Leitsatz (amtlich)

Hat die KK von dem Recht, die Feststellung der Unfallentschädigung zu betreiben (RVO § 1511), bereits während des Feststellungsverfahrens des Versicherungsträgers Gebrauch gemacht, so ist der dieses Verfahren abschließende Bescheid auch der KK zuzustellen. Die Frist zur Einlegung des Rechtsbehelfs wird der KK gegenüber erst durch diese Zustellung in Lauf gesetzt.

 

Leitsatz (redaktionell)

Versicherungsschutz für einen Unfall, der sich noch im Gefahrenbereich der zur Heimfahrt von der Arbeitsstätte benutzten Eisenbahn ereignet.

 

Normenkette

RVO § 1511 Fassung: 1925-07-14, § 543 Fassung: 1942-03-09, § 1583 Abs. 1; SGG § 87

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 14. September 1960 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Beklagte als gesetzliche Leistung Krankenbehandlung zu gewähren hat.

Die der Klägerin im Revisionsverfahren erwachsenen außergerichtlichen Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der als Repassiererin in einem - der Beklagten als Mitglied angehörenden - Unternehmen in Bodelshausen beschäftigten Paula S stieß am 26. April 1956 ein Unfall zu, der eine Schenkelhalsfraktur links zur Folge hatte. Über den Hergang dieses Unfalls enthält das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts (LSG) folgende Feststellungen:

Paula S ging jeweils von ihrem Wohnort Wessingen bis zur Bahnstation Zollern zu Fuß, fuhr dann mit der Eisenbahn über Hechingen bis Bodelshausen, um dann mit dem Fahrrad den Betrieb zu erreichen. Der Rückweg wurde auf die gleiche Weise zurückgelegt. Am 26. April 1956 beendete sie um 17.45 Uhr ihre Arbeit und trat mit der Eisenbahn die Heimfahrt an. Sie verließ um 18.35 Uhr bereits in Hechingen den Zug, um sich zum Nachtessen noch das nötige Fleisch zu besorgen. Beim Verlassen des letzten Fußtritts vom Wagen blieb sie mit dem linken Absatz hängen und fiel auf den Bahnsteig.

Die Beklagte lehnte die Entschädigungsansprüche der Verletzten durch Bescheid vom 25. Oktober 1956 mit der Begründung ab, der Unfall habe sich während einer Unterbrechung des Wegs zur oder von der Arbeitsstätte ereignet, so daß die Verletzte im Unfallzeitpunkt nicht unter Versicherungsschutz gestanden habe.

Gegen diesen Bescheid hat die Verletzte am 9. November 1956 Klage beim Sozialgericht (SG) Reutlingen erhoben. Diese Klage hat ihr Prozeßbevollmächtigter am 28. Dezember 1956 mit der Begründung zurückgenommen, die Verletzte sei am 28. November 1956 gestorben und die Angehörigen wollten die Klagesache nicht weiterführen.

Der Klägerin, die der Beklagten gegenüber Ersatzansprüche geltend gemacht hatte, ist der ablehnende Bescheid erst mit einem Schreiben vom 8. Februar 1957 zugesandt worden, das am 15. Februar 1957 bei der Klägerin eingegangen ist. In diesem Schreiben stellt die Beklagte der Klägerin anheim, Klage zu erheben.

Die Klägerin hat am 12. März 1957 beim SG Reutlingen Klage gegen die Beklagte erhoben. Diese Klage ist vom SG durch Urteil vom 21. Oktober 1958 als unbegründet abgewiesen worden, weil es sich bei dem Unfall der Verletzten nicht um einen Wegeunfall im Sinne des § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF gehandelt habe.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung eingelegt. Das LSG Baden-Württemberg hat durch Urteil vom 14. September 1960 das Urteil des SG Reutlingen aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Unfall der Paula S vom 26. April 1956 als Arbeitsunfall anzuerkennen und die gesetzlichen Leistungen zu gewähren.

Die Revision ist vom LSG zugelassen worden.

Gegen dieses Urteil, das der Beklagten am 18. Oktober 1960 zugestellt worden ist, hat die Beklagte am 12. November 1960 Revision eingelegt und sie zugleich auch begründet. Sie beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und in Zurückweisung der Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Reutlingen die Klage abzuweisen,

hilfsweise beantragt sie,

das Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin hält, wie sich aus ihrem Schriftsatz vom 1. Februar 1961 ergibt, die Revision für unbegründet.

Die vom LSG beigeladenen Geschwister der Verletzten, die bereits im Berufungsverfahren erklärt haben, daß sie auf jeglichen Rechtsanspruch verzichten, haben im Revisionsverfahren keine Anträge gestellt.

II

Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und somit zulässig, sie hatte jedoch keinen Erfolg.

Wie das LSG im Ergebnis zu Recht ausgeführt hat, war die Klägerin auf Grund des § 1511 RVO berechtigt, die Feststellung des Entschädigungsanspruchs der Verletzten Paula S zu betreiben und ihn - im Wege der Prozeßstandschaft - vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit geltend zu machen. § 1511 RVO, den der Gesetzgeber auch durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz vom 30. April 1963 (BGBl I 241) nicht aufgehoben hat, ist weder dadurch gegenstandslos geworden, daß eine Entscheidung über einen Ersatzanspruch der Krankenkasse (§ 1509 RVO aF, jetzt §§ 1504 ff RVO) seit dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht mehr voraussetzt, daß der Entschädigungsanspruch des Verletzten unstreitig oder bindend festgestellt worden ist, noch dadurch, daß andererseits, wie der erkennende Senat im Urteil vom 14. Dezember 1965 - 2 RU 24/61 - (SozR RVO § 1504 Nr. 2) näher dargelegt hat, der ablehnende Bescheid eines Versicherungsträgers der gesetzlichen Unfallversicherung, durch den die Ansprüche des Verletzten abgelehnt worden sind, der Krankenkasse gegenüber für deren Anspruch auf Ersatz ihrer Aufwendungen auch dann keine Bindungswirkung hat, wenn die Krankenkasse die Feststellung der Unfallentschädigung betrieben hat und der Bescheid auch ihr zugestellt worden ist. Das Wahlrecht der Krankenkasse zwischen den Möglichkeiten, zunächst auf Grund des § 1511 RVO die Feststellung des Anspruchs des Verletzten zu betreiben oder von vornherein ihren eigenen Ersatzanspruch im Klagewege geltend zu machen, wird auch weder durch den Tod des Verletzten noch durch dessen Verzicht auf Leistungen noch dadurch hinfällig, daß der ablehnende Bescheid dem Verletzten gegenüber bindend geworden ist. Im einzelnen wird hierzu auf BSG 7, 195; 16, 1; 22, 240 verwiesen.

Im vorliegenden Fall hat die Klägerin in der Klageschrift vom 9. März 1957 den Feststellungsantrag angekündigt, "daß der Unfall vom 26. April 1956 ein entschädigungspflichtiger Arbeitsunfall ist ...". In der mündlichen Verhandlung vor dem SG Reutlingen am 21. Oktober 1958 hat sie beantragt, "die Beklagte zum Ersatz der Aufwendungen in Höhe von 652,43 DM zu verurteilen". Den entspricht auch der in der Berufungsschrift vom 28. November 1958 angekündigte Antrag. In der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 14. September 1960 hat sie jedoch beantragt, die Beklagte zu verurteilen, "den Unfall ... als Arbeitsunfall anzuerkennen und die gesetzlichen Leistungen zu gewähren". Es kann dahingestellt bleiben, ob die Neufassung des Antrages in der mündlichen Verhandlung nur der Berichtigung eines Mißverständnisses diente, das darauf beruhte, daß sich die Klägerin nicht ausreichend über die Unterschiede klar war, die zwischen einer auf § 1509 RVO gestützten Klage auf Ersatz ihrer Aufwendungen und einer auf § 1511 RVO gestützten Klage bestehen, die ausschließlich die Ansprüche des Verletzten selbst, also einen völlig anderen Streitgegenstand betrifft. Denn auch als Klagänderung konnte das LSG die Neufassung des Klagantrages noch in der Berufungsinstanz zulassen (§§ 99, 153 SGG, vgl. aber § 168 SGG). Durch sie wurde auch die Zulässigkeit der Berufung, die vom Revisionsgericht geprüft werden muß (vgl. BSG 2, 225; 3, 124, 126; 17, 15, 17), nicht berührt. Hinsichtlich des Rentenanspruchs der Verletzten war die Berufung allerdings infolge des Todes der Verletzten durch § 145 Nr 2 SGG ausgeschlossen (BSG 4, 215, 217); der Begriff "Leistungen" umfaßt jedoch auch die Krankenbehandlung, die zu den wiederkehrenden Leistungen im Sinne des § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG gehört (vgl. zB BSG 19, 270, 271). Der Zeitraum vom Unfall bis zum Tod der Verletzten beträgt aber mehr als 7 Monate, und selbst wenn davon ausgegangen wird, daß nur die Krankenbehandlung vom Ende der stationären Behandlung in der Chirurgischen Universitätsklinik Göttingen (bis zum 2. August 1956) an streitig war, ergibt sich bis zum Tode der Verletzten ein Zeitraum von mehr als 13 Wochen. Soweit der Krankenbehandlungsanspruch der Verletzten im Streit steht, hat das LSG somit zu Recht die Berufung als zulässig angesehen.

Die gegen den ablehnenden Bescheid vom 25. Oktober 1956 gerichtete, auf § 1511 RVO gestützte Klage ist auch rechtzeitig erhoben worden.

Der von der Klägerin für die Unfallanzeige (§ 1503 RVO) vom 7. Mai 1956 verwendete Vordruck enthält den Satz: "Wird die Verletzung als Folge eines Arbeitsunfalls nicht anerkannt, bitten wir um Zusendung einer Abschrift des dem Verletzten zugestellten Bescheids (§ 1511 RVO)". Damit hat die Klägerin zum Ausdruck gebracht, daß sie von ihrem Recht nach § 1511 RVO die Feststellung der Entschädigung zu betreiben, schon während des Verwaltungsverfahrens der Beklagten Gebrauch machen wollte. Wie sich aus dem Aufsatz von Podzun in "Die Sozialversicherung" 1952, 205, 206 ergibt, ist dieser Satz von den Spitzenverbänden der Krankenkassen und der Berufsgenossenschaften in das Formblatt aufgenommen worden, um Zweifel darüber auszuschließen, ob die Feststellung betrieben werden soll, weil zweifelhaft war, ob hierfür die Anmeldung eines Ersatzanspruchs genügt.

Der erkennende Senat hat in dem § 902 RVO aF betreffenden Urteil vom 28. Oktober 1960 (BSG 13, 122) näher dargelegt, daß ein Unternehmer, der während des Verwaltungsverfahrens des Versicherungsträgers von seinem Recht aus § 902 RVO aF Gebrauch gemacht hat, bereits an diesem förmlichen Feststellungsverfahren aus eigenem Recht beteiligt ist und in ihm eine Rechtsstellung hat, die seiner Prozeßstandschaft im gerichtlichen Verfahren entspricht. Das gilt entsprechend, wenn eine Krankenkasse von ihrem Recht aus § 1511 RVO Gebrauch macht. Auch ihr muß deshalb in einem solchen Fall der das Verfahren abschließende Bescheid zugestellt werden, und erst durch diese Zustellung wird ihr gegenüber die Klagefrist (§ 87 SGG) für die Anfechtung des Bescheids in Lauf gesetzt. Da der Bescheid der Beklagten vom 25. Oktober 1956 der Klägerin erst am 15. Februar 1957 zugegangen ist, war die am 12. März 1957 beim SG Reutlingen eingegangene Klage auf jeden Fall rechtzeitig.

Das LSG hat somit zu Recht in der Sache selbst, d. h. darüber entschieden, ob der Verletzten Paula S für die Folgen des Unfalls vom 26. April 1956 Entschädigungsansprüche nach den Vorschriften des 3. Buches der RVO zustanden.

Das LSG hat diese Frage auch zu Recht bejaht.

Es kann dahingestellt bleiben, ob die Verletzte auch auf dem restlichen Heimweg vom Verlassen des Bahnhofes Hechingen an unter Versicherungsschutz gestanden hätte, wenn sie den Weg nach ihrem Wohnsitz Wessingen zu Fuß zurücklegen wollte. Selbst wenn das Verlassen des Zuges rechtlich als Unterbrechung des Heimweges von der Arbeit zu werten sein sollte, bestand der Versicherungsschutz für das Zurücklegen dieses Heimweges (§ 543 RVO aF) im Zeitpunkt des Unfalls noch fort. Der Unfall hat sich beim Aussteigen aus dem Zug ereignet. In diesem Zeitpunkt befand sich die Verletzte aber noch in dem einer Bahnfahrt eigentümlichen Gefahrenbereich, dem sie dadurch regelmäßig ausgesetzt war, daß sie für die Fahrten nach und von der Arbeitsstätte die Bahn benutzte. Im einzelnen wird hierzu auf das Urteil des erkennenden Senats vom 28. Februar 1964 (SozR RVO § 543 aF Nr. 50) verwiesen.

Die Revision der Beklagten ist hiernach unbegründet und war zurückzuweisen Jedoch mußte der Entscheidungssatz (Tenor) des angefochtenen Urteils mit Rücksicht auf die, wie dargelegt beschränkte Zulässigkeit der Berufung dahin eingeschränkt werden, daß die Beklagte als gesetzliche Leistung Krankenbehandlung zu gewähren hat.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens ergeht auf Grund von § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380117

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