Leitsatz (amtlich)

Die Berufung ist nach SGG § 147 nicht ausgeschlossen, wenn bei der Arbeitslosenfürsorgeunterstützung die Unterstützungsvoraussetzung der Bedürftigkeit als solche streitig ist. Bei deren Prüfung ist in erster Linie von den Unterhaltsvorschriften des BGB auszugehen. Sie werden durch die AlfuV BY nicht berührt.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Der Begriff "Arbeitslosenversicherung" in SGG § 147 umfaßt auch die Arbeitslosenfürsorge.

2. Der Streit betrifft nicht allein die Höhe der Arbeitslosenfürsorgeunterstützung, wenn die Bedürftigkeit verneint wird.

 

Normenkette

SGG § 147 Fassung: 1953-09-03; AlfuV BY § 6; BGB § 1601 Fassung: 1896-08-18; AlfuV BY §§ 1, 3

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 11. November 1955 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I. Die 1910 geborene Klägerin bezog bis zum 15. Juli 1953 Arbeitslosenunterstützung (Alu). Ihr Antrag auf Arbeitslosenfürsorgeunterstützung (Alfu) wurde vom Arbeitsamt Bayreuth mit Bescheid vom 25. Juli 1953 abgelehnt, weil sie nach § 1 in Verbindung mit § 3 der Bayerischen Verordnung über die Arbeitslosenfürsorge (Bayer. AlfuVO ) nicht bedürftig sei. Da die Klägerin mit ihren Eltern im gemeinsamen Haushalt lebte und ihr Vater eine Pension von monatlich 228,78 DM bezog, stellte das Arbeitsamt unter Berücksichtigung eines Freibetrages von wöchentlich 33.-- DM für die Eltern einen anrechenbaren Betrag von wöchentlich 19,80 DM fest, der den Tabellensatz der Alfu (19,50 DM) überstieg.

Die Klägerin erhob Einspruch, weil ihre Eltern sie wegen hohen Alters nicht unterstützen könnten, und beantragte unter Hinweis auf § 99 Abs. 1 Satz 3 AVAVG in der Fassung des Änderungsgesetzes (ÄndG) vom 24. August 1953, ihr die Alu weiter zu gewähren, da sie eine ununterbrochene versicherungspflichtige Beschäftigung von 183 Wochen nachweisen könne. Der Einspruch wurde durch Entscheidung des Spruchausschusses vom 9. September 1953 zurückgewiesen, und zwar, soweit er die Alfu betraf, mangels Bedürftigkeit, soweit Weitergewährung der Alu beantragt war, weil der Anspruch der Klägerin bereits vor Inkrafttreten des ÄndG erschöpft war. Auf Antrag bewilligte ihr das Arbeitsamt jedoch auf Grund der Erhöhung der Unterstützungssätze durch das ÄndG mit Bescheid vom 17. September 1953 vom 3. August an Alfu von wöchentlich -, 60 DM.

II. Die Berufung der Klägerin ging am 1. Januar 1954 als Klage auf das Sozialgericht Bayreuth über. Die Klägerin begründete sie u.a. damit, daß ihre Eltern wegen ihres hohen Alters nicht mehr in einer Krankenkasse aufgenommen worden seien und monatlich für Heilmittel und Medikamente 35,- bis 45,- DM selbst zahlen müssten. Hierzu legte sie Nachweise und in der mündlichen Verhandlung eine ärztliche Bescheinigung vor, wonach die Eltern infolge des durch ihre Leiden bedingten sehr hohen Arzneimittelverbrauchs erheblich vermehrte Lebenshaltungskosten hätten.

Mit Urteil vom 2. Juni 1954 wies das Sozialgericht die Klage mangels Bedürftigkeit ab. Aufwendungen für Medikamente seien keine Werbungskosten und könnten deshalb nicht berücksichtigt werden. In den Anrechnungsvorschriften des § 6 der Bayer. AlfuVO sei erschöpfend geregelt, wann Alfu gewährt werden könne, sie gingen den Unterhaltsvorschriften des bürgerlichen Rechts vor, so daß § 1603 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) nicht angewandt werden könne.

Berufung wurde nicht zugelassen.

Auf die Berufung der Klägerin hob das Bayerische Landessozialgericht mit Urteil vom 11. November 1955 das Urteil des Sozialgerichts auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses zurück. Es sah die Berufung als nach § 143 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig an. § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG stehe nicht entgegen, da der Anspruch auf Alfu zeitlich grundsätzlich nicht begrenzt sei, im vorliegenden Falle aber auch ein Anspruch auf mehr als 13 Wochen geltend gemacht werde, nämlich für die Zeit vom 16. Juli bis zum 18. Oktober 1953. Der Einwand der Beklagten in der mündlichen Verhandlung, der Anspruch auf Auszahlung für die Zeit vom 10. bis zum 18. Oktober 1953 sei nach § 116 AVAVG verfallen, berühre den Anspruch auf Alfu als solchen nicht. Auch durch § 147 SGG werde die Berufung nicht ausgeschlossen, da der Streit zunächst um die Frage gehe, ob überhaupt ein Anspruch der Klägerin auf Alfu bestehe und welche rechtlichen Voraussetzungen zum Bezug erfüllt sein müßten. Streitgegenstand sei also nicht in erster Linie die Berechnung und damit die Höhe der Alfu.

In der Sache selbst ist das Landessozialgericht der Auffassung wie das Sozialgericht, daß die Anrechnungsvorschriften des § 6 der Bayer. AlfuVO gegenüber den §§ 1601 ff. BGB die spezielleren Rechtsnormen sind und diesen damit vorgehen. Andernfalls würden die Anrechnungsvorschriften gegenstandslos werden. Dagegen müsse der Begriff "Werbungskosten" bei der Prüfung der Bedürftigkeit weiter ausgelegt werden als im Steuerrecht. Mehraufwendungen, die das Einkommen der Angehörigen in außergewöhnlicher Weise übermäßig belasten, müßten abgesetzt werden. Die Klärung dieser Sachlage obliege dem Sozialgericht.

Revision ist zugelassen worden.

III. Gegen das am 26. April 1956 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 24. Mai 1956 Revision eingelegt und beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts als unbegründet zurückzuweisen, hilfsweise, die Sache zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen. Sie hat die Revision am 22. Juni 1956 begründet und darin einen Verstoß gegen § 6 Abs. 1 Buchst. b der Bayer. AlfuVO gerügt. Der Auffassung des Landessozialgerichts, daß diese Vorschrift als lex specialis den §§ 1601 ff. BGB vorgeht, tritt sie bei, wendet sich aber dagegen, außergewöhnliche Belastungen von der Anrechnung freizulassen. Dies widerspreche den Wortlaut des Gesetzes. Nur der Gesetzgeber könne etwaige Härten ausräumen.

Die Klägerin hat beantragt, die Revision zurückzuweisen.

IV. Die Revision ist zulässig und begründet.

Streitgegenstand sind die Verwaltungsakte der Beklagten vom 25. Juli 1953 in der Gestalt der Spruchausschußentscheidung vom 9. September 1953, womit die Alfu mangels Bedürftigkeit abgelehnt wurde, und vom 17. September 1953, mit dem der Klägerin eine Alfu von wöchentlich -,60 DM vom 3. August ab gewährt worden ist. Letzterer Bescheid ist gemäß § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden.

V. Der Senat hatte zunächst zu prüfen, ob schon die Berufung zulässig gewesen war. Zutreffend hat das Landessozialgericht festgestellt, daß § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG sie nicht ausschließt, da die Alfu in ihrer Dauer nicht begrenzt ist. Aber auch § 147 SGG hat nicht entgegengestanden. Nach dieser Vorschrift können in Angelegenheiten der Arbeitslosenversicherung Urteile mit der Berufung nicht angefochten werden, die Beginn oder Höhe der Unterstützung betreffen. Der erkennende Senat hat mit Beschluß vom 21. Dezember 1956 (BSG. 4 S. 211) und mit Urteil vom 28. März 1957 (BSC.5 S.92 [94]) entschieden, daß der Begriff "Arbeitslosenversicherung" im § 147 SGG auch die Arbeitslosenfürsorge umfaßt. Wenn der Streit hier allein um die Höhe der Alfu gehen würde, hätte das Urteil des Sozialgerichts mit der Berufung nicht angefochten werden können. Der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 25. Juli 1953 verneint Bedürftigkeit "im Sinne des § 1 in Verbindung mit § 3 der Verordnung vom 24.11.1948 / 30.5.1949". Wenn aber damit schon das Vorliegen einer Grundvoraussetzung des Anspruchs nicht anerkannt wird, betrifft der Streit nicht allein die Höhe der Alfu. Dies würde nur dann zutreffen, wenn die streitige Anspruchsvoraussetzung - die Bedürftigkeit - bejaht, aber danach noch über die Höhe der Alfu gestritten wird. In entsprechender Weise hat das Bundessozialgericht den § 148 Nr. 4 SGG ausgelegt (vgl. BSG. 3 S. 124; 4 S. 70, 268; SozR. SGG § 148 Bl. Da 2 Nr. 6), soweit als Voraussetzung des Anspruchs auf Ausgleichsrente die Sicherstellung des Lebensunterhalts in Frage stand.

Zweifel, ob § 147 SGG anzuwenden wäre, könnten gleichwohl entstehen, wenn die Frage der Bedürftigkeit lediglich anhand der Anrechnungsvorschriften, also in Form einer reinen Berechnung geprüft werden müsste. Das kommt aber jedenfalls im vorliegenden Falle nicht in Betracht. Vielmehr ist zunächst festzustellen, ob die Anspruchsvoraussetzung der Bedürftigkeit als solche gegeben ist. Deshalb war die Berufung nach § 143 SGG zulässig.

VI. Die Klägerin begehrt die Alfu auf Grund der Verordnung des Bayerischen Staatsministers für Arbeit und Soziale Fürsorge über die Arbeitslosenfürsorge vom 24. November 1948 in der Fassung vom 30. Juni 1949 (Bayer, GVBl. 1949 S. 25, 172). Der Geltungsbereich der maßgeblichen Vorschriften dieser Verordnung erstreckt sich - mindestens seinem Inhalt nach - über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus (§ 162 Abs. 2 SGG) und ist demgemäß revisibles Recht.

Im § 1 dieser Verordnung wird die Bedürftigkeit als Anspruchsvoraussetzung programmatisch aufgeführt, im § 3 ihr Inhalt dahin erläutert, daß bedürftig im Sinne des § 1 ist, wer den notwendigen Lebensunterhalt weder aus eigenen Kräften und Mitteln, noch mit Hilfe von Angehörigen bestreiten kann. Hierzu gibt § 6 Anrechnungsvorschriften. Sie können grundsätzlich jedoch erst angewandt werden, wenn die Bedürftigkeit als solche bejaht und dann deren Grad zu ermitteln ist. Dagegen ist es jedenfalls in einem Falle wie hier nicht angängig, lediglich auf Grund dieser Anrechnungsvorschriften, also mit einer reinen Berechnung, die Bedürftigkeit dem Grunde nach zu verneinen; denn gemäß § 3 ist zur Feststellung, ob der Arbeitslose seinen Lebensunterhalt mit Hilfe von Angehörigen bestreiten kann, zunächst zu prüfen, welche Angehörigen vorhanden sind, in welchem rechtlichen Verhältnis sie zum Arbeitslosen stehen und inwieweit sie rechtlich verpflichtet sind, ihm Unterhalt zu gewähren.

Die Auffassung des Sozialgerichts, des Landessozialgerichts und der Beklagten, die Anrechnungsvorschriften des § 6 gingen als Spezialbestimmungen den Unterhaltsvorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches vor, ist nicht richtig. Diese Anrechnungsvorschriften enthalten nur ein vereinfachtes Berechnungsverfahren zur Feststellung des Ausmaßes der Bedürftigkeit, sollen und können aber reichs- oder bundesrechtliche Vorschriften über die an sich bestehende Unterhaltsverpflichtung nicht abändern oder außer Kraft setzen.

Die Bayer. AlfuVO ist auf Grund der §§ 115, 140 Abs. 1 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) vom 16. Juli 1927 (RGBl. I S. 187) in der Fassung des Gesetzes Nr. 82 zur Änderung des AVAVG vom 20. Oktober 1947 (Bayer. GVBl. S. 185) erlassen worden. Der für die vorliegende Frage hauptsächlich in Betracht kommende § 115 Abs. 1 AVAVG lautet:

"Der Arbeitsminister wird ermächtigt, im Einvernehmen mit den zuständigen Landesbehörden zu bestimmen, daß abweichend von den Vorschriften der §§ 95 bis 99, 105 bis 107 Arbeitslosenunterstützung als Arbeitslosenfürsorge aus Landesmitteln durch die Arbeitsämter gewährt wird".

Damit wurde der Arbeitsminister nur ermächtigt, von den Vorschriften über die Anwartschaftserfüllung (§§ 95 ff.), die Unterstützungsdauer (§ 99) und die Bemessung der Unterstützung (§§ 106 ff.) abzuweichen, nicht aber die grundlegenden Unterhaltsvorschriften des BGB abzuändern. Es wäre auch nicht zulässig gewesen, einem Landesminister diese Befugnis zu geben. Im übrigen geht aus den Anrechnungsvorschriften selbst hervor, daß die Unterhaltsvorschriften des BGB nicht berührt werden sollten; denn nach § 6 Abs. 1 Buchst. b der Bayer. AlfuVO ist u.a. in bestimmtem Umfang das Einkommen der Angehörigen des Arbeitslosen anzurechnen, "die mit ihm im gemeinsamen Haushalt leben und ihm auf Grund einer rechtlichen Pflicht Unterhalt zu gewähren haben." Hiernach ist zunächst zu prüfen, ob eine Rechtspflicht zur Gewährung von Unterhalt besteht, und zwar ausgehend von d en Unterhaltsvorschriften des BGB.

Nach § 1601 BGB sind Verwandte in gerader Linie verpflichtet, einander Unterhalt zu gewähren. Sofern es sich - wie hier - um einen volljährigen Angehörigen handelt, wird die Unterhaltspflicht durch § 1603 Abs. 1 BGB jedoch eingeschränkt; denn danach ist unterhaltspflichtig nicht, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung seines standesmäßigen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren, Ob dies der Fall war, mußte deshalb zunächst geklärt werden. Hierbei wären auch die außergewöhnlichen Belastungen zu berücksichtigen, die den Eltern der Klägerin infolge ihres Alters und Gesundheitszustandes laufend entstehen. Insoweit kann dahingestellt bleiben - ob der Aufwand für Heil- und Stärkungsmittel unter den steuerrechtlichen Begriff der "Werbungskosten" fällt.

Würde sich danach herausstellen, daß der standesmäßige Unterhalt gefährdet war, so ist kein Raum für die Anrechnung des väterlichen Einkommens, sondern die Bedürftigkeit hätte ohne Einschränkung bejaht werden müssen, wenn die sonstigen Voraussetzungen vorlagen.

VII. Das Landessozialgericht hat den Begriff der Unterhaltspflicht im Sinne der Bayer. AlfuVO verkannt und es darum unterlassen, die erforderlichen Feststellungen über die Unterhaltspflicht nach den §§ 1601 ff. BGB zu treffen. Deshalb mußte das Urteil des Landessozialgerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1983897

BSGE, 92

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