Leitsatz (amtlich)

Die Voraussetzungen der letzten Alternative des AVG § 42 S 1 (= RVO § 1265 S 1) sind in der Regel nur erfüllt, wenn sich die Unterhaltszahlungen des Versicherten an seine frühere Ehefrau auf den vollen Jahreszeitraum vor dem Tode des Versicherten erstreckt haben.

 

Normenkette

AVG § 42 S. 1 Alt. 3 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1265 S. 1 Alt. 3 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 24. Juli 1964 und das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 2. Dezember 1963 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind der Klägerin nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Klägerin, geboren 1911, begehrt von der Beklagten Hinterbliebenenrente nach ihrem früheren Ehemann H H (H.), der am 17. Oktober 1960 verstorben ist. Ihre im Jahre 1935 geschlossene Ehe mit dem Versicherten H. wurde im Februar 1959 aus der Alleinschuld des Versicherten geschieden. Bereits vor der Scheidung hatte die Klägerin durch Vergleich auf Unterhaltsansprüche gegen H. mit Ausnahme des Notbedarfs verzichtet. H. bezog seit Februar 1955 Rente wegen Berufsunfähigkeit, die zuletzt 259,- DM monatlich betrug; er erhielt davon seit 1. Juli 1960 189,20 DM ausgezahlt, im übrigen war die Rente teils wegen Unterhaltsansprüchen eines Sohnes der Eheleute gepfändet, teils von der Allgemeinen Ortskrankenkasse wegen einer Forderung gegen H. in Anspruch genommen. Die Klägerin war von September 1956 bis Januar 1961 bei der Firma S gegen ein Entgelt von 230 bis 280 DM monatlich beschäftigt.

Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin durch Bescheid vom 9. Januar 1962 ab, weil die Voraussetzungen des § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) nicht erfüllt seien; es sei nicht nachgewiesen, daß H. der Klägerin, wie sie behauptet, ohne rechtliche Verpflichtung Unterhalt geleistet habe. Das Sozialgericht (SG) Berlin hob den Bescheid der Beklagten vom 9. Januar 1962 auf und verurteilte die Beklagte zur Gewährung von Rente an die Klägerin vom 1. November 1960 an (Urteil vom 2. Dezember 1963). Das Landessozialgericht (LSG) Berlin wies die Berufung der Beklagten zurück (Urteil vom 24. Juli 1964): Der Anspruch der Klägerin sei nach der letzten Alternative des § 42 AVG begründet. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe fest, daß H. der Klägerin von April oder Mai 1960 an bis zu seinem Tode (Oktober 1960) monatlich 50 DM als Unterhalt gezahlt habe. Damit seien die Voraussetzungen der letzten Alternative des § 42 AVG - also Unterhaltsleistung "im letzten Jahr vor dem Tode" - erfüllt; diese Vorschrift zwinge nicht zu der Auslegung, daß in der Regel der Unterhalt während des ganzen Jahres vor dem Tode geleistet sein müsse; es genüge, daß der Versicherte den durch seine Zahlungen bekundeten Willen gehabt habe, auch weiterhin Unterhalt zu leisten und daß er an der Verwirklichung dieser Absicht nur durch den Tod gehindert worden sei; dies sei hier der Fall gewesen. H. habe die Klägerin durch die Aufnahme der Unterhaltszahlungen im Jahre 1960 bewegen wollen, wieder mit ihm zusammenzuleben, es sei deshalb anzunehmen, daß er weiterhin Unterhalt gezahlt hätte, dies ergebe sich auch aus einer schriftlichen Erklärung des H. kurz vor seinem Tode. Diese Auslegung entspreche auch dem Sinn und Zweck des § 42 AVG, vor allem der Unterhaltsersatzfunktion der Rente. Das LSG ließ die Revision zu. Das Urteil wurde der Beklagten am 24. August 1964 zugestellt.

Am 12. September 1964 legte die Beklagte Revision ein, sie beantragte,

das Urteil des LSG und das Urteil des SG Berlin vom 2. Dezember 1963 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Zur Begründung trug die Beklagte vor, das LSG habe § 42 AVG verletzt; bei der letzten Alternative dieser Vorschrift sei bewußt - anders als bei den ersten Alternativen - auf die Unterhaltsgewährung über einen längeren Zeitraum abgestellt; erst wenn vom Versicherten Leistungen über einen gewissen Zeitraum hinweg regelmäßig erbracht worden seien, könnten sie zu einem echten Unterhaltsbeitrag werden und dazu führen, daß die frühere Ehefrau ihre Lebensführung darauf einrichte. Dies sei hier nicht der Fall, weil H. nur sechs bis sieben Monate im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet habe. Es komme hinzu, daß die Klägerin wegen der äußerst beschränkten finanziellen Verhältnisse des H. und seines schweren Leidenszustandes nicht schon nach wenigen Monaten auf die Regelmäßigkeit und Dauer der Leistungen des H. habe vertrauen und ihre Lebensführung nicht darauf habe einrichten können.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision der Beklagten ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie ist auch begründet. Das LSG hat zu Unrecht den Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente bejaht.

Nach § 42 AVG - in der vom LSG angewandten Fassung vor dem Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 9. Juni 1965 (RVÄndG), die nunmehr als § 42 Satz 1 AVG weiterbesteht - wird, falls die Wartezeit erfüllt ist oder als erfüllt gilt, einer früheren Ehefrau, deren Ehe mit dem Versicherten geschieden ist, nach dem Tode des Versicherten Rente gewährt, wenn ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG) oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte oder wenn er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat. Es ist unstreitig, daß die beiden ersten Alternativen dieser Vorschrift im vorliegenden Fall wegen des Unterhaltsverzichts der Klägerin nicht gegeben sind; der in dem Unterhaltsverzicht vorbehaltene Fall des Notbedarfs hat nicht vorgelegen. Entgegen der Ansicht des LSG sind jedoch auch die Voraussetzungen der letzten Alternative des § 42 Satz 1 AVG nicht erfüllt. H. hat der Klägerin nicht "im letzten Jahr vor seinem Tode" Unterhalt geleistet.

Nach den Feststellungen des LSG, die von der Beklagten mit der Revision nicht angegriffen und deshalb für das Bundessozialgericht (BSG) bindend sind (§ 163 SGG), hat H. von April oder Mai 1960 an bis zu seinem Tode (17. Oktober 1960) monatlich 50,- DM an die Klägerin gezahlt. Das LSG hat diese Zahlungen zu Recht als "Unterhalt" für die Klägerin angesehen; sie sind offensichtlich für die Bestreitung des Lebensbedarfs der Klägerin - wenn auch nur als Zuschuß zu ihrem eigenen damaligen Erwerbseinkommen - bestimmt gewesen; sie sind auch nicht so geringfügig gewesen, daß sie für die Lebensführung der Klägerin ohne nennenswerte wirtschaftliche Bedeutung gewesen und deshalb nach der Rechtsprechung des BSG nicht als Unterhalt anzusehen wären (vgl. hierzu Urteil des BSG vom 27. Oktober 1964, BSG 22, 44 ff mit weiteren Nachweisen); als Anhaltspunkt hierfür ist in dem Urteil vom 27. Oktober 1964 angenommen worden (aaO S. 48), der von dem Versicherten gezahlte Betrag müsse in der Regel etwa 25 v. H. des Betrages ausmachen, der unter den gegebenen zeitlichen und örtlichen Verhältnissen zur Deckung des notwendigen Mindestbedarfs benötigt werde; bei einem Betrag von 50,- DM monatlich ist dies zu bejahen; diesem Betrag ist auch sowohl absolut als gemessen an dem damaligen eigenen Erwerbseinkommen der Klägerin (230,- bis 280,- DM monatlich) eine nennenswerte wirtschaftliche Bedeutung für die Klägerin zugekommen.

Das LSG hat es aber zu Unrecht für den Rentenanspruch nach § 42 Satz 1 AVG, letzte Alternative, im vorliegenden Fall genügen lassen, daß H. Unterhalt an die Klägerin nur während sechs bis sieben Monaten vor seinem Tode gezahlt hat. Dem LSG kann nicht darin gefolgt werden, daß die Voraussetzungen dieser Alternative "im Regelfall" auch durch Leistungen erfüllt seien, die sich zeitlich auf weniger als ein Jahr erstrecken; dies gilt auch nicht mit der nach den Urteilsgründen vom LSG offenbar selbst für erforderlich gehaltenen Einschränkung, daß diese Leistungen in Verbindung mit sonstigen Umständen den Schluß zulassen müssen, der Versicherte habe beabsichtigt, weiterhin Unterhalt zu leisten, und daß der Wegfall der Leistungen nicht im Willen des Versicherten begründet gewesen sein dürfe. Die Rente nach § 42 AVG hat Unterhaltsersatzfunktion, sie wird gewährt im Hinblick darauf, daß die frühere Ehefrau durch den Tod des Versicherten Rechtsansprüche auf Unterhalt (§ 42 Satz 1 AVG, 1. und 2. Alternative) oder - ohne Rechtspflicht - gewährte Unterhaltsleistungen verliert; für die ersten beiden Alternativen wird im Gesetz auf die "Zeit seines (des Versicherten) Todes", für die letzte Alternative auf die Verhältnisse "im letzten Jahr vor seinem Tode" abgestellt. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG meint das Gesetz mit der "Zeit seines Todes" im Sinne der beiden ersten Alternativen den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten (vgl. zB Urteile des Senats vom 23. Juni 1964, SozR Nr. 22 zu § 1265 der Reichsversicherungsordnung - RVO - und vom 15. Februar 1966 - 11/1 RA 128/62 -; Urteil vom 16. Juni 1961, BSG 14, 255 ff), weil nur bei dieser Auslegung verhindert wird, daß vorübergehende Besonderheiten in den unterhaltsrechtlichen Beziehungen für die Gewährung oder Versagung der Hinterbliebenenrente den Ausschlag geben. Dieser Erwägung ist für die letzte Alternative des § 42 Satz 1 AVG im Gesetz selbst dadurch Rechnung getragen, daß Unterhaltsleistungen des Versicherten den Anspruch auf Rente nur dann auslösen, wenn sie "im letzten Jahr vor seinem Tode" erbracht worden sind. Das bedeutet, daß diese Zahlungen sich in der Regel auf den vollen Jahreszeitraum vor dem Tode des Versicherten erstrecken müssen (vgl. auch die den gleichen Sachverhalt in der Unfallversicherung betreffende Vorschrift des § 592 Abs. 1 RVO idF des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 30. April 1963; dort ist insoweit die Rente davon abhängig gemacht, daß der durch Unfall Verstorbene Unterhalt "wenigstens während des letzten Jahres vor seinem Tode" geleistet hat). Nur diese Auslegung verhindert - ebenso wie die Berücksichtigung des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes in den beiden ersten Alternativen - auch bei der letzten Alternative, daß die Entscheidung über die Gewährung oder Versagung der Rente durch Umstände bestimmt wird, die nicht auf einen Dauerzustand in den Verhältnissen der Beteiligten schließen lassen und objektiv nicht feststellbar sind. Diese Auslegung steht nicht im Widerspruch zu der "Unterhaltsersatzfunktion" der Hinterbliebenenrente, sondern sie wird im Gegenteil durch diese Funktion geboten; nur Leistungen, die regelmäßig über die ganze Dauer des im Gesetz genannten Jahreszeitraums erbracht worden sind, rechtfertigen objektiv die Annahme, der Versicherte hätte auch weiterhin Unterhalt geleistet, die frühere Ehefrau habe sich daher für die Zukunft auf diesen Unterhalt einstellen dürfen; nur dann erscheint es deshalb gerechtfertigt, der Ehefrau bei Wegfall dieser Zahlungen infolge des Todes des Versicherten "Ersatz" durch die Gewährung von Witwenrente zukommen zu lassen. Für die Entscheidung darüber, ob die Voraussetzungen der letzten Alternative gegeben sind, kommt es dabei nur auf die tatsächliche Unterhaltsgewährung in dem Jahr vor dem Tod des Versicherten an; es ist unerheblich, ob der Versicherte, falls er nicht gestorben wäre, weiterhin Unterhalt hätte zahlen können; es kommt ferner nicht darauf an, ob der Versicherte - was sich vielfach gar nicht feststellen läßt - die Absicht gehabt hat, auch weiterhin Unterhalt zu zahlen.

Unterhaltsleistungen während eines Zeitraums von weniger als einem Jahr vor dem Tode des Versicherten können nach der Rechtsprechung des BSG nur in besonderen Ausnahmefällen den Anspruch auf die Hinterbliebenenrente begründen. Ein solcher Ausnahmefall liegt vor, wenn der Tod des Versicherten vor Ablauf eines Jahres seit der Scheidung eingetreten ist (vgl. BSG 14, 255 ff; 20, 252 ff). Hier liegt jedoch zwischen der Scheidung (6. Februar 1959) und dem Tod des Versicherten (17. Oktober 1960) ein Zeitraum von mehr als einem Jahr (20 Monate); im letzten Jahr vor seinem Tode - von Oktober 1959 bis Oktober 1960 - hat der Versicherte nur für die Zeit von April oder Mai bis Oktober 1960, also für die letzten sechs bis sieben Monate vor seinem Tode Unterhalt an die Klägerin gezahlt, nicht für die Zeit von Oktober 1959 bis April oder Mai 1960 (und ebenso auch nicht für die Zeit von der Scheidung im Februar 1959 bis Oktober 1959). Ein weiterer Ausnahmefall ist in BSG 12, 279 ff angenommen worden; rein zeitlich gesehen liegt der Sachverhalt hier zwar ähnlich; auch in jenem Fall hat die Zeit zwischen der Scheidung und dem Tod mehr als ein Jahr - dort etwa 17 Monate - betragen, der Versicherte hat in jenem Fall an die frühere Ehefrau Unterhalt nur in den letzten vier Monaten vor seinem Tode gezahlt; das BSG hat aber in jenem Fall "Besonderheiten" des dort zu beurteilenden Sachverhalts festgestellt, es hat darauf abgehoben, daß "außergewöhnliche Umstände, die der Versicherte weder beeinflussen noch gar beheben konnte" - nämlich sein Aufenthalt in der SBZ in den ersten 13 Monaten nach der Scheidung - ihn schlechthin gehindert haben, die Unterhaltszahlungen an die Klägerin früher aufzunehmen, und daß der Versicherte unmittelbar nach Wegfall dieses "außergewöhnlichen Hinderungsgrundes" die Zahlungen an die frühere Ehefrau (mit der er wieder zusammen gelebt hat) aufgenommen und bis zu seinem Tode ununterbrochen beibehalten habe; auch in jenem Urteil sind also als maßgebend die Verhältnisse während des Jahres vor dem Tode des Versicherten angesehen worden, nicht aber die Verhältnisse, die voraussichtlich bestanden haben würden, falls der Versicherte nicht gestorben wäre; die "Absicht, regelmäßig und auf Dauer Unterhalt gewähren zu wollen", die - beiläufig - in jenem Urteil erwähnt ist, ist erkennbar nicht für sich allein als maßgebend angesehen worden, sondern nur im Zusammenhang mit den weiteren "Besonderheiten" und "außergewöhnlichen Umständen" jenes Falles. Solche "Besonderheiten" haben aber im vorliegenden Fall nicht vorgelegen. Die Voraussetzungen der letzten Alternative des § 42 Satz 1 AVG sind hier deshalb auch ausnahmsweise nicht erfüllt.

Das LSG hat sonach zu Unrecht die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückgewiesen. Auf die Revision der Beklagten sind die Urteile des SG und des LSG aufzuheben, die Klage ist abzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 86

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