Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz. Umweg von der Arbeitsstätte. Einnahme einer Mahlzeit nach Schichtschluß. Umweg zur Nahrungsaufnahme

 

Orientierungssatz

1. Ein Umweg auf dem Heimweg von der Arbeitsstätte nach Schichtende zur Nahrungsaufnahme ist grundsätzlich als unversicherte eigenwirtschaftliche Tätigkeit im persönlichen und privaten Lebensbereich des Versicherten anzusehen.

2. Zwar ist der Unternehmer daran interessiert, daß die Arbeitnehmer ihre Freizeit und die Arbeitspausen auch zur Einnahme von Mahlzeiten verwenden. Dieses allgemeine Interesse allein reicht jedoch nicht aus, um einen rechtlich wesentlichen Zusammenhang zwischen Nahrungsaufnahme und versicherter Tätigkeit zu begründen (vgl BSG 1960-06-30 2 RU 111/58 = SozR Nr 26 zu § 543 RVO aF). Das hierfür erforderliche besondere betriebliche Interesse liegt vielmehr nur dann vor, wenn die Nahrungsaufnahme wesentlich der Erhaltung oder Wiederherstellung der Arbeitskraft des Versicherten dient (vgl BSG 1966-09-22 2 RU 188/65 = SozR Nr 61 zu § 543 RVO aF).

 

Normenkette

RVO § 550 Abs 1 Fassung: 1974-04-01

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 25.01.1983; Aktenzeichen L 15 BU 28/82)

SG Duisburg (Entscheidung vom 09.07.1982; Aktenzeichen S 5 BU 82/81)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger wegen der Folgen eines Unfalls Anspruch auf Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung hat.

Am 24. April 1980 begab sich der Kläger nach Beendigung der von 6.00 Uhr bis 13.00 Uhr dauernden Frühschicht als Hauer um 13.15 Uhr von der Zeche S. in O. nicht auf direktem Wege zu seiner Wohnung in der K. -Straße 30a. Er fuhr vielmehr mit dem Fahrrad zu seinem in der H. -Straße 29 wohnenden Bruder, um bei ihm - wie seit der Trennung von seiner Ehefrau üblich - eine warme Mittagsmahlzeit einzunehmen. Im Anschluß daran setzte er die Fahrt zu seiner Wohnung fort. Gegen 14.15 Uhr wurde er beim Abbiegen nach links auf der F. Straße von einem Pkw angefahren und erlitt eine contusio cerebri mit offenem Schädelbruch. Der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wurde seit der Wiederaufnahme der Arbeit am 12. Februar 1981 auf 20 vH geschätzt.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 23. Juni 1981 eine Unfallrente ab, weil die Voraussetzungen eines Wegeunfalls nicht erfüllt seien. Der Kläger habe sich zum Unfallzeitpunkt nicht auf direktem Weg zwischen der Zeche und seiner Wohnung befunden. Dem Umweg hätten persönliche Motive zugrunde gelegen.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 9. Juli 1982). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte zur Zahlung von Verletztenrente verurteilt (Urteil vom 25. Januar 1983). Der Kläger habe einen Umweg von ca 15 Minuten mit dem Fahrrad (ca 3 km) - bei einer Fahrzeit von 20 Minuten für den kürzesten Weg - gemacht. Der von § 550 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) geforderte innere ursächliche Zusammenhang zwischen dem zurückgelegten Weg von dem Ort der Arbeit und der versicherten Tätigkeit bestehe auch für den Umweg des Klägers zwecks Einnahme der Mittagsmahlzeit, da diese der Erhaltung und Wiederherstellung seiner Arbeitskraft gedient habe, weil der Kläger auf der Zeche keine Möglichkeit zur Einnahme einer warmen Tageshauptmahlzeit gehabt habe. Das Reichsversicherungsamt (RVA) habe wiederholt den Versicherungsschutz für einen vom Versicherten nach Arbeitsschluß von der Arbeitsstätte zurückgelegten Weg bejaht, der nicht unmittelbar zu seiner Wohnung, sondern zunächst in eine Gaststätte geführt habe. Der Umweg von 3 km sei gegenüber der kürzesten Strecke nicht so wesentlich, daß er von dem Vorhaben des Klägers, sich von der Arbeit nach Hause zu begeben, nicht mehr geprägt gewesen sei. Dem Versicherten sei eine gewisse Auswahl der Orte zur Essenseinnahme zuzubilligen.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 550 Abs 1 RVO durch das Berufungsgericht.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 25. Januar 1983 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 9. Juli 1982 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist begründet.

Der Kläger hat aufgrund des am 24. April 1980 erlittenen Unfalls keinen Anspruch auf eine Unfallrente, da er keinen Arbeitsunfall iS des § 550 Abs 1 RVO erlitten hat. Nach dieser Vorschrift gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf dem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Wie sich aus dem Wortlaut der Norm ergibt, muß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Weg von der Arbeitsstätte vorliegen. Wählt der Versicherte - wie hier der Kläger - nicht den kürzesten Weg von der Arbeitsstätte zu seiner Wohnung, so kann nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) in Ausnahmefällen der Kausalzusammenhang auch bei einer weiteren Wegstrecke gegeben sein. Die jeweiligen Voraussetzungen dieser Ausnahmetatbestände erfüllt der Kläger jedoch nicht.

Der vom Kläger gewählte Umweg auf der Heimfahrt am Unfalltag betrug 35 Fahrradminuten bei einer Fahrzeit von 20 Minuten für die direkte Strecke. Diese Verlängerung ist unter Berücksichtigung der Gesamtlänge des Weges und der Rechtsprechung des BSG, wonach der Versicherungsschutz nur für solche privaten Verrichtungen nicht ausgeschlossen sein soll, die "so im Vorbeigehen" erledigt werden (vgl BSG in SozR 2200 § 550 Nr 44 mwN), als erheblich anzusehen (vgl BSG in BG 1964, 294; BSG in SozR Nr 61 zu § 543 RVO aF; BSG-Urteile vom 11. Dezember 1973 - 2 RU 148/72 - und 11. Dezember 1980 - 2 RU 71/78 -). Zwar kann auch bei einem bedeutenden Umweg ausnahmsweise Versicherungsschutz gegeben sein, wenn für die Wahl dieses weiteren Weges keine Gründe maßgebend waren, die allein oder überwiegend dem privaten eigenwirtschaftlichen Lebensbereich des Versicherten zuzurechnen sind, sondern im betrieblichen Interesse liegen (vgl BSG Urteil vom 11. Dezember 1973, aaO mwN). Nach den Feststellungen des LSG hat der Kläger aber den Umweg zur Nahrungsaufnahme gewählt, die - so die ständige Rechtsprechung des BSG - grundsätzlich als unversicherte eigenwirtschaftliche Tätigkeit im persönlichen und privaten Lebensbereich des Versicherten anzusehen ist und da die Rechtsprechung den Essensvorgang als eine einheitliche Verrichtung betrachtet, fällt hierunter auch der Weg von und zu der Essensaufnahme (vgl BSGE 11, 267, 268; BSG in SozR 2200 § 548 Nr 20 und BSG-Urteil 23. Juni 1982 - 9b/8 RU 18/81 mwN). Zwar ist der Unternehmer daran interessiert, daß die Arbeitnehmer ihre Freizeit und die Arbeitspausen auch zur Einnahme von Mahlzeiten verwenden. Dieses allgemeine Interesse allein reicht jedoch nicht aus, um einen rechtlich wesentlichen Zusammenhang zwischen Nahrungsaufnahme und versicherter Tätigkeit zu begründen (vgl BSG in SozR Nr 26 zu § 543 RVO aF). Das hierfür erforderliche besondere betriebliche Interesse liegt vielmehr nur dann vor, wenn die Nahrungsaufnahme wesentlich der Erhaltung oder Wiederherstellung der Arbeitskraft des Versicherten dient (vgl BSG in SozR Nr 61 zu § 543 RVO aF).

Dem LSG kann insoweit nicht gefolgt werden, als es diesen Ausnahmetatbestand unter Hinweis auf die Entscheidungen des RVA und des BSG als gegeben ansieht. Zwar hat sich das RVA in den vom LSG genannten Entscheidungen (EuM 29, 359; 47, 415, 416 grundlegend für den Versicherungsschutz auf solchen Wegen von und zur Arbeitsstätte ausgesprochen, die erforderlich waren, um die Arbeitsfähigkeit des Versicherten, zB durch Ruhe und Ernährung zu erhalten. Diese Rechtsprechung hat das BSG grundsätzlich gebilligt, dazu aber zum Ausdruck gebracht, zur Verhinderung einer Ausweitung der Grenzen des Versicherungsschutzes könne nicht das normale Erholungsbedürfnis in der üblicherweise hierzu zur Verfügung stehenden Zeit einbezogen werden (vgl BSGE 4, 219, 223). Auf dieser Grundlage hat es den ursächlichen Zusammenhang mit dem Unternehmen bei einem Mittagessen verneint, das lediglich zur Stärkung für die folgende Arbeitsschicht eingenommen wird (vgl SozR Nr 61 zu § 543 RVO aF).

Der Kläger hat keine Tatsachen vorgetragen, aus denen entnommen werden kann, die Einnahme des Mittagessens sei über den Rahmen der üblichen Stärkung nach einer Arbeitsschicht hinausgehend notwendig gewesen. Insbesondere hat er keine Umstände dargetan, die durch ihre enge Beziehung zu der betrieblichen Tätigkeit das Moment der "Eigenwirtschaftlichkeit" als unwesentlich zurücktreten lassen (vgl BSG in SozR 2200 § 548 Nr 20; Urteil vom 23. Juni 1982 aaO). Auch die fehlende Möglichkeit zur Essenseinnahme in einer Kantine kann - entgegen der Auffassung des LSG - nicht das besondere Interesse des Unternehmens an der Nahrungsaufnahme durch den Versicherten und damit den rechtlich wesentlichen betrieblichen Zusammenhang begründen. Das Interesse des Arbeitgebers, dem Arbeitnehmer durch eine betriebseigene Kantine die Einnahme einer Mahlzeit zu ermöglichen, um damit Zeit zu ersparen, die Arbeitskraft zu schonen und die Arbeitspause sinnvoll zu verwenden, kann gegenüber den mit der Einnahme der Mahlzeit verbundenen persönlichen und privaten Zwecken nur untergeordnete Bedeutung haben (vgl BSG in SozR Nr 61 zu § 543 RVO aF und Urteil vom 23. Juni 1982 aaO). Als betriebsbedingte und damit rechtserhebliche Motivation (vgl BSG Urteil vom 13. Mai 1981 - 2 RU 52/81 - mwN) für die mit einem Umweg verbundene Nahrungsaufnahme käme hier allenfalls in Betracht, daß der Kläger infolge der Anstrengungen während der zurückliegenden Arbeitszeit seine Wohnung mit dem Fahrrad erst nach Einnahme einer Mahlzeit hätte sicher erreichen können. Dies scheidet hier aber schon deswegen aus, weil der Ort, an dem der Kläger die Mahlzeit eingenommen hat, von der Arbeitsstätte nahezu gleich weit entfernt ist wie seine Wohnung.

Schließlich ist zu beachten, daß der Kläger im Unfallzeitpunkt nicht bereits eine Stelle erreicht hatte, die er auch auf dem direkten Weg zwischen Arbeitsstätte und Wohnung - also ohne Umweg - befahren haben würde, so daß auch unter diesem Aspekt (vgl hierzu BSG-urteil vom 11. Dezember 1973 aaO) der Kläger zur Zeit des Unfalls nicht gemäß § 550 Abs 1 RVO unter Versicherungsschutz stand.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663975

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