Leitsatz (amtlich)

1. Wird für eine DRK-Schwester, für die bereits eine Dauerrente festgestellt worden war, der Jahresarbeitsverdienst gemäß RVO § 565 Abs 1 wegen Erreichens höherer Berufsjahre neu berechnet und wird dieser Bescheid mit der Begründung angefochten, der Jahresarbeitsverdienst hätte von Anfang an nach den - höheren - Verdienstsätzen einer Hebamme oder einer freien Krankenschwester festgesetzt werden müssen, so betreffen die Klage und demgemäß auch die Berufung der abgewiesenen Klägerin nicht die Neufeststellung der Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse im Sinne des Berufungsausschlußgrundes des SGG § 145 Nr 4.

2. Enthält ein Bescheid, durch den der Jahresarbeitsverdienst gemäß RVO § 565 Abs 1 von dem Zeitpunkt an erhöht wird, in dem die begonnene Ausbildung der Verletzten voraussichtlich abgeschlossen gewesen wäre, lediglich den neu festgesetzten Betrag unter Anführung des Wortlauts des Gesetzes, so bewirkt der Bescheid keine Bindung hinsichtlich der Frage, welche Vergleichsperson für die Ermittlung des Entgelts maßgebend ist.

 

Normenkette

RVO § 565 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03, § 145 Nr. 4 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 6. März 1959 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die Klägerin erkrankte während ihrer Ausbildung als Krankenschwester beim Deutschen Roten Kreuz (DRK.) im Städtischen Krankenhaus in N a. d. W im August 1947 an Kinderlähmung. Die Beklagte erkannte die Erkrankung als Berufskrankheit nach Nr. 26 der Anlage zur Vierten Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten (4. BKVO) an und gewährte der Klägerin deswegen durch Bescheid vom 26. Juli 1949 eine Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von zunächst 66 2/3 v. H., später 60 v. H. und vom 10. Juli 1948 an mit Unterbrechungen 50 v. H. Dabei legte sie der Rentenberechnung als Jahresarbeitsverdienst (JAV.) das Arbeitseinkommen der Klägerin während des letzten Jahres vor ihrer Erkrankung (756,- DM) zugrunde (§ 563 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Durch einen zweiten, ebenfalls am 26. Juli 1949 erlassenen Bescheid erhöhte sie den JAV. mit Wirkung vom 1. April 1948 an auf 1.093,80 DM. Diese Festsetzung beruht auf der Erwägung, daß die Ausbildung der Klägerin als Krankenschwester beim DRK., wenn es nicht zu der Kinderlähmung gekommen wäre, am 31. März 1948 beendet gewesen wäre. Der Betrag von 1.093,80 DM entspricht dem Lohn, den eine ausgebildete DRK.-Schwester im ersten Dienstjahr bezog (§ 565 Abs. 1 RVO). Einzelheiten der Berechnung des JAV. sind in dem Erhöhungsbescheid nicht enthalten; es ist im wesentlichen der Wortlaut des § 565 RVO wiedergegeben.

Mit Bescheid vom 23. Mai 1953 erhöhte die Beklagte den JAV. weiter aufgrund des § 565 Abs. 1 RVO, und zwar vom 1. April 1949 an auf 1.116,- DM und vom 1. April 1951 an auf 1.176,- DM. Diese Beträge entsprechen den Bezügen einer DRK.-Schwester im zweiten und dritten bezw. vierten bis sechsten Dienstjahr. Der Bescheid enthält außerdem Rentenerhöhungen aufgrund des Gesetzes über Verbesserungen der gesetzlichen Unfallversicherung vom 10. August 1949 (UVVG) und des Gesetzes über Zulagen und Mindestleistungen in der gesetzlichen Unfallversicherung vom 29. April 1952 (UZG).

Den Bescheid vom 23. Mai 1953 hat die Klägerin vor dem Oberversicherungsamt (OVA.) K angefochten und Berechnung der Rente nach einem höheren JAV. begehrt. Sie hat vorgebracht, sie habe nach Ablegung ihres Examens das Berufsziel einer Hebamme erreichen oder sich als freie Krankenschwester betätigen wollen. Dementsprechend hat sie die Auffassung vertreten, der JAV. sei nach dem Einkommen einer Hebamme, jedenfalls aber nach den - die Verdienstsätze einer DRK.-Schwester übersteigenden - Bezügen geprüfter freier Krankenschwestern festzusetzen.

Das Sozialgericht (SG.) Koblenz, auf welches das Verfahren mit dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) übergegangen ist, hat die Klage durch Urteil vom 11. Juni 1958 abgewiesen. Es hat ausgeführt: Der JAV. sei richtig festgesetzt; denn die Klägerin habe weder den Beruf einer Hebamme noch die Tätigkeit einer freien Schwester ausgeübt; sie habe auch nicht die für den Hebammenberuf vorgesehene Ausbildung begonnen.

Im Verlauf des erstinstanzlichen Verfahrens hatte die Beklagte durch Bescheid vom 26. November 1957 den JAV. aufgrund des Gesetzes zur vorläufigen Neuregelung von Geldleistungen in der gesetzlichen Unfallversicherung vom 27. Juli 1957 (BGBl. I S. 1071) mit Wirkung vom 1. Januar 1957 an auf 1.881,60 DM (1.176,- DM vervielfältigt mit 1,6) erhöht. Dieser Bescheid ist im Urteil des SG. nicht erwähnt.

Mit der Berufung zum Landessozialgericht (LSG.) Rheinland-Pfalz hat die Klägerin ihr früheres Vorbringen wiederholt und vertieft. Außerdem hat sie ausgeführt, auch der Bescheid vom 26. November 1957 sei Gegenstand der Klage gewesen.

Das LSG. hat durch Urteil vom 6. März 1959 die Berufung als unzulässig verworfen, weil sie lediglich die Neufeststellung einer Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse betreffe und deshalb nach § 145 Nr. 4 SGG nicht statthaft sei. Die Statthaftigkeitsvoraussetzungen des § 150 SGG hat es nicht als gegeben erachtet. Die Rüge, das SG. hätte gemäß § 96 SGG auch über den Bescheid vom 26. November 1957 entscheiden müssen, hat das LSG. als berechtigt bezeichnet, es hat jedoch in der Unterlassung des SG. keinen wesentlichen Verfahrensmangel (§ 150 Nr. 2 SGG) gesehen, weil das SG. auch bei Beachtung des § 96 SGG, wie sich aus den Gründen seines Urteils ergebe, den Bescheid vom 26. November 1957 bestätigt haben würde.

Das Urteil ist der Klägerin am 18. April 1959 zugestellt worden. Sie hat hiergegen am 29. April 1959 Revision eingelegt und diese gleichzeitig begründet. Sie beantragt,

das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen,

hilfsweise,

nach dem Klageantrag zu erkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

II

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie hatte auch Erfolg.

Das LSG. hat zwar zutreffend ausgeführt, der angefochtene Bescheid vom 23. Mai 1953 enthalte, da er den JAV. nach einem höheren Entgelt für spätere Dienstjahre bemesse, eine Neufeststellung der Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse, daraus folgt jedoch nicht, daß der Berufungsausschlußgrund des § 145 Nr. 4 SGG vorläge. Nach dieser Vorschrift in der hier anzuwendenden, am 1. Juli 1958 in Kraft getretenen Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des SGG (BGBl. 1958 S. 409) - die Berufung ist erst nach diesem Zeitpunkt, nämlich am 18. Juli 1958 eingelegt worden - ist in Angelegenheiten der Unfallversicherung die Berufung nicht zulässig, "soweit sie betrifft ... die Neufeststellung von Dauerrenten wegen Änderung der Verhältnisse".

Maßgebend für die Beurteilung der Statthaftigkeit der Berufung ist hiernach nicht die durch den angefochtenen Bescheid getroffene positive Regelung, sondern der Inhalt der dem Verletzten versagt gebliebenen und deshalb von ihm im Rechtsstreit erstrebten Regelung. Im vorliegenden Falle, in dem die Klägerin mit der Klage abgewiesen wurde, deckt sich das Berufungsbegehren mit dem Klagebegehren. Die Klage war darauf gestützt, die Beklagte hätte von Anfang an, d. h. von der fiktiven Beendigung der Ausbildung an, das - höhere - Erwerbseinkommen einer Hebamme, zumindest aber das einer freien Krankenschwester, der Rentengewährung zugrunde legen müssen. Das Berufungsbegehren ist somit nicht auf eine Änderung der Verhältnisse gestützt, vielmehr wurde der den Gegenstand der Berufung bildende Streit, welche Vergleichsperson für die Ermittlung des Entgelts maßgebend ist, lediglich aus Anlaß eines Bescheides über eine Änderung der Verhältnisse dem Gericht unterbreitet; dieser Umstand schließt die Berufung nicht nach § 145 Nr. 4 SGG aus. Das LSG. beruft sich zur Begründung seiner gegenteiligen Auffassung zu Unrecht auf Peters-Sautter-Wolff, Kommentar der Sozialgerichtsbarkeit, § 145 Anm. 5 b. Dem dort angeführten, aus EuM. 31 S. 237 übernommenen Beispiel liegt ein anderer Sachverhalt zugrunde; ein Jugendlicher hatte nach Erreichen des 21. Lebensjahres die Neufeststellung seiner Rente unter Zugrundelegung eines höheren JAV. begehrt, also sein Begehren auf eine Änderung der Verhältnisse gegründet. In Fällen wie dem vorliegenden hat auch das Reichsversicherungsamt (RVA.) den Rekurs, dessen Zulässigkeit nach der dem § 145 Nr. 4, 2. Alternative SGG vergleichbaren Vorschrift des § 1700 Nr. 8 RVO zu beurteilen war, nicht als ausgeschlossen erachtet (RVA., EuM. 31 S. 238, Fußnote). Die vom erkennenden Senat vertretene Auffassung entspricht seiner Entscheidung vom 29. Januar 1959 (BSG. 9 S. 101) zu § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG; dort ist entschieden worden, daß die Berufung nicht ausgeschlossen ist, wenn der mit einem Kapitalbetrag abgefundene Verletzte (§ 616 RVO) mit der Berufung die Weiterzahlung der Rente erstrebt.

Darin, daß das LSG. die Berufung als unzulässig verworfen hat, anstatt eine Sachentscheidung zu treffen, liegt ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG.; dieser Mangel begründet die Statthaftigkeit der Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG (BSG. 1 S. 283). Es bedurfte deshalb nicht mehr der Prüfung, ob das LSG. - wie die Revision gerügt hat - auch noch in sonstiger Hinsicht gegen Vorschriften des Verfahrensrechts verstoßen hat und die Revision gegebenenfalls auch aus diesen Gründen statthaft wäre. Dies gilt vor allem für die Rüge, das LSG. habe der Klägerin nicht in ausreichendem Maße rechtliches Gehör (§ 62 Abs. 1 SGG) gewährt.

Die Revision ist auch begründet.

Eine für die Klägerin günstige Sachentscheidung wäre allerdings von vornherein ausgeschlossen, wenn jene sich auch für die Zeit nach dem Wirksamwerden des Bescheides vom 23. Mai 1953 entgegenhalten lassen müßte, durch den von ihr nicht angefochtenen Bescheid vom 26. Juli 1949 stehe - abgesehen von einer Änderung der Verhältnisse - bindend fest, daß bei der Ermittlung des JAV. ein für allemal von den Einkommenssätzen der DRK.-Schwesternschaft auszugehen sei. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Bindungswirkung des Bescheides vom 26. Juli 1949 erstreckt sich nicht auf die nach Aktenvermerken der Berechnung des JAV. nach § 565 Abs. 1 RVO zugrunde liegende Erwägung, daß die Bezüge einer DRK.-Schwester maßgebend seien; denn diese Erwägung hat in dem Bescheid selbst keinen Ausdruck gefunden (vgl. hierzu BSG. SozR. RVO § 1585 Bl. Aa 3 Nr. 5).

Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt daher davon ab, ob der JAV. nach den Bezügen einer DRK.-Schwester zu ermitteln ist oder ob eine Hebamme oder freie Krankenschwester als Vergleichsperson im Sinne des § 565 Abs. 1 RVO zu gelten hat. Zur Beurteilung dieser Rechtsfrage reichen die vom LSG. getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht aus. Das Bundessozialgericht konnte daher in der Sache selbst nicht entscheiden. Deshalb wurde das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverwiesen (§ 170 Abs. 2 SGG). Dabei wird dieses auch zu prüfen haben, ob der Bescheid vom 26. November 1957 Gegenstand des Berufungsverfahrens ist. Die Beantwortung dieser Frage wird davon abhängen, ob das SG. den neuen - auch nach der Auffassung des LSG. aufgrund des § 96 SGG zum Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens gewordenen - Bescheid versehentlich übergangen hat, so daß die Voraussetzungen für einen Antrag auf Erlaß eines Ergänzungsurteils (§ 140 SGG) vorgelegen hätten, oder ob es sich aus Rechtsgründen an der Entscheidung über den neuen Bescheid gehindert gesehen hat (vgl. Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl. S. 253).

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 282

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