von Pflegezulage könne nicht herangezogen werden. Denn diese Versorgungsleistung stelle einen völlig selbständigen Anspruch dar und werde bei Eintritt eines besonderen Ereignisses - der Hilflosigkeit - auf Antrag gewährt; bei dem besonderen beruflichen Betroffensein nach § 30 Abs. 2 BVG hingegen werde nur der in Abs. 1 des § 30 BVG umrissene Haßstab erweitert, ohne daß noch ein besonderes Ereignis zu der Gesundheitsstörung, die mit diesem Schadensmaßstab bemessen werden solle, hinzutreten müsse.

An dieser Rechtsauffassung hält der Senat nicht mehr fest und gibt sie auf. Daran sieht er sich durch keine andere Entscheidung des BSG, gehindert. Zwar hat der 9. Senat in BSG 27, 75, 76 das Urteil BSG 23, 188 ff zitiert. Der dort entschiedene Streitfall betraf jedoch nicht die Anwendung des § 30 Abs. 2 BVG, sondern die Beurteilung eines "Nachschadens" nach § 30 Abs. 1 BVG.

Der erkennende Senat hatte mit der in BSG 23, 188 ff veröffentlichten Entscheidung die in BSG 22, 82 ff begonnene Rechtsprechung fortgesetzt. Damals war darüber zu entscheiden, ob einem erwerbsunfähigen Hirnbeschädigten, der nur durch eine Erhöhung nach § 30 Abs. 2 BVG einen Grad der MdE von mehr als 90 v.H. erreicht hatte. Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG zusteht. Hierzu hat der Senat ausgesprochen, daß § 30 BVG nur eine einheitliche MdE kenne; bei der MdE. nach Abs. 1 und der nach Abs. 2 handele es sich nur um Faktoren, die bei der Festsetzung der MdE mitwirken könnten, ohne daß jedoch diese Faktoren einzeln in ihrer Höhe festzusetzen seien. § 30 Abs. 1 BVG idF vor dem ersten Gesetz, zur Änderung und Ergänzung des Kriegsopferrechts (1. NOG) vom 27. Juni 1960 (BGBl I S. 453) habe alle Faktoren enthalten, die für die Beurteilung der MdE. maßgebend seien, insbesondere auch das berufliche Betroffensein. Mit der Aufteilung der Vorschriften über die Bewertung der MdE in zwei Absätze sei eine sachliche Änderung nicht eingetreten (vgl. a.a.O. S. 84). Ob in der Einfügung des "derzeitigen Berufes" durch das 1. NOG eine sachliche Änderung liegt, ließ der erkennende Senat ausdrücklich unerörtert, wie übrigens auch der 8. Senat in BSG 15, 208 ff, 210, 212. Diese Auffassung kann wegen der durch das 1. NOG eingeleiteten Rechtsentwicklung, auf welche bereits § 30 Abs. 4 Satz 5 BVG idF des 1. NOG hingedeutet hat, nicht aufrecht erhalten bleiben.

Die Regelung, daß der durch die Erhöhung der Grundrente wegen besonderen beruflichen Betroffenseins erzielte Mehrbetrag beim Berufsschadensausgleich angerechnet werden muß, ist in den späteren Fassungen des BVG beibehalten und noch durch die gesetztechnische Verweisung in einen besonderen Absatz (Abs. 5, seit dem 3, Anpassungsgesetz Abs. 6) verdeutlicht worden. Das BSG hat daraus in seinem Urteil vom 14. Oktober 1970 (SozR Nr. 46 zu § 30 BVG) die Folgerung gezogen, daß durch die in § 30 Abs. 5 BVG vorgeschriebene Anrechnung des Mehrbetrages die MdE, die maßgebend für die Höhe der Grundrente ist, in ihre beiden Faktoren nach § 30 Abs. 1 BVG und nach dessen Abs. 2 aufgespalten wird.

Ferner kann die DVO zu § 31 Abs. 5 vom 17. April 1961 (BGBl I, 453), welche zeitlich später als das 1. NOG erlassen worden ist, dafür herangezogen werden, daß mit dem neu eingefügten Abs. 2 in § 30 BVG durch das 1. NOG das besondere berufliche Betroffensein stärker als bis dahin gegen § 30 Abs. 1 BVG abgegrenzt worden ist. Nach § 1 dieser DVO erhalten erwerbsunfähige Beschädigte, die allein aufgrund der Beurteilung nach § 30 Abs. 1 BVG erwerbsunfähig sind, Schwerstbeschädigtenzulage unter näher bestimmten Voraussetzungen. Nach § 2 Abs. 1 Satz 2 dieser DVO ist bei der Punktbewertung nur die Höhe der MdE maßgebend, die sieh allein aufgrund der Beurteilung des § 30 Abs. 1 BVG ergibt. Diese Vorschriften verlangen also gleichfalls, daß die Verwaltungsbehörde erkennbar macht, was von der Gesamt-MdE auf § 30 Abs. 1 BVG und was auf § 30 Abs. 2 BVG entfällt.

Diese Aufspaltung und Verselbständigung wird darüber hinaus auch dadurch erkennbar, daß zwischen den beiden ersten Absätzen des § 30 BVG ein struktureller Unterschied besteht. Dies ergibt sich aus der Entwicklung der Gesetzgebung, die zu der heutigen Fassung des § 30 Abs. 2 BVG geführt hat. Das 1. NOG hatte in § 30 Abs. 2 BVG das berufliche Betroffensein dahin erweitert, daß von da an auch der "derzeitige Beruf" zu berücksichtigen war, während bis dahin von der ursprünglichen Fassung vom 20. Dezember 1950 (BGBl I 791) an bis zu der Fassung durch das 5, Änderungsgesetz vom 6. Juni 1956 (BGBl I 463) nur der vor der Schädigung ausgeübte, begonnene oder nachweislich angestrebte Beruf maßgebend war. Diese früheren Fassungen ließen erkennen: daß das BVG ursprünglich einheitlich sowohl bei der medizinischen Beurteilung als auch der Berücksichtigung des Berufes von dem gleichen Zeitpunkt ausgegangen ist, insofern, als der Zustand vor der Schädigung dem nach diesem Ereignis gegenübergestellt wurde. Nach dem 1. NOG mußte auch der "derzeitige" Beruf berücksichtigt werden, also ein Beruf, der vor der Schädigung oftmals noch nicht ausgeübt worden war. In dieser Hinsicht verlor also die Gegenüberstellung des Zustandes vor der Schädigung mit dem nach der Schädigung ihre Berechtigung, so daß insoweit die Einheitlichkeit des Maßstabes aufgegeben worden ist. Die durch das 1. NOG getroffene Regelung litt aber darunter, daß der derzeitige Beruf unsystematisch zwischen dem ausgeübten und dem begonnenen sowie dem nachweislich angestrebten Beruf eingeordnet worden war, also zwischen Berufe, die vor der Schädigung liegen konnten.

Aus der weiteren Entwicklung der Gesetzgebung ist deutlich geworden, daß in der Aufnahme des "derzeitigen Berufes" in § 30 Abs. 2 BVG idF des 1. NOG der Anfang zu einer besonderen Berücksichtigung des beruflichen Schadens gemacht worden war. Durch das 2. Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Kriegsopferrechts (2. NOG) vom 21. Februar 1964 (BGBl I 85) wurde durch die neue Reihenfolge der Berufe in § 30 Abs. 2 BVG ( "in seinem vor der Schädigung ausgeübten oder begonnenen Beruf, in seinem nachweislich angestrebten oder derzeitigen Beruf" ) deutlich zwischen den vor der Schädigung liegenden Berufen oder Berufszielen und den danach ergriffenen Berufen unterschieden. Durch das 3. NOG erhielt § 30 Abs. 2 Satz 1 BVG seine auch heute noch gültige Fassung, daß nämlich neben dem vor der Schädigung ausgeübten oder begonnenen und dem nachweislich angestrebten Beruf auch der Beruf maßgebend ist, den der Beschädigte nach Eintritt der Schädigung ausgeübt hat oder noch ausübt. Dieser Wortlaut veranlaßte das BSG, insoweit eine Rechtsänderung anzunehmen (SozR Nr. 48 zu § 30 BVG).

Durch die jetzige Fassung des § 30 Abs. 2 BVG, nach der bei der Prüfung eines besonderen Berufsbetroffenseins auch ein Beruf herangezogen werden kann, den der Kläger - mitunter lange Zeit - nach der Schädigung erstmals ergriffen hat, wird deutlich, daß der in BSG 23, 188, 189 als maßgebend herausgestellte Zeitpunkt des Eintritts der Schädigung für die Frage, ob eine besondere Berufsbetroffenheit anzuerkennen ist, nicht stets Bedeutung hat, weil das Gesetz selbst davon ausgeht, daß auch später eingetretene Umstände zu berücksichtigen sind. Der berufliche Schaden kann folglich zum Zeitpunkt der Schädigung nicht immer abschließend beurteilt werden, sondern oft erst zu einem späteren Zeitpunkt. Erst mit dem späteren Eintritt des besonderen beruflichen Betroffenseins entsteht ein weiter er wirtschaftlicher Schaden, der nicht durch die nach § 30 Abs. 1 BVG bemessene Rente abgegolten ist. Das rechtfertigt die Annahme, daß § 30 Abs. 2 BVG als Teilfaktor des einheitlichen Rentenanspruchs (§ 9 Nr. 3 BVG) Tatbestandsmerkmale enthält, welche einer eigenständigen Bewertung unterliegen. Von der Sache her ist die Erhöhung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG die Abgeltung eines besonderen wirtschaftlichen Schadens i. S. des § 1 Abs. 1 BVG.

Dieser zusätzliche wirtschaftliche Schaden ist unter Anwendung der versorgungsrechtlichen Kausalitätsnorm zu entschädigen; dabei sind alle im Zeitpunkt des Eintritts des nachträglichen wirtschaftlichen Schadens gegebenen Umstände zu berücksichtigen. Auch bei § 30 Abs. 2 BVG ist nicht erforderlich, daß die Schädigungsfolgen die zeitlich letzte, die Berufsbetroffenheit "auslösende" Ursache sind. Insoweit sind trotz der bestehenden Unterschiede in der Zuerkennung der Pflegezulage als eines selbständigen Anspruchs und in der Feststellung eines Tatbestands nach § 30 Abs. 2 BVG als Teilfaktor des Rentenanspruchs die Grundsätze zu beachten, welche das BSG für die Pflegezulage beim Zusammenwirken von Schädigungsfolgen mit später eingetretenen schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörungen entwickelt hat (BSG 14, 40 ff).

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß die Bezeichnung "Nachschaden" keinen einheitlichen Inhalt hat.

Einmal wird darunter eine nachträglich eingetretene Gesundheitsstörung verstanden, deren Einbeziehung in die Festsetzung der MdE nach § 30 Abs. 1 BVG begehrt wird. Zum anderen wird das Wort "Nachschaden" auch benutzt, um einen nachträglich eingetretenen wirtschaftlichen Schaden nach Art des hier vorliegenden zu umreißen. Diese Unterscheidung wird nicht immer mit der erforderlichen Klarheit beachtet, zumal ein und dieselbe Gesundheitsstörung bei einem Versorgungsanspruch zu berücksichtigen ist, bei einem anderen dagegen nicht. Wenn ein Leiden nicht zu einer Erhöhung der MdE nach § 30 Abs. 1 BVG führt, schließt dies nicht aus, daß es trotzdem in die Prüfung nach § 30 Abs. 2 BVG (oder § 35 BVG) einbezogen wird. Die MdE ist danach auch dann nach § 30 Abs. 2 BVG höher zu bewerten, wenn der Beschädigte erst durch das Zusammenwirken von Schädigungsfolgen mit später auf getretenen, schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörungen in seinem Beruf besonders betroffen ist und hierfür die Schädigungsfolgen Ursache im Sinne der im Versorgungsrecht geltenden Kausalitätsnorm sind. (Vergl. auch Hancke in Praxis 1969; 49; Konrad in KOV 1969, 65; Schreiber in KOV 1969, 81; Lange in ZfS 1966, 86; Strässer in Versorgungsberater - VersorgB - 1965, 107 und ZfS 1973, 137; Bauer in KOV 1971, 162: Jansen in Praxis 1973, 97; Brückmann in VersorgB 1968, 6; Sladek in KOV 1968, 118 zu 3).

Entscheidend für den vorliegenden Rechtsstreit ist folglich, ob das besondere berufliche Betroffensein des Klägers durch seine Schädigungsfolgen verursacht worden ist. Da zur Berufsaufgabe auch schädigungsunabhängige Gesundheitsstörungen beigetragen haben, sind auch diese in die Kausalitätsprüfung einzubeziehen. Dies ist keine "Vorfrage" , sondern die allein entscheidende Frage. Sie geht dahin, ob die Voraussetzungen der vom Kläger begehrten Versorgungsleistungen gegeben sind, und ist nach der versorgungsrechtlichen Kausalitätsnorm zu beantworten. Um wieviel die MdE wegen einer bei dieser Prüfung festgestellten Berufsbetroffenheit zu erhöhen ist, ist Sache ihrer Bewertung. Nach den Feststellungen des LSG könnte der Kläger ohne die schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörungen seinem Beruf noch nachgehen, allein, durch diese wäre er ebenfalls nicht gehindert, weiterhin beruflich tätig zu sein; vielmehr wurde er durch das Zusammenwirken von. Schädigungsfolgen und schädigungsunabhängigen Leiden gezwungen, seinen Beruf aufzugeben. Da die Schädigungsfolgen bereits mit einer MdE um 90 v.H. bewertet worden sind, kann den schädigungsunabhängigen Leiden jedenfalls keine so überragende Bedeutung für den beruflichen Schaden zukommen, daß sie die Berücksichtigung des Schädigungsleidens ausschlössen. Die Schädigungsfolgen sind daher als wesentliche Bedingung und damit als Ursache im Rechtssinn, anzusehen. Daher steht dem Kläger eine Erhöhung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG zu.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Unterschriften

Sonnenberg

Hennig

Petersen

 

Fundstellen

BSGE, 285

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