Entscheidungsstichwort (Thema)

Ständige Familienwohnung. Unterkunft. gleichwertiger Lebensmittelpunkt

 

Orientierungssatz

1. Bei dem Begriff der Familienwohnung spielen auch psychologische und soziologische Merkmale eine wichtige Rolle, zu denen ua das Zusammengehörigkeitsgefühl mit anderen Menschen wie der Mutter und den Freunden zählt (vergleiche BSG vom 1963-11-29 2 RU 56/63 = BSGE 20, 110).

2. § 550 S 2 RVO aF setzt voraus, daß am Ort der Tätigkeit oder in dessen Nähe lediglich eine "Unterkunft" bestand. Ihr steht "seine ständige Familienwohnung" außerhalb des Ortes der Tätigkeit gegenüber. Aus diesem gesetzlichen Erfordernis hat das BSG von Anfang an gefolgert, daß § 550 S 2 RVO aF nur in Fällen anwendbar ist, in denen der Versicherte nur eine einzige Familienwohnung besitzt. Sind dagegen zwei gleichwertige Familienwohnungen an verschiedenen Orten vorhanden, so ist § 550 S 2 RVO aF nicht anwendbar und nach § 550 RVO aF nur die nächstgelegene Wohnung maßgebend (vergleiche ua BSG vom 1977-06-23 8 RU 98/76 = SozR 2200 § 550 Nr 31).

 

Normenkette

RVO § 550 S 2 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

LSG Bremen (Entscheidung vom 27.11.1980; Aktenzeichen L 2 U 25/77)

SG Bremen (Entscheidung vom 07.09.1977; Aktenzeichen S U 136/76)

 

Tatbestand

Die damals 33jährige Klägerin erlitt am 2. September 1970 auf der Fahrt von ihrer Wohnung in B. zu ihrer am Arbeitsort befindlichen Wohnung in Br./Bi. einen Unfall. Die Beteiligten streiten darüber, ob es sich dabei um einen Arbeitsunfall handelte.

Die Klägerin war seit Mai 1970 als Löterin bei der S.AG, Zweigniederlassung B., beschäftigt und nach kurzer Einarbeitung auf einer Montagestelle in Bi. tätig. Sie behielt ihre Wohnung in B., die sie allein bewohnte und mit eigenen Möbeln ausgestattet hatte, bei; ihre Mutter wohnte ebenfalls in B.. In Bi. mietete sie eine Wohnung; im Unfallzeitpunkt wohnte sie zusammen mit einer ihr in B. noch nicht bekannten Arbeitskollegin in Br.. Etwa alle zwei Wochen fuhr sie nach B.. Der Unfall ereignete sich am letzten Tag eines dreitägigen Urlaubs. Die Klägerin erlitt Verletzungen im Bereich des Gesichts mit Verlust der Nasenspitze. Im Oktober 1975 beantragte sie die Zahlung von Verletztenrente. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 26. August 1976 lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab, die Klägerin habe zwei gleichwertige Wohnungen besessen und sich nicht auf einer Familienheimfahrt befunden, da sie die Fahrt nicht von der dem Beschäftigungsort am nächsten gelegenen Wohnung aus angetreten habe.

Die Klage war erfolgreich. Sowohl das Sozialgericht (SG) als auch das Landessozialgericht (LSG) sind zu dem Ergebnis gelangt, daß die Klägerin im Unfallzeitpunkt unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stand (Urteile vom 7. September 1977 und 27. November 1980). Im Urteil des SG ist ausgeführt, daß die Wohnung der Klägerin in Br. gegenüber der in B. nicht gleichwertig gewesen sei; die Klägerin habe ihren Lebensmittelpunkt nicht nach Br. verlegt gehabt. Dem hat das LSG zugestimmt, zumal da bei der Klägerin ein typisches Montage-Arbeitsverhältnis mit wechselnden Baustellen vorgelegen habe. Die Lebensumstände in Br. seien nicht von wesentlicher Bedeutung für die Frage, ob die Klägerin ihren Lebensmittelpunkt in B. beibehalten habe, so daß es auf die von der Beklagten beantragten Vernehmung der Arbeitskollegin der Klägerin nicht ankomme. Die auffallende Gesichtsentstellung bei der Klägerin bedinge - insbesondere auch angesichts der seelischen Auswirkungen - eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vH, während die leichte Behinderung der linksseitigen Naseneinatmung und die Herabsetzung des Geruchsvermögens keine weitere meßbare MdE verursachten. Das LSG hat die Beklagte verurteilt, ab 1. Oktober 1975 Verletztenrente in Höhe von 20 vH der Vollrente zu zahlen.

Die Beklagte hat die vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassene Revision (Beschluß vom 24. Juni 1981) eingelegt. Nach ihrer Auffassung hätte das LSG nur durch einen Vergleich der im Unfallzeitpunkt vorliegenden Lebensumstände in B. mit denen in Br. zu einem richtigen Ergebnis kommen können. Hierzu sei die Vernehmung der früheren Arbeitskollegin und Mitmieterin in Br. notwendig gewesen. Deren Vernehmung sei zwar in einer Beweisanordnung vorgesehen gewesen, später jedoch nicht durchgeführt worden. Das LSG hat darüber hinaus nach Meinung der Beklagten die MdE verfahrensfehlerhaft festgestellt; es hätte demjenigen Sachverständigen, der zuvor eine MdE von 10 vH als gegeben angenommen hatte, Gelegenheit geben müssen, zu der später erfolgten abweichenden Beurteilung Stellung zu nehmen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 27. November 1980 und das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 7. September 1977 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

Die Revision zurückzuweisen.

Nach ihrer Überzeugung hat das LSG verfahrensfehlerfrei festgestellt, daß der Mittelpunkt ihrer Lebensverhältnisse im Unfallzeitpunkt in B. gewesen s

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil reichen nicht zur Entscheidung darüber aus, ob die Klägerin sich am 2. September 1970 auf dem Weg von ihrer rechtlich relevanten Familienwohnung zum Ort ihrer Tätigkeit befand.

Das LSG ist zunächst, da der Unfall der Klägerin sich im Jahre 1970 ereignet hat, zutreffend von der Vorschrift des § 550 Reichsversicherungsordnung (RVO) in der Fassung bis zum Inkrafttreten des Gesetzes über Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten vom 18. März 1971 (BGBl I 237) am 1. April 1971 (RVO aF) ausgegangen. Es ist ferner mit Recht nicht näher darauf eingegangen, ob Versicherungsschutz gemäß § 550 Satz 1 RVO aF bestand. Nach den Feststellungen des LSG sind die Voraussetzungen dieser Vorschrift schon deshalb nicht gegeben, weil die von B. aus unternommene Fahrt nicht mit dem Arbeitsverhältnis der Klägerin, sondern vielmehr in erster Linie mit der Art der Gestaltung ihres unversicherten persönlichen Lebensbereiches zusammenhing; die Klägerin begab sich von einem persönlichen Lebensbereich in einen anderen, so daß ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit nicht vorhanden war (vgl BSG Breithaupt 1971, 905, 906).

Demgegenüber hat der Gesetzgeber mit § 550 Satz 2 RVO aF eine den § 550 Satz 1 RVO erweiternde Vorschrift geschaffen, welche es ermöglicht, die dem persönlichen Lebensbereich zuzurechnenden Beweggründe für die Fahrt weitgehend unberücksichtigt zu lassen. Die Anwendung des § 550 Satz 2 RVO aF hängt allerdings in jedem Falle davon ab, daß es sich bei dem Ziel oder dem Ausgangspunkt des Weges um die ständige Familienwohnung der Versicherten handelt und die Versicherte am Beschäftigungsort oder in der Nähe eine Unterkunft hat (vgl ua BSGE 1, 171, 173; 2, 78, 80; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl S 485t mwN).

Das LSG hat nicht verkannt, daß die Familienwohnung nach den von von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse der Versicherten bilden muß und es dabei im Einzelfall auf die tatsächliche Lebensgestaltung zur Unfallzeit ankommt (BSGE 2, 78, 81; 35, 32, 33; BSG Urteil vom 30.März 1982 - 2 RU 53/80 mwN). Es hat ferner berücksichtigt, daß auch eine alleinstehende Versicherte eine "Familien"- Wohnung innehaben kann (BSGE 20, 110, 112). Es ist auch nicht zu beanstanden, daß das LSG von den Verhältnissen ausgegangen ist, welche bis zum Antritt der Arbeitsstelle in Bi. bestanden, und dann untersucht hat, ob im Unfallzeitpunkt im Zusammenhang mit dem Anmieten einer möblierten Wohnung in Br. der Lebensmittelpunkt B. aufgegeben worden ist. Die dabei herangezogenen Gesichtspunkte erscheinen durchaus sachgerecht, wobei noch ergänzend darauf hinzuweisen wäre, daß auch ein Größenvergleich zwischen den beiden Wohnungen nicht ausschlaggebend zu sein braucht (vgl BSGE 20, 110, 113). Entgegen der Auffassung der Revision spielen bei dem Begriff der Familienwohnung auch psychologische und soziologische Merkmale eine wichtige Rolle, zu denen ua das vom LSG herausgestellte Zusammengehörigkeitsgefühl mit anderen Menschen wie der Mutter und den Freunden der Klägerin zählt (BSG aaO).

Die Revision weist allerdings zutreffend darauf hin, daß das LSG die tatsächlichen Lebensverhältnisse in Br. nicht außer acht lassen durfte. § 550 Satz 2 RVO aF setzt insofern voraus, daß am Ort der Tätigkeit oder in dessen Nähe lediglich eine "Unterkunft" bestand. Ihr steht "seine ständige Familienwohnung" außerhalb des Ortes der Tätigkeit gegenüber. Aus diesem gesetzlichen Erfordernis hat das BSG von Anfang an gefolgert, daß § 550 Satz 2 RVO aF nur in Fällen anwendbar ist, in denen der Versicherte nur eine einzige Familienwohnung besitzt. Sind dagegen zwei gleichwertige Familienwohnungen an verschiedenen Orten vorhanden, so ist § 550 Satz 2 RVO aF nicht anwendbar und nach § 550 RVO aF nur die nächstgelegene Wohnung maßgebend (BSG Breithaupt aaO; Urteil vom 2. März 1971 - 2 RU 108/68 - USK 1971 Nr 7130; BSGE 44, 100, 106; SozR 2200 § 550 Nr 31; Brackmann aaO S 486a). Demzufolge mußte das LSG überprüfen, ob die Klägerin im Unfallzeitpunkt außer in B. einen gleichwertigen Lebensmittelpunkt in Br. hatte, wie dies von der Beklagten bereits im angefochtenen Bescheid angenommen worden war. Wäre das der Fall gewesen, wäre die Wohnung in Br. keine "Unterkunft" im Sinne des § 550 RVO aF; während der Fahrt am 2. September 1970 hätte die Klägerin dann nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden, obwohl sie einen Lebensmittelpunkt in B. hatte.

Das LSG wird die fehlenden Feststellungen treffen und dabei die Arbeitskollegin der Klägerin, deren Vernehmung von der Beklagten beantragt worden war, als Zeugin hören müssen. Das LSG ist in sorgfältiger Abwägung aller ermittelten Umstände zu dem Ergebnis gekommen, daß die Erwerbsfähigkeit der Klägerin durch die Folgen des Unfalles am 2. September 1970 um 20 vH gemindert ist. Es hat dabei insbesondere auch die unterschiedlichen Bewertungen der Gutachter Dr. K. und Prof. Dr. P. erörtert und verglichen. Warum das LSG dennoch den Sachverständigen Dr. K. erneut hätte anhören müssen, legt die Revision im einzelnen nicht dar. Sie hat weder Widersprüche bei der Überzeugungsbildung durch das LSG benannt, welche bei erneuter Anhörung des Gutachters ausgeräumt worden wäre, noch Fragen aufgezeigt, welche bisher nicht oder nicht ausreichend erörtert worden waren und gerade durch diesen Sachverständigen umfassend und richtig hätten beantwortet werden können. Eine Verletzung der dem LSG obliegenden Verpflichtung, nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden (§ 128 Abs 1 SGG), hat danach nicht vorgelegen.

Das angefochtene Urteil war aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an das LSG zurückzuverweisen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657081

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