Leitsatz (redaktionell)

Eine Selbsttötung kann schon dann rechtlich wesentlich durch einen Arbeitsunfall verursacht sein, wenn die Fähigkeit zur Willensbildung durch Auswirkungen des Unfalls beeinträchtigt - nicht notwendig ausgeschlossen - war.

 

Normenkette

RVO § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 7. Januar 1958 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen insoweit aufgehoben, als die Berufung der Klägerin gegen das in der Sache RU 27/52 ergangene Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 24. März 1954 zurückgewiesen worden ist. Insoweit wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die Klägerin beansprucht Sterbegeld und Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung (UV). Sie ist der Auffassung, die Selbsttötung ihres Ehemannes sei die Folge eines Arbeitsunfalls vom 1. September 1945.

Der Ehemann der Klägerin, der im Jahre 1893 geborene Bankangestellte Ludwig St, stürzte am 1. September 1945 auf einer Innentreppe im Bankgebäude der Filiale Passau der Bayerischen Vereinsbank und wurde nach einiger Zeit bewußtlos am Fuße der Treppe aufgefunden. Er wurde zunächst von dem Arzt Dr. U behandelt und dann an den Facharzt für Nervenkrankheiten, Med.-Rat Dr. F, überwiesen, der zunächst eine Buergersche Erkrankung (Thrombangiitis obliterans) annahm. Im Dezember 1945 und später nochmals im Januar 1949 wurde der Ehemann der Klägerin in der Universitätsnervenklinik in München stationär untersucht, im Dezember 1949 in der II. Medizinischen Universitätsklinik München. Die Beklagte zog u. a. ausführliche Gutachten dieser Kliniken bei sowie Aktengutachten von Prof. F (St. Elisabeth-Krankenhaus Bonn), von Prof. D (Neurologische Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf) und dem Facharzt für Orthopädie Dr. Sch. Der Ehemann der Klägerin hat die Arbeit in der Bank bis zu seinem Tode nicht wieder aufgenommen.

Durch Bescheid vom 21. Mai 1951 gewährte die Beklagte schließlich für die Folgen des Unfalls eine Dauerrente, vom 1. September 1947 an in Höhe von 25 v. H. der Vollrente. Als Unfallfolgen sind in dem Bescheid anerkannt: Zustand nach Hirnerschütterung mit nervösen Beschwerden, wie sie nach Kopfverletzungen aufzutreten pflegen. Im übrigen ist in dem Bescheid ausgeführt: Die bestehenden Kopfschmerzen und Schwindelerscheinungen sind jedoch nur zum Teil auf den Unfall zurückzuführen, zum Teil sind sie Folgen der allgemeinen Wirbelsäulenerkrankung (Osteochondrose), die durch den Unfall weder verursacht noch verschlimmert worden ist.

Gegen den Bescheid vom 21. Mai 1951 legte der Ehemann der Klägerin Berufung beim Oberversicherungsamt (OVA) Landshut ein mit dem Antrag, die Beklagte zur Zahlung der Vollrente zu verurteilen. Zur Begründung wies der Ehemann der Klägerin u. a. darauf hin, daß er nach dem Unfall nie wieder arbeitsfähig geworden sei und seinen wirtschaftlich sehr aussichtsreichen Beruf als Bankangestellter habe aufgeben müssen.

In der Nacht zum 11. Oktober 1951 atmete der Ehemann der Klägerin in der Küche seiner Wohnung Leuchtgas ein und ist an den Folgen dieser Vergiftung auf dem Transport ins Krankenhaus gestorben. Das Pathologische Institut der Universität München hat am 13. Oktober 1951 eine Leichenöffnung durchgeführt und über das Ergebnis ein von Prof. Dr. H und Priv.-Dozent Dr. G unterzeichnetes Gutachten erstattet.

Durch Bescheid vom 5. Januar 1952 lehnte die Beklagte den Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenentschädigung mit der Begründung ab, der Tod des Ehemannes der Klägerin stehe mit dem Unfall vom 1. September 1945 nicht in ursächlichem Zusammenhang.

Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin Berufung beim OVA Landshut eingelegt. Außerdem hat sie erklärt, daß sie das Verfahren über die von ihrem Ehemann gegen den Bescheid vom 21. Mai 1951 eingelegte Berufung weiterführen wolle.

Die beiden Berufungen gegen die Bescheide der Beklagten sind nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nach § 215 Abs. 2 und 4 SGG als Klagen auf das Sozialgericht (SG) Landshut übergegangen. Dieses hat durch Urteile vom 24. März 1954 (RU 1/51 und RU 27/52) beide Klagen abgewiesen.

Die Klägerin hat gegen beide Urteile Berufung beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Zur Begründung hat sie hinsichtlich des Anspruchs auf Hinterbliebenenrente u. a. ausgeführt: Der Unfall habe aus ihrem Ehemann einen Krüppel gemacht. Ihr Ehemann habe auch aus einem Schreiben eines Prof. Dr. G, das zu seiner Kenntnis gelangt sei, erfahren, daß er höchstens noch ein Jahr zu leben habe. Infolgedessen habe er unter schwersten Depressionen gelitten. Es sei auch noch hervorzuheben, daß sechs schwere und schmerzhafte Eingriffe zur Feststellung der Hirnbeschaffenheit dazu beigetragen hätten, seinen Lebenswillen zu brechen. Außerdem habe er unter "wahnsinnigen" Schmerzen gelitten, die offenbar auf eine Wirbelsäulenschädigung durch den Unfall zurückzuführen seien.

Das LSG hat ein Gutachten des Direktors der Nervenklinik der Universität München, Prof. Dr. K, beigezogen und in dem Gutachtensauftrag u. a. die Frage gestellt: "Hat St den Selbstmord in einem die freie Willensbetätigung ausschließenden Zustand (Unzurechnungsfähigkeit) begangen? Falls ja: Ist diese Unzurechnungsfähigkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den angeschuldigten Arbeitsunfall zurückzuführen?" Das Gutachten (vom 26. September 1957) ist von Prof. Dr. K und für die neuroradiologische Begutachtung von Priv.-Dozent Dr. D, für die psychiatrische Begutachtung von Priv.-Dozent Dr. M unterzeichnet. Die vom LSG gestellten Fragen sind wie folgt beantwortet: Es könne nicht entschieden werden, ob Herr St den Selbstmord in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand begangen habe. Wenn Unzurechnungsfähigkeit bestanden habe, so sei es unwahrscheinlich, daß diese ganz oder zu einem wesentlichen Teil auf den Arbeitsunfall und dessen Folgen zurückzuführen sei.

Das LSG hat durch Beschluß die beiden Berufungen zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden (§ 113 SGG) und durch Urteil vom 7. Januar 1958 beide Berufungen zurückgewiesen. Die Revision ist vom LSG nicht zugelassen worden.

Hinsichtlich der Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit in dem Bescheid der Beklagten vom 21. Mai 1951 ist in dem Urteil des LSG u. a. ausgeführt, die Wahrscheinlichkeit sei ausgeschlossen, daß der Arbeitsunfall zu einem Schädelbruch und einer Hirnsubstanzschädigung geführt habe. Vielmehr habe lediglich eine allerdings wohl erhebliche Gehirnerschütterung vorgelegen. Wenn auch sehr schwere direkte traumatische Einwirkungen auf die Halswirbelsäule erfolgt sein könnten, so seien doch die dadurch bewirkten Reizerscheinungen nach längstens 6 bis 8 Monaten vollkommen abgeklungen gewesen. Die dann noch allenfalls vorhandenen Beschwerden könnten nur auf den schicksalsmäßigen Verlauf der Grundkrankheit (Osteochondrose) zurückgeführt werden.

Hinsichtlich des Anspruchs auf Hinterbliebenenentschädigung ist im Urteil ausgeführt: Nach ständiger Rechtsprechung werde ein Selbstmord nur dann als Arbeitsunfall anerkannt, wenn er im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit begangen und diese auf einen Arbeitsunfall zurückzuführen sei. Nach dem Gutachten der Universitätsnervenklinik könne aber nicht entschieden werden, ob Unzurechnungsfähigkeit vorgelegen habe, wenn sie aber bestanden haben sollte, so sei es unwahrscheinlich, daß sie ganz oder zu einem wesentlichen Teil auf den Arbeitsunfall zurückzuführen sei. Der Einwand, daß der Ehemann der Klägerin unerträgliche Kopfschmerzen gehabt habe, die dadurch entstanden oder verschlimmert worden seien, daß die Osteochondrose der Halswirbelsäule durch den Unfall verschlimmert worden sei, treffe nicht zu, da eine solche Verschlimmerung längstens nach 6 bis 8 Monaten wieder vollkommen abgeklungen sein müsse.

Das Urteil des LSG ist dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin am 5. März 1958 zugestellt worden. Dieser hat am 29. März 1958 für die Klägerin Revision eingelegt und sie zugleich auch begründet. Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und beiden Klagen stattzugeben.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Der erkennende Senat hat durch Beschluß vom 7. Dezember 1960 die vom LSG angeordnete Verbindung der beiden Streitsachen aufgehoben und die Revision der Klägerin gegen das Urteil des LSG insoweit als unzulässig verworfen, als die Berufung der Klägerin gegen das in der Sache RU 1/51 ergangene Urteil des SG Landshut vom 24. März 1954 zurückgewiesen worden ist.

II

Die Revision der Klägerin ist in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden. Wie der Senat bereits im Beschluß vom 7. Dezember 1960 (2 RU 82/58) dargelegt hat, handelt es sich bei dem Anspruch der Klägerin auf Gewährung der Verletztenrente, die ihr Ehemann bis zu seinem Tode zu fordern hatte, den sie auf Grund des § 614 aF der Reichsversicherungsordnung geltend macht, und dem Anspruch der Klägerin auf Gewährung der Hinterbliebenenbezüge um selbständige prozessuale Ansprüche, so daß die Voraussetzungen für die Statthaftigkeit der Revision für jeden Anspruch gesondert zu prüfen sind (BSG 8, 228).

Da das LSG die Revision nicht zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), hängt die Statthaftigkeit der Revision gegen das Urteil des LSG, soweit dieses Urteil den Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenbezüge betrifft, davon ab, ob die Voraussetzungen der Nr. 2 oder der Nr. 3 des § 162 Abs. 1 SGG gegeben sind.

Abgesehen von den Rügen, mit denen die Revision die tatsächlichen Feststellungen des LSG angreift, rügt die Revision auch die Entscheidung des LSG hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Arbeitsunfall vom 1. September 1945 und dem Tod des Ehemannes der Klägerin. Diese Rüge ist geeignet, die Statthaftigkeit der Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG zu begründen.

Das LSG ist der Auffassung, eine Selbsttötung könne rechtlich nur dann als Folge eines Arbeitsunfalls anerkannt werden, wenn die Selbsttötung in einem Zustand der Unzurechnungsfähigkeit ausgeführt worden sei, die durch den Unfall verursacht war. Diese Auffassung, die vom Reichsversicherungsamt in ständiger Rechtsprechung vertreten worden ist (AN 1888, 328 Nr. 206; AN 1892, 320 Nr. 1161; EuM 25, 7), beruht, wie der erkennende Senat im Urteil vom 18. Dezember 1962 (BSG 18, 163) näher dargelegt hat, auf einer rechtlichen Unterbewertung der psychischen Reaktionen und muß im Ergebnis dazu führen, daß nur die Auswirkungen des Unfalls rechtlich gewürdigt werden, die in Form einer als somatogen geltenden geistigen Erkrankung in Erscheinung treten. Eine solche einschränkende rechtliche Auswahl innerhalb der ursächlich zu einer Selbsttötung führenden Geschehensabläufe ist jedoch nach der Auffassung des erkennenden Senats mit dem für die Rechtsprechung der gesetzlichen UV entwickelten Ursachenbegriff (vgl. hierzu BSG 1, 150, 156) nicht vereinbar. Wie der Senat in dem angeführten Urteil ausgeführt hat, darf die Prüfung, welche "Ursachen" für eine Selbsttötung rechtlich als wesentlich anzusehen sind, nicht auf die Geschehensabläufe beschränkt werden, die sich auf körperlich-organischem Gebiet abgespielt haben, vielmehr sind auch Vorgänge im Bereich des Psychischen und Geistigen hinsichtlich ihrer rechtlichen Bedeutung zu würdigen (vgl. hierzu auch BGHZ 20, 13).

Das Urteil des LSG beruht somit auf einer unrichtigen Anwendung des für die Rechtsprechung in der gesetzlichen UV geltenden Ursachenbegriffs. Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG statthaft und somit zulässig. Sie ist auch begründet, denn das LSG hatte von seinem Rechtsstandpunkt aus keine Veranlassung, im einzelnen die Frage zu prüfen, welche psychischen Vorgänge die Ursache für den "Entschluß" des Ehemannes der Klägerin zur Selbsttötung waren. Das Urteil enthält deshalb insbesondere auch keine Feststellungen darüber, ob bei dem Ehemann der Klägerin eine reaktive Depression, d. h. ein Zustand bestand, in dem die Fähigkeit zur Willensbildung zwar grundsätzlich noch erhalten ist, der jedoch auf eine verändernde Entwicklung der Persönlichkeit schließen läßt. Infolgedessen fehlt es auch an Feststellungen darüber, worauf ggfs. eine solche Veränderung der Persönlichkeit zurückzuführen ist und inwieweit sie durch Auswirkungen des Unfalls verursacht ist. Das LSG hat zwar festgestellt, daß die Kopfschmerzen, die nach dem Vortrag der Klägerin eine der Ursachen für die Selbsttötung gewesen sein sollen, nicht durch Auswirkungen des Unfalls verursacht worden seien. Jedoch ist zu berücksichtigen, daß die Klägerin in der Berufungsinstanz, insbesondere im Schriftsatz vom 5. November 1957, auch andere Umstände angeführt hat, die ihrer Meinung nach für die Entwicklung einer Depression ursächlich waren. Es ist hiernach nicht von vornherein auszuschließen, daß das LSG bei weiterer Aufklärung des Sachverhalts, wozu auch der Versuch gehört, näheres über den psychischen Zustand des Klägers in den Jahren nach dem Unfall zu ermitteln, zu einem für die Klägerin günstigeren Ergebnis hinsichtlich der Frage kommt, ob der "Entschluß" des Ehemannes der Klägerin zur Selbsttötung in rechtlich-wesentlichem Umfang durch Auswirkungen des Unfalls vom 1. September 1945 verursacht war. Das Urteil des LSG muß deshalb auf die Revision der Klägerin insoweit aufgehoben werden, als die Berufung der Klägerin gegen das in der Sache RU 27/52 ergangene Urteil des SG Landshut vom 24. März 1954 zurückgewiesen worden ist. Da eine Entscheidung des Revisionsgerichts in der Sache selbst infolge des Fehlens ausreichender Feststellungen nicht möglich ist, muß die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2374869

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