Entscheidungsstichwort (Thema)

Beiträge. Anrechnung. nicht nur vorübergehender Aufenthalt

 

Orientierungssatz

1. Zeiten, für die nach früheren Vorschriften der reichsgesetzlichen AV Beiträge wirksam entrichtet worden sind oder als entrichtet gelten, sind nicht nach § 27 Abs 1 Buchst a AVG idF des Art 3 Nr 1 FANG anzurechnen, wenn sie nach einem für die Bundesrepublik Deutschland wirksamen zwischenstaatlichen Abkommen über Sozialversicherung in der Rentenversicherung eines anderen Staates anrechnungsfähig sind. Dies gilt auch für solche Abkommen, die - wie das Erste deutsch-österreichische Sozialversicherungsabkommen vom 21.4. 1951 - vor dem FANG in Kraft getreten sind (vgl BSG 1965-05-25 1 RA 251/62 = BSGE 23, 74).

2. Sinn und Zweck der im Zweiten deutsch-österreichischen Sozialversicherungsabkommen getroffenen Stichtag-Regelung gebieten es, bei der Auslegung des Begriffs "nicht nur vorübergehender Aufenthalt" subjektive, meist schwer zu klärende Umstände weitgehend unberücksichtigt zu lassen und vornehmlich auf objektive Merkmale, also insbesondere die Dauer des tatsächlichen Verweilens abzustellen. Hat sich jemand mehr als sieben Jahre an einem Ort aufgehalten, an dem er seine Familie und seine Arbeitsstelle gehabt hat, so kommt es nicht darauf an, ob er den Willen hatte, diesen Ort bei sich bietender Gelegenheit zu verlassen (vgl BSG 1964-05-27 1 RA 145/60 = BSGE 21, 91)

 

Normenkette

AVG § 27 Abs. 1 Buchst. a Fassung: 1960-02-25; SVAbk AUT 2 Art. 4 Abs. 1 Nr. 2, Art. 5; RVO § 1250 Abs. 1 Buchst. a Fassung: 1960-02-25

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 15.04.1964)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. April 1964 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger, der deutscher Staatsangehöriger ist, begehrt von der Beklagten eine Rente aus den von 1917 bis 1943 zur Reichsversicherungsanstalt für Angestellte (RfA) entrichteten Beiträgen. Er war von 1917 bis 1942 im Gebiet der heutigen sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und danach bis 1954 im Gebiet der Republik Österreich beschäftigt. Im Dezember 1954 ist er von dort in die Bundesrepublik übergesiedelt. Er erhält seit November 1954 von der Angestelltenversicherungsanstalt W ein Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit; die Versicherungsanstalt hat dabei die Beiträge zur RfA und die späteren Beiträge zum österreichischen Versicherungsträger angerechnet. Außerdem zahlt die Landesversicherungsanstalt (LVA) Oberbayern dem Kläger eine Rente aus Versicherungszeiten, die er bis 1917 im Gebiet der jetzigen Bundesrepublik in der Arbeiterrentenversicherung zurückgelegt hat.

Die Beklagte hat den im Februar 1960 gestellten Antrag auf Rente abgelehnt, weil die zur RfA entrichteten Beiträge infolge der mit Österreich geschlossenen Sozialversicherungsabkommen (SV-Abkommen) in die österreichische Versicherungslast gefallen seien. Die Klage und Berufung des Klägers blieben ohne Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) ordnete die Beitragszeiten ebenfalls der österreichischen Versicherungslast zu, und zwar die 1942 und 1943 in Österreich zurückgelegten Zeiten auf Grund von Artikel 24 des 1. SV-Abkommens vom 21. April 1951 (BGBl. 1952 II, 317), die in Mitteldeutschland zurückgelegten Zeiten auf Grund von Art. 4 und 5 des 2. SV-Abkommens vom 11. Juli 1953 (BGBl. 1954 II, 773). Das letzte war nur möglich, wenn sich der Kläger am 11. Juli 1953 (Unterzeichnung des 2. Abkommens) "nicht nur vorübergehend" in Österreich aufhielt. Das LSG bejahte das, weil der Kläger von 1942 bis 1954 in Österreich gelebt und gearbeitet habe und weil es allein auf die Verweildauer, nicht dagegen auf den Aufenthaltswillen ankomme. An der Zuordnung zur österreichischen Versicherungslast habe der deutsch-österreichische Finanz- und Ausgleichsvertrag vom 27. November 1961 (BGBl. 1962 II, 1041) nichts geändert. Die Zuordnung zur österreichischen Versicherungslast habe schon 1954 - dem Beginn der behaupteten Berufsunfähigkeit - Leistungen nach dem Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz (FAG) ausgeschlossen, sie lasse auch nach der Neufassung des § 27 Abs. 1 Buchst. a des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) durch das Fremdrenten- und Auslandrenten-Neuregelungsgesetz (FANG) keine Leistungen aus der deutschen Angestelltenversicherung zu, weil das Abkommensrecht als Spezialregelung dem entgegenstehe. Schließlich könne der Kläger auch keine Leistungen nach Art. 7 des Gesetzes vom 21. August 1962 zum Finanz- und Ausgleichsvertrag erhalten.

Mit der zugelassenen Revision beantragte der Kläger,

die ergangenen Entscheidungen aufzuheben und "die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger aus der Angestelltenversicherung eine Altersrente ab Antragstellung unter Berücksichtigung seiner in der Zeit von 1917 bis 1945 zum deutschen Versicherungsträger entrichteten Beiträge zu gewähren".

Er rügt eine Verletzung des FANG, des AVG und der SV-Abkommen. Die Beitragszeiten seien anrechnungsfähige Versicherungszeiten im Sinne des § 27 AVG. In Österreich habe er sich nur gezwungenermaßen aufgehalten, einen Teil seines Mobiliars habe er zudem schon vor dem 11. Juli 1953 an seinen jetzigen Wohnort bringen lassen.

Die Beklagte beantragte, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

II

Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), aber unbegründet.

Das Urteil des LSG entspricht in jeder Hinsicht der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), von der abzuweichen der Senat keinen Anlaß sieht (BSG 18, 113; 21, 91; 23, 74 sowie die nicht veröffentlichten, den Beteiligten bekannten Urteile des 1. Senats vom 19. November 1965, 1 RA 154/62 und vom 16. Februar 1966, 1 RA 253/63 und des 4. Senats vom 30. November 1965, 4 RJ 55/63). Daher greifen die Einwände des Klägers gegen das Urteil des LSG nicht durch.

Die Revision erhebt zwei Einwände. Der erste betrifft die Nichtanwendung des § 27 Abs. 1 Buchst. a AVG, er gilt für alle bei der RfA zurückgelegten Beitragszeiten, Insoweit ist auf BSG 23, 74 zu verweisen; dort ist mit eingehender und überzeugender Begründung dargelegt, daß Beitragszeiten der früheren reichsgesetzlichen Angestelltenversicherung dann nicht nach § 27 Abs. 1 Buchst. a AVG i. d. F. des Art. 3 Nr. 1 FANG in der Rentenversicherung der Bundesrepublik anzurechnen sind, wenn sie nach einem für die Bundesrepublik Deutschland wirksamen zwischenstaatlichen SV-Abkommen in der Rentenversicherung eines anderen Staates anrechnungsfähig sind; das gilt auch für solche Abkommen, die schon vor dem FANG in Kraft getreten sind, wie das hier bei den beiden SV-Abkommen mit Österreich der Fall gewesen ist.

Der zweite Einwand betrifft die in Mitteldeutschland zurückgelegten Beitragszeiten; er wendet sich gegen die Anwendung des Art. 4 Abs. 1 Nr. 2 und Art. 5 des 2. SV-Abkommens mit Österreich. Nach Art. 4 Abs. 1 (vgl. den Schluß des Absatzes) ist die Übernahme der dort genannten Anwartschaften (= Beitragszeiten, vgl. Art. 9 Abs. 2) in die österreichische Versicherungslast davon abhängig, daß der Berechtigte am 11. Juli 1953 sich nicht nur vorübergehend in Österreich aufgehalten hat. Auch mit diesem Tatbestandsmerkmal hat sich das BSG schon eingehend befaßt (BSG 21, 91 und die bereits zitierten Urteile vom 19. November 1965 und 16. Februar 1966). Hierzu hat der 1. Senat des BSG zutreffend dargelegt, daß nicht nur das übliche Begriffsverständnis, sondern gerade der Sinn und Zweck der Stichtagsregelung - nämlich die Verteilung der Lasten nach klaren Merkmalen - es gebieten, bei der Auslegung des Begriffs "nicht nur vorübergehender Aufenthalt" subjektive, meist schwer zu klärende Umstände weitgehend unberücksichtigt zu lassen und vornehmlich auf objektive Merkmale, also insbesondere die Dauer des tatsächlichen Verweilens abzustellen. Dementsprechend hat der 1. Senat eine Verweildauer von mehreren Jahren (es handelte sich um 7 bzw. 8 Jahre) zur Annahme eines nicht nur vorübergehenden Aufenthaltes genügen lassen; bei einer solchen Verweildauer spiele es keine Rolle, ob und wann der Berechtigte beabsichtigt habe, Österreich zu verlassen, und ob und wodurch er hieran gehindert worden sei; in dem Urteil vom 19. November 1965 wurde ferner wiederholten Besuchen wie auch einer zusätzlichen polizeilichen Anmeldung in der Bundesrepublik keine Bedeutung beigemessen. Mit diesen vom erkennenden Senat gebilligten Grundsätzen steht das angefochtene Urteil im Einklang. Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger von April 1942 bis Dezember 1954 in Österreich lebte und beschäftigt war. Gegen diese tatsächlichen Feststellungen sind keine Revisionsrügen erhoben; sie rechtfertigen die Schlußfolgerung, daß der Kläger am 11. Juli 1953 seinen nicht nur vorübergehenden Aufenthalt in Österreich gehabt hat. Zu diesem Zeitpunkt hielt er sich schon über 11 Jahre in Österreich auf. Angesichts dieser Verweildauer ist es unerheblich, ob der Kläger - wie er vorträgt - im Kriege nach Österreich dienstverpflichtet wurde und nach Kriegsende sofort in die Bundesrepublik übersiedeln wollte, mangels Wohnungsnachweises aber keine Zuzugsgenehmigung erhielt und ob er schon Ende 1952 einen Teil seiner Möbel an seinen jetzigen Wohnort verbringen ließ. Der Annahme eines nicht nur vorübergehenden Aufenthalts in Österreich am 11. Juli 1953 würde auch nicht entgegenstehen, wenn der Kläger - worauf die Ausführungen im Schriftsatz vom 27. April 1966 hindeuten könnten - sich gerade am 11. Juli 1953 in der Bundesrepublik befunden hätte, um seine endgültige Übersiedlung in die Bundesrepublik vorzubereiten; denn einen ununterbrochenen Aufenthalt in Österreich setzt das Gesetz nicht voraus. Das LSG hat deshalb zu Recht die in Mitteldeutschland zurückgelegten Versicherungszeiten der österreichischen Versicherungslast zugeordnet.

Da auch im übrigen (soweit der Kläger keine Einwände erhoben hat) das Urteil des LSG nicht beanstandet werden kann, kann der Kläger hiernach keine Leistungen von der Beklagten verlangen.

Die Revision des Klägers ist deshalb zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2351458

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