Leitsatz (amtlich)

Die Geltendmachung des auf RVO § 1509 Abs 1 beruhenden Ersatzanspruchs der Krankenkasse durch Klage (SGG § 54 Abs 5) setzt nicht voraus, daß die Entschädigungspflicht des Unfallversicherungsträgers gegenüber dem Verletzten (Hinterbliebenen) unstreitig oder rechtskräftig festgestellt ist.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Zur Frage, ob in einem Sittlichkeitsverbrechen gegen eine auf dem Heimweg befindliche Versicherte ein Arbeitsunfall zu erblicken ist.

2. es bedarf nicht eines betriebsbezogenen Tatmotivs, damit überhaupt der innere ursächliche Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis (Überfall) und der versicherten Tätigkeit hergestellt werden kann, da dieser Zusammenhang nur dann an Bedeutung verlieren kann, wenn sich die Beweggründe des Angreifers aus einer persönlichen Verfeindung mit dem Angegriffenen oder ähnlichen, in betriebsfremden Beziehungen zwischen den Beteiligten, gegebenen Umständen erklären ließen.

 

Normenkette

RVO § 1509 Abs. 1 Fassung: 1925-07-14; SGG § 54 Abs. 5

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 15. September 1961 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die in den V-Werken als Arbeiterin beschäftigte Ehefrau C H hatte am 21. Juni 1960 Spätschicht bis 23 Uhr. Auf dem anschließenden Heimweg wurde sie durch einen jungen Burschen vom Fahrrad gestoßen, der sich an ihr vergehen wollte. Bei ihrer heftigen Gegenwehr wurde sie schwer mißhandelt und schließlich erwürgt. Die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) gewährte das Sterbegeld gemäß § 201 ff. der Reichsversicherungsordnung (RVO) in Höhe von 226,60 DM und verlangte von der Beklagten die Erstattung dieses Betrages. Dies lehnte die Beklagte durch Schreiben vom 19. Mai 1961 ab, worin sie die AOK auf den abschriftlich beigefügten Bescheid vom gleichen Tage an den Ehemann der Getöteten hinwies; durch diesen Bescheid wurden Entschädigungsansprüche des Ehemannes abgelehnt mit der Begründung, eine bloß zeitliche und örtliche Beziehung zum Betrieb, wie sie hier ohne weiteres zu bejahen sei, genüge nicht für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls. Vielmehr sei darüber hinaus gemäß § 543 RVO auch ein innerer ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Weg und der Betriebstätigkeit erforderlich; daran fehle es hier; denn das an der Versicherten verübte Sittlichkeitsverbrechen habe nichts mit deren betrieblicher Tätigkeit zu tun gehabt, vielmehr hätte der Täter es auf irgendeine beliebige Frau abgesehen gehabt, ohne Rücksicht darauf, ob sie bei den V-Werken beschäftigt war.

Mit der am 31. Mai 1961 erhobenen Klage begehrt die AOK die Verurteilung der Beklagten zur Erstattung der Aufwendungen gemäß § 1508 RVO. Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat durch Urteil vom 15. September 1961 unter Feststellung des Todes der Frau H als Folge eines Arbeitsunfalls im Sinne des § 543 RVO die Beklagte verurteilt, die der Klägerin entstandenen Aufwendungen von 226,60 DM zu erstatten: Frau H. habe sich zur Zeit des Überfalls räumlich, zeitlich und in innerer Verbindung mit ihrem Arbeitsheimweg befunden. Da sie in keiner Weise Anlaß zum überfall gegeben habe, sei dieser Zusammenhang nicht aufgehoben worden. Das SG hat die Berufung zugelassen.

Das Urteil ist der Beklagten am 5. Oktober 1961 zugestellt worden. Am 26. Oktober 1961 hat die Beklagte - unter Beifügung der schriftlichen Einwilligungserklärung der Klägerin gemäß § 161 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) - hiergegen Sprungrevision eingelegt. Sie hat die Revision - nach Verlängerung der Begründungsfrist bis zum 5. Januar 1962 - am 21. Dezember 1961 wie folgt begründet: Das angefochtene Urteil verstoße gegen die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA) und des Bundessozialgerichts (BSG), wonach für den Versicherungsschutz gemäß § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO der zeitliche und örtliche Zusammenhang allein nicht genüge, vielmehr auch noch eine wesentliche innere Beziehung zwischen dem unfallbringenden Weg und der vorangegangenen Betriebsarbeit erforderlich sei. Der angerufene Senat habe bereits wiederholt (BSG 10, 56; 13, 290) entschieden, daß es bei einem Überfall während des Heimwegs auf die Beweggründe des Angreifers ankomme; seien diese in Umständen zu erblicken, die in keiner Verbindung mit der versicherten Tätigkeit des Verletzten stünden, so fehle es auch an dem erforderlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der versicherten Tätigkeit. Im vorliegenden Fall sei die Versicherte nicht wegen ihrer Zugehörigkeit zum Betrieb der V-Werke überfallen worden, sondern wegen ihrer persönlichen Eigenschaft als jüngere Frau, die den ein Sittlichkeitsdelikt beabsichtigenden Täter zur Ausführung des Überfalls bewogen habe. Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG oder das Landessozialgericht Hamburg zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt Zurückweisung der Revision. Sie pflichtet dem angefochtenen Urteil bei und meint, der von der Revision hervorgehobene innere Zusammenhang könne nur dann gelöst werden, wenn der Beschäftigte selbst durch sein Verhalten Anlaß zum Überfall gegeben habe.

II

Der Rechtsstreit betrifft einen Ersatzstreit zwischen Körperschaften des öffentlichen Rechts über den Betrag von 226,60 DM. Da die Berufung gegen das angefochtene Urteil somit nach § 149 SGG nicht zulässig war, das SG sie jedoch nach § 150 Nr. 1 SGG zugelassen hat, ist die von der Beklagten stattdessen eingelegte Sprungrevision statthaft. Die Revision ist fristgerecht sowie unter Beachtung der Formvorschriften (§ 161 Abs. 1 Satz 2, § 164 SGG) eingelegt und begründet worden, daher zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.

Die Klägerin betreibt nicht, wie die Revision annimmt, die Feststellung der Unfallentschädigung auf Grund des § 1511 RVO. Vielmehr läßt der Klagantrag zweifelsfrei erkennen, daß die Klägerin in diesem Verfahren ausschließlich den Ersatzanspruch geltend macht, der ihr nach ihrer Auffassung gemäß §§ 1508, 1509 Abs. 1 RVO gegen die Beklagte zusteht. Die Höhe dieses Anspruchs ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Der Anspruch ist begründet, wenn der Tod der Frau H die Folge eines Unfalls auf einem mit der Tätigkeit im Unternehmen zusammenhängenden Weg von der Arbeitsstätte (§ 543 Abs. 1 Satz 1 RVO) darstellt, woraus sich für die Beklagte die Verpflichtung zur Gewährung des Sterbegeldes (§ 586 Abs. 1 Nr. 1 RVO) ergibt. Das Vorliegen dieser Voraussetzung ist streitig. In Fällen dieser Art hat es das RVA (AN 1914, 549 Nr. 1857; 1925, 32 Nr. 2833; 1929, 42 Nr. 3343) als erforderlich bezeichnet, daß zunächst die Entschädigungspflicht der Berufsgenossenschaft im Verfahren der Unfallversicherung (§ 1511 RVO) rechtskräftig festgestellt sein muß, bevor die Krankenkasse ihren Ersatzanspruch geltend machen kann. Diese Auffassung, die vor allem aus den damals gegebenen Unterschieden zwischen dem in § 1512 Abs. 2 RVO vorgesehenen Spruchverfahren (§§ 1771 ff. RVO) und dem Feststellungsverfahren der Unfallversicherung (§§ 1699 ff. RVO) hergeleitet wurde, ist durch den Wegfall der unterschiedlichen Verfahrensregelungen (§ 213 SGG) gegenstandslos geworden. Die Ersatzleistungsklage der Krankenkasse fällt unter § 54 Abs. 5 SGG; aus dieser Vorschrift geht eine Einschränkung der Klagebefugnis, wie sie früher zu § 1512 Abs. 2 RVO angenommen wurde, nicht hervor. Die Frage, ob es sich um einen Arbeitsunfall handelt, ist nunmehr bei der Prüfung des von der Krankenkasse erhobenen Ersatzanspruchs als Vorfrage mitzuentscheiden, wenn über sie noch nicht in einer die Krankenkasse bindenden Weise entschieden worden ist. (Ebenso Bayer. LSG, Breith. 1958, 530; LSG Nordrhein-Westfalen, Breith. 1958, 619, 621; Klenke, WzS 1959, 136, 142, 145; Nagel, SGb 1961, 325; a. M. LSG Baden-Württemberg, Breith. 1961, 27; anscheinend auch noch Lauterbach, Unfallversicherung, 2. Aufl., Stand April 1961, Anm. 5 a zu § 1512 S. 405).

Die Revision geht davon aus, Überfälle während der Zurücklegung der Wege nach und von der Arbeitsstätte würden vom Versicherungsschutz des § 543 Abs. 1 RVO nur erfaßt, wenn sie auf Beweggründen beruhten, die aus der Betriebstätigkeit abzuleiten seien; das im hier zu entscheidenden Sachverhalt gegebene Sittlichkeitsdelikt an der Versicherten beruhe nicht auf solchen betrieblichen Beweggründen, habe vielmehr der Angegriffenen lediglich in ihrer Eigenschaft als jüngerer Frau gegolten, daher sei kein Arbeitsunfall anzunehmen. Für diese Erwägungen beruft sich die Revision zu Unrecht auf angeblich vom RVA und vom BSG aufgestellte Grundsätze, ihr Vortrag läßt erkennen, daß sie die angeführte Rechtsprechung mißverstanden hat.

Zwar hat der erkennende Senat wiederholt entschieden (BSG 6, 164, 168; 13, 290, SozR RVO § 542 Aa 38 Nr. 44), daß es bei der Frage, ob ein Überfall auf dem Weg nach oder von der Arbeitsstätte als Arbeitsunfall anzusehen ist, u. a. auf die Beweggründe des Angreifers ankommt. Das bedeutet aber nicht, daß es eines betriebsbezogenen Tatmotivs bedürfe, damit überhaupt der innere ursächliche Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der versicherten Tätigkeit hergestellt werde. Dieser Zusammenhang ist vielmehr von vornherein gegeben, sofern der - ohne erhebliche Umwege oder Unterbrechungen zurückgelegte - Heimweg von der Arbeitsstätte den Beschäftigten an die Stelle geführt hat, wo im fraglichen Zeitpunkt eine zur Gewalttat entschlossene Person seiner habhaft werden kann. Allerdings verliert dieser Zusammenhang an Bedeutung, wenn die Beweggründe des Angreifers sich aus einer persönlichen Verfeindung mit dem Angegriffenen oder ähnlichen in betriebsfremden Beziehungen zwischen den Beteiligten gegebenen Umständen erklären. In einem solchen Fall bedeutet die Zurücklegung des Weges nach oder von der Arbeitsstätte oft nur eine von vielfachen beliebigen Gelegenheiten für den Angreifer, das unterwegs befindliche Objekt seiner Feindschaft zu überfallen, das ihm ebensogut zu anderer Zeit und an anderer Stelle erreichbar gewesen wäre; mit dieser Erwägung rechtfertigt sich in solchen Fällen die Ablehnung des Versicherungsschutzes, da hier die betriebsfremden Beziehungen zwischen Täter und Angegriffenem vorherrschen und den betrieblichen Zusammenhang des vom Angegriffenen zurückgelegten Weges überlagern (vgl. BSG 13, 290; RVA EuM 20, 88). Anders wäre der Versicherungsschutz selbst in Fällen dieser Art indessen zu beurteilen, wenn besondere Verhältnisse bei der Zurücklegung des Weges - z. B. Dunkelheit, einsame Gegend o. ä. - die Verübung der Gewalttat entscheidend begünstigt haben (vgl. RVA EuM 22, 100; OVA Freiburg, Breith. 1953, 841).

Ist der überfall hingegen wesentlich durch betriebliche Anlässe motiviert, so kommt es für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls nicht einmal darauf an, ob der Angegriffene sich gerade auf einem Weg nach oder von der Arbeitsstätte befand oder sonst eine mit dem Beschäftigungsverhältnis zusammenhängende Arbeit verrichtete (vgl. RVA EuM 42, 259; SozR RVO § 542 Bl. Aa 38 Nr. 44).

In dem hier zu entscheidenden Sachverhalt sind die Beweggründe des Täters weder durch rein private noch durch betriebsbedingte Beziehungen zur Überfallenen beeinflußt. Es handelt sich um das Notzuchtverbrechen eines Täters, der zum Angriff gegen die erste beste, ihm begegnende Frau entschlossen war und den mit der Ermordeten keinerlei vorherige Beziehungen verbanden. Anschläge dieser Art - wie auch Raubüberfälle (RVA EuM 28, 442), Dummejungenstreiche (Urt. vom 29.5.1962 - 2 RU 170/59 -) und sonstige Gewalttaten geistesgestörter (RVA EuM 24, 5) oder krimineller Angreifer (AN 1895, 235 Nr. 1439; EuM 50, 2) - sind dadurch gekennzeichnet, daß außerbetriebliche Beziehungen zwischen Täter und Angegriffenem, welche den inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit verdrängen könnten, nicht vorgelegen haben. Die Voraussetzungen für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls sind, wie sich aus der angeführten Rechtsprechung ergibt, hierbei stets als erfüllt angesehen worden. Auch der erkennende Senat hat bereits grundsätzlich in diesem Sinne entschieden (vgl. BSG 10, 56, 60). Das Revisionsvorbringen, das sich im wesentlichen auf mißverständliche Zitate aus Schrifttum und Rechtsprechung stützt, beruht auf einem rechtlich unzutreffenden Ausgangspunkt. Die Auffassung des SG, in dem Sittlichkeitsverbrechen gegen die auf dem Heimweg befindliche Versicherte sei ein Arbeitsunfall zu erblicken, ist somit frei von rechtlichen Bedenken.

Die Revision ist hiernach unbegründet. Sie war daher zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2351448

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