Leitsatz (amtlich)
Die Berufung ist nach SGG § 145 Nr 4 nicht zulässig, soweit sie die Frage betrifft, ob in dem vor Erlaß des angefochtenen Bescheids liegenden Zeitraum, für den rückwirkend erstmals eine Dauerrente festgestellt wurde, eine Änderung der Verhältnisse eingetreten ist.
Normenkette
SGG § 145 Nr. 4
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 14. Oktober 1959 wird aufgehoben. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 14. Mai 1957 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die ... 1938 geborene Klägerin beteiligte sich am 6. Juli 1952 an einem von der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft veranstalteten Grundschein-Lehrgang. Bei der Prüfungsabnahme erlitt sie durch einen Unfall eine Verletzung der rechten Niere, die später operativ entfernt werden mußte. Die Beklagte, bei der Versicherungsschutz gemäß § 537 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung in der bis zum 30. Juni 1963 geltenden Fassung (RVO aF) bestand, gewährte der Klägerin durch Bescheid vom 26. Juni 1956 eine Dauerrente für die Zeit vom 1. November 1952 an; dieser Rente lag vom 1. Juli 1955 an eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v. H. zugrunde, während bis dahin höhere MdE-Grade festgestellt wurden. Den Jahresarbeitsverdienst (JAV) für die Rentenberechnung setzte die Beklagte auf 1440,- DM fest; dies war das Dreihundertfache des Ortslohns für weibliche Versicherte. Die Klägerin hatte am 1. Mai 1952 ein Lehrverhältnis als Verkäuferin bei der K. in Waldshut angetreten: dieses Lehrverhältnis wurde jedoch schon während der Probezeit am 31. Mai 1952 gelöst. Zur Zeit des Unfalls besuchte die Klägerin noch die Kaufmännische Berufsschule. Bemühungen des Vaters der Klägerin um eine neue Lehrstelle waren bis zum Unfalltag ergebnislos verlaufen.
Mit der Klage verlangte die Klägerin die Festsetzung des JAV auf 3000,- DM für die Zeit vom September 1954 an. Sie berief sich hierfür auf § 565 Abs. 1 RVO aF und machte geltend, sie hätte - falls der Unfall nicht eingetreten wäre - im September 1954 ihre Lehre als Verkäuferin beendet und alsdann ein Entgelt von monatlich 250,- DM bezogen. Das Sozialgericht (SG) Konstanz hat die Klage durch Urteil vom 14. Mai 1957 abgewiesen; in der Rechtsmittelbelehrung ist die Berufung als zulässig bezeichnet worden.
Mit ihrer Berufung hat die Klägerin zunächst ihr bisheriges Klagbegehren verfolgt. In der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG) hat sie den Berufungsantrag gestellt, die Beklagte zu verurteilen, der Rente der Klägerin ab 1. Mai 1955 einen JAV von 2604,- DM bzw. ab 1. Mai 1956 von 2625,- DM zugrunde zu legen. Mit dieser Antragsberichtigung folgte die Klägerin den Angaben der K. über den Zeitpunkt des voraussichtlichen Abschlusses der Lehrzeit und die Höhe des danach zu erwartenden Arbeitsentgelts. Zur Begründung ihres Rechtsmittels hat die Klägerin geltend gemacht, das Lehrverhältnis bei der K. sei nur aus Zweckmäßigkeitsgründen und mit dem Ziel unterbrochen worden, die Lehre in einer anderen Stelle fortzusetzen; daher sei § 565 Abs. 1 RVO aF anwendbar. In der mündlichen Verhandlung vor dem LSG haben die Beteiligten folgenden Teilvergleich geschlossen:
"Die Beklagte erklärt, daß sie der Klägerin für die Zeit nach Vollendung des 21. Lebensjahres einen neuen Bescheid erteilen wird, in dem der JAV nach Maßgabe des § 565 Abs. 2 RVO neu festgestellt wird. Die Klägerin ist damit einverstanden, daß sich der vorliegende Rechtsstreit nur noch auf die Zeit bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres erstreckt."
Durch Entscheidung vom 14. Oktober 1959 hat das LSG die Beklagte verurteilt, der Rentenberechnung für die Zeit vom 1. Mai 1955 bis zum 4. Februar 1959 nicht den Ortslohn, sondern einen nach § 565 Abs. 1 RVO aF berechneten JAV zugrunde zu legen: Zwar sei das Lehrverhältnis der Klägerin bei der K. am 31. Mai 1952 endgültig gelöst worden. Die Bemühungen des Vaters der Klägerin um eine neue Lehrstelle könnten einer bestehenden Berufsausbildung im Sinne des § 565 Abs. 1 RVO aF nicht gleicherachtet werden. Trotzdem seien die Voraussetzungen dieser Vorschrift im Unfallzeitpunkt erfüllt gewesen. Denn damals sei zwar das Lehrverhältnis, nicht aber die Berufsausbildung der Klägerin beendet gewesen, da die Klägerin nach ihrem Ausscheiden aus der Lehre weiterhin die kaufmännische Berufsschule bis zum Unfalltag besucht habe. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 25. Oktober 1959 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 19. November 1959 Revision eingelegt und sie zugleich wie folgt begründet: Das LSG habe den § 565 Abs. 1 RVO aF unrichtig angewandt. Die Berufsausbildung der Klägerin sei am 31. Mai 1952 beendet gewesen, ungeachtet des danach fortgesetzten Besuchs der kaufmännischen Berufsschule. Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen, hilfsweise, die Berufung gegen das Urteil des SG gemäß § 145 Nr. 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als unzulässig zu verwerfen.
Die Klägerin beantragt Zurückweisung der Revision. Sie pflichtet dem angefochtenen Urteil bei. Zu dem Hinweis des Vorsitzenden des erkennenden Senats auf die Frage der Zulässigkeit der Berufung - diesen Hinweis haben beide Beteiligte mit der Terminsladung erhalten - hat die Klägerin nicht Stellung genommen.
II
Auf die durch Zulassung statthafte (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision hat der Senat vorab zu prüfen, ob die unverzichtbaren Prozeßvoraussetzungen für das Klage- und Berufungsverfahren gegeben sind; diese von Amts wegen anzustellende Prüfung betrifft hier die Statthaftigkeit der Berufung (vgl. BSG 2, 225; 2, 245, 253). Das LSG hat zu Unrecht die Berufung der Klägerin als zulässig angesehen und über das Rechtsmittel durch ein Sachurteil entschieden; es hat dabei die Vorschrift des § 145 Nr. 4 SGG (in der hier anwendbaren, bis zum 30.6.1958 geltenden Fassung) unrichtig angewandt.
Nach dieser Vorschrift kann das Urteil des SG mit der Berufung nicht angefochten werden, soweit es die Neufeststellung einer Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse betrifft. Der Bescheid der Beklagten vom 26. Juni 1956 enthielt nun zwar die erste Feststellung einer Dauerrente (§ 1585 Abs. 2 RVO) mit Rückwirkung vom 1. November 1952 an. Diese Feststellung hat die Klägerin aber auch nicht angefochten. Mit ihrer Klage machte sie vielmehr geltend, daß später - nämlich im September 1954 bzw. im Mai 1955 - ihre zur Zeit des Unfalls noch laufende Berufsausbildung voraussichtlich abgeschlossen gewesen wäre und deshalb von diesem späteren Zeitpunkt an der JAV auf Grund des § 565 Abs. 1 RVO aF neu zu berechnen sei. Damit hat sich die Klägerin auf eine Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 145 Nr. 4 SGG berufen; denn hierunter sind nicht lediglich Änderungen des durch den Unfall hervorgerufenen Gesundheitszustands zu verstehen, sondern auch Änderungen sonstiger bei der ursprünglichen Dauerrentenfeststellung maßgebend gewesener Umstände, so insbesondere auch die hier von der Klägerin behauptete Änderung ihrer Beschäftigungsweise und ihrer Verdienstverhältnisse, die gemäß § 565 Abs. 1 RVO aF einen Anspruch auf Neufeststellung der Dauerrente unter Zugrundelegung eines höheren JAV stützen würde. Dies hat der erkennende Senat bereits in einem Urteil vom 14. November 1961 (2 RU 99/59) angenommen und weiterhin ausgeführt, Bedenken gegen den Ausschluß der Berufung in solchen Fällen ergäben sich auch nicht aus dem Umstand, daß bei der Auslegung des § 565 RVO aF Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung auftreten könnten.
Der von der Klägerin beanspruchten Neuberechnung des JAV hat die Beklagte widersprochen; der Rechtsstreit betraf also gerade die Frage, ob die Voraussetzungen für die begehrte Neufeststellung vorlagen; es handelt sich somit nicht - wie in einer anderen vom Senat entschiedenen Sache (BSG 10, 282) - lediglich darum, daß aus Anlaß einer an sich unstreitig vorzunehmenden Neuberechnung wegen Änderung der Verhältnisse darüber gestritten wurde, welche Vergleichsperson von Anfang an für die Ermittlung des Entgelts maßgebend gewesen sei. Schließlich ist es auch unerheblich, daß die Klägerin die Feststellung nicht erst für einen Zeitabschnitt nach dem 26. Juni 1956, sondern schon mit Wirkung vom 1. Mai 1955 an begehrt hat, so daß die Änderung des JAV in den Bewilligungsbescheid vom 26. Juni 1956 einzufügen gewesen wäre. Hierauf kann es schon deshalb nicht ankommen, weil sonst dem rein zufälligen Umstand, wie zeitig der Versicherungsträger das Rentenfeststellungsverfahren durch die Bescheiderteilung abgeschlossen hat, eine Bedeutung beigemessen würde, die nach dem Sinn des § 145 Nr. 4 SGG nicht gerechtfertigt erscheint. Nach dieser Vorschrift ist mithin die Berufung auch dann als unzulässig anzusehen, wenn sie die Frage betrifft, ob in dem vor Erlaß des angefochtenen Bescheids liegenden Zeitraum, für den rückwirkend eine Dauerrente erstmals festgestellt wurde, eine Änderung der Verhältnisse eingetreten ist.
Die Berufung der Klägerin war auch nicht auf Grund des § 150 SGG statthaft. Das SG hat sie nicht nach § 150 Nr. 1 SGG zugelassen; der einleitende Satz der Rechtsmittelbelehrung, in dem die Berufung als zulässig bezeichnet wird, stellt keine Entscheidung über die Zulassung dar (vgl. BSG 2, 121; 4, 261). Das SG hatte von seinem Rechtsstandpunkt aus keinen Anlaß, eine Entscheidung über die Zulassung der Berufung zu treffen, da es irrtümlich die Berufung für ohne weiteres statthaft hielt. Ob in einem solchen Unterlassen einer gemäß § 150 Nr. 1 SGG zu treffenden Entscheidung ein wesentlicher Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens zu erblicken ist (vgl. hierzu neuerdings SozR SGG § 150 Bl. Da 18 Nr. 38, 39; ferner Urteil des 4. Senats vom 12.9.1963, 4 RJ 187/62), braucht in diesem Rechtsstreit nicht geprüft zu werden; denn die Klägerin hätte einen solchen Mangel im Berufungsverfahren rügen müssen (§ 150 Nr. 2 SGG), dies ist aber nicht geschehen. Auch sonstige Verfahrensrügen, welche zur Zulässigkeit der Berufung führen könnten, hat die Klägerin im Verfahren vor dem LSG nicht erhoben. § 150 Nr. 3 SGG schließlich kommt nach Lage des Falles von vornherein nicht in Betracht.
Da hiernach das LSG zu Unrecht eine Sachentscheidung getroffen hat, muß sein Urteil aufgehoben werden, ohne daß es noch auf das Revisionsvorbringen zur materiell-rechtlichen Beurteilung der Streitsache ankäme. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG muß als unzulässig verworfen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen