Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz auf Heimwegen nach Unterbrechung wegen privater Besorgungen

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Versicherter, der den Weg von dem Ort der versicherten Tätigkeit bis zu 2 Stunden durch eine privaten Zwecken dienende Verrichtung unterbricht, steht auf dem anschließenden restlichen Weg von dem Ort der Tätigkeit wieder unter Versicherungsschutz nach RVO § 550 Abs 1.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Nach einer Unterbrechung des Heimweges wegen privater Verrichtungen lebt der Unfallversicherungsschutz nur in Ausnahmefällen - wenn aus Art und Dauer der Unterbrechung auf eine endgültige Lösung des Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Weg von dem Ort der Tätigkeit zu schließen ist - nicht wieder auf.

2. Die den endgültigen Verlust des Unfallversicherungsschutzes bewirkende Lösung des Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit ist nach den gesamten Umständen, die die private Verrichtung nach Art und Dauer im Einzelfall kennzeichnen, zu beurteilen; bei einer Unterbrechung des Heimweges bis zu 2 Stunden wird - auch wenn lediglich private Gründe Art und Dauer der Unterbrechung bestimmt haben - im allgemeinen keine endgültige Lösung vom Betrieb anzunehmen sein.

 

Normenkette

RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-04-01

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin werden die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 12. März 1975 und des Sozialgerichts Hamburg vom 8. Februar 1974 sowie der Bescheid der Beklagten vom 11. September 1973 aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 10. Mai 1973 zu entschädigen.

Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin verließ am 10. Mai 1973 kurz nach 17.00 Uhr ihre Arbeitsstelle in H, C, und begab sich in ihrem Pkw auf den Heimweg. Dieser verläuft über die H Brücke, R-markt, J-straße und E Weg, wo die Klägerin wohnt. Am 10. Mai 1973 bog die Klägerin am R-markt ab und fuhr in die M-straße, wo sie ihren Wagen abstellte. Sie machte dann einen Informationsbummel, weil sie sich einen Rock und eine Bluse kaufen wollte. Danach setzte sie ihren Heimweg fort, erreichte in der J-straße wieder den üblichen Heimweg und verunglückte auf diesem gegen 19.00 Uhr an der Ecke W/B-straße. Sie zog sich dabei einen Oberschenkelstückbruch rechts, Stückbrüche der Rippen 8 bis 10 rechts, eine Rippenserienfraktur 7 und 8 rechts, eine Prellung der rechten Flanke und einen Schock zu.

Die Beklagte lehnte Entschädigungsansprüche ab, weil die Klägerin durch die privaten Einkäufe und die Dauer dieser privaten Tätigkeit eindeutig zu erkennen gegeben habe, daß sie sich von der betrieblichen Tätigkeit - direkter Weg vom Ort der Tätigkeit - gelöst habe.

Die Klägerin hat Klage erhoben.

Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 8. Februar 1974 die Klage abgewiesen und zur Begründung u. a. ausgeführt: Die Unterbrechung habe mindestens 1 1/2 Stunden gedauert. Bei einer Unterbrechung von mehr als einer Stunde sei eine Lösung vom Betrieb nur zu verneinen, wenn trotz dieses erheblichen Zeitraumes seit Beendigung der versicherten Tätigkeit noch ein rechtlich wesentlicher ursächlicher Zusammenhang zwischen ihr und dem Weg nach Hause zu bejahen sei. Die Umstände des vorliegenden Einzelfalles rechtfertigten eine derartige Schlußfolgerung jedoch nicht.

Die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 12. März 1975 zurückgewiesen. Es hat zur Begründung u. a. ausgeführt: Der Senat könne es dahingestellt lassen, ob vom Verlassen des üblichen Heimweges am R-markt bis zu dem Augenblick, in dem die Klägerin diesen wieder an der Kreuzung G-F--Wall/J-straße erreicht habe, 1 1/2 oder nur 1 1/4 Stunden vergangen gewesen seien. Diese zeitliche Differenz halte der Senat in diesem Fall nicht für rechtserheblich. Nach dem Gesamtergebnis der Ermittlungen stehe fest, daß die Unterbrechung des Heimweges jedenfalls nicht mehr als eine Stunde gedauert habe. Bei einer Unterbrechung des Weges vom dem Ort der Tätigkeit lebe der Versicherungsschutz nicht auf, wenn aus der Dauer und der Art der Unterbrechung auf eine endgültige Lösung des Zusammenhanges zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Weg vom dem Ort der Tätigkeit zu schließen sei. Das Bundessozialgericht (BSG) habe, um eine der Rechtssicherheit dienende zeitliche Grenze zu bestimmen, angenommen, daß bei einer Unterbrechung von etwa einer Stunde keine Lösung vom Betrieb anzunehmen sei, selbst wenn die Art der privaten Verrichtung in keiner Beziehung zur versicherten Tätigkeit stehe. Es habe aber gleichzeitig auch darauf hingewiesen, daß die den endgültigen Verlust des Versicherungsschutzes bewirkende Lösung des Zusammenhanges des Weges vom Ort der Tätigkeit mit der versicherten Tätigkeit nicht allein nach der zeitlichen Dauer der eingeschobenen privaten Verrichtung beurteilt werden dürfe. Maßgebend seien vielmehr stets die näheren Umstände, welche die Art der eigenwirtschaftlichen Verrichtungen im Einzelfall kennzeichneten und von denen die zeitliche Dauer der Unterbrechung nur eines von mehreren Wesensmerkmalen sei. Bei einer Unterbrechung von mehr als einer Stunde wie hier sei eine Lösung vom Betrieb zu verneinen, wenn die Art der Verrichtung oder andere Umstände den ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit für den anschließenden weiteren Heimweg als aufrechterhalten ansehen ließen. Der Senat sei zu der Überzeugung gelangt, daß im vorliegenden Fall die Art der eingeschobenen privaten Verrichtung einen so eindeutigen eigenwirtschaftlichen mit der versicherten Tätigkeit auch im weitesten Sinne nicht in einen inneren Zusammenhang zu bringenden Charakter trage, daß ihr neben dem zeitlichen Moment die rechtlich stärker ins Gewicht fallende Bedeutung zukomme.

Der Senat hat durch Beschluß vom 23. Oktober 1975 die Revision gegen das Urteil des LSG zugelassen.

Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Sie trägt vor: Das BSG habe in seiner Entscheidung vom 25. Mai 1972 ausgeführt, daß bei einer Unterbrechung von etwa einer Stunde im allgemeinen keine Lösung vom Betrieb anzunehmen sei, selbst wenn die Art der privaten Verrichtung in keiner Beziehung zur versicherten Tätigkeit stehe. Aus der so umschriebenen Zeitdauer müsse die Klägerin folgern, daß auch auch bei einer ausschließlich eigenwirtschaftlichen Zwecken dienenden Tätigkeit eine Unterbrechung, die geringfügig eine Stunde überschreitet, den Versicherungsschutz nicht ausschließe. Darüber hinaus habe das LSG die besonderen Umstände des Einzelfalles, die zu prüfen und zu berücksichtigen seien, außer acht gelassen. Es müsse zu ihren Gunsten der durch den starken Feierabendverkehr der Großstadt bedingte unverhältnismäßig große Zeitaufwand für die Besorgung der Angelegenheiten Berücksichtigung finden.

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des LSG Hamburg vom 12. März 1975 und des SG Hamburg vom 8. Februar 1974 sowie den Bescheid der Beklagten vom 11. September 1973 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin wegen der Folgen des am 10. Mai 1973 erlittenen Unfalls Leistungen, insbesondere Verletztengeld und Verletztenrente mach einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) vom mindestens 20 v. H., zu gewähren, hilfsweise, das Urteil des LSG Hamburg aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist begründet.

Als Arbeitsunfall gilt auch ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 - 545 der Reichsversicherungsordnung (RVO) bezeichneten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 550 Abs. 1 RVO). Den Weg von dem Ort ihrer Tätigkeit hat die Klägerin am 10. Mai 1973 nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht nur unerheblich zu privaten Zwecken dienenden Verrichtungen unterbrochen. Während einer privaten Verrichtungen dienenden, erheblichen Unterbrechung des Weges besteht kein Versicherungsschutz; nach Beendigung der Unterbrechung ist auf dem weiteren Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit jedoch Versicherungsschutz grundsätzlich wieder gegeben (s. - jeweils mit weiteren Nachweisen - BSG 20, 219, 221; BSG SozR Nr. 51 zu § 543 RVO aF; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 8. Aufl., S. 486 s II; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 550 Anm. 17 Buchst. a). Nach einer privaten Verrichtungen dienenden erheblichen Unterbrechung des Weges von dem Ort der Tätigkeit lebt der Versicherungsschutz nur in Ausnahmefällen nicht auf, wenn aus der Dauer und der Art der Unterbrechung auf eine endgültige Lösung des Zusammenhanges zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Weg von dem Ort der Tätigkeit geschlossen werden kann (vgl. u. a. BSG 10, 226, 228; BSG SozR aaO; Brackmann aaO S. 486 w; Lauterbach aaO und § 550 Anm. 18).

Bei der Beurteilung der Frage, ob eine den Versicherungsschutz für den weiteren Weg nach Hause aufhebende Lösung des Zusammenhanges zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Heimweg eingetreten ist, hat der Senat ebenfalls in ständiger Rechtsprechung (s. BSG aaO; Brackmann aaO S. 486 x) auch die Art der Verrichtung mit berücksichtigt und aus ihr - neben anderen Kriterien - im Einzelfall geschlossen, ob der Beschäftigte den Weg nicht nur unterbrochen und danach fortgesetzt hatte, oder nach natürlicher Betrachtungsweise die privaten Zwecke dieser Verrichtung das Verhalten nach Arbeitsschluß so bestimmt hatten, daß der sich danach anschließende Weg als Weg von dieser Verrichtung und nicht mehr als solcher von dem Ort der Tätigkeit anzusehen war. Der Senat hat dabei der Zeitdauer der Unterbrechung als einem der Rechtssicherheit dienenden Kriterium besondere Bedeutung beigemessen. Dadurch wird im Rahmen einer bestimmten Dauer der Unterbrechung vermieden, für die Beurteilung des Wiederauflebens des Versicherungsschutzes auf dem weiteren Weg von dem Ort der Tätigkeit zwischen den für Unterbrechungen in Betracht kommenden zahlreichen privaten Gründen differenzieren zu müssen. Zugleich wird ein von den Versicherten sicher zu beurteilendes Kriterium maßgebend, so daß sie im Regelfall zeitlich abschätzen können, bis wann sie nach einer lediglich privaten Zwecken dienenden Unterbrechung auf dem weiteren Weg von dem Ort der Tätigkeit wieder unter Versicherungsschutz stehen. Die Zeitdauer, innerhalb derer auch eine lediglich privaten Zwecken dienende Unterbrechung das Wiederaufleben des Versicherungsschutzes auf dem weiteren Weg von dem Ort der Tätigkeit nicht ausschließt, muß dabei im Einklang stehen mit der oben aufgezeigten Rechtsprechung, daß der Versicherungsschutz nach einer Unterbrechung auf dem weiteren Weg von dem Ort der Tätigkeit grundsätzlich wieder auflebt. Bei einer diesen Grundsatz berücksichtigenden Zeitdauer für eine das Wiederaufleben des Versicherungsschutzes nicht ausschließende Unterbrechung werden andererseits die Fälle, in denen auch bei einem Überschreiten dieser Zeitdauer wegen der dann außerdem zu berücksichtigenden Besonderheiten des Einzelfalles - insbesondere der Art der Verrichtung während der Unterbrechung - der Versicherungsschutz auf dem weiteren Weg von dem Ort der Tätigkeit anzunehmen wäre, auf nur durch besondere Umstände gekennzeichnete Ausnahmen beschränkt. Der Senat hat bei dem privaten Bereich des Beschäftigten zuzurechnenden Gründen für die Unterbrechung eine Zeit von 1 1/2 Stunden (BSG SozR Nr. 51 zu § 543 RVO aF) und zwei Stunden (vgl. BSG SozR aaO Nr. 7 und 29; BSG Urteil vom 6. April 1960 - 2 RU 247/56 - insoweit nicht abgedruckt in SozR aaO Nr. 21) nicht als ausreichend angesehen, um das Wiederaufleben des Versicherungsschutzes auf dem weiteren Weg von dem Ort der Tätigkeit auszuschließen (so auch Bayer. LSG AmtsBl. 1975, B 33, 34). Das Wiederaufleben des Versicherungsschutzes nach einer Unterbrechung von drei Stunden hat der Senat dagegen - bis auf Ausnahmenfälle (s. BSG SozR Nr. 7 zu § 550 RVO) - verneint (BSG SozR aaO Nr. 18). In seinem Urteil vom 25. Mai 1972 (SozR aaO Nr. 18) hat der Senat, worauf sich das LSG stützt, ausgeführt, bei einer Unterbrechung von etwa einer Stunde werde im allgemeinen keine Lösung vom Betrieb anzunehmen sein, selbst wenn die Art der privaten Verrichtung in keiner Beziehung zur versicherten Tätigkeit stehe. Der Hinweis auf eine Zeitdauer von etwa einer Stunde trägt die Entscheidung jedoch nicht, da nach dem ihr zugrunde liegenden Sachverhalt die Unterbrechung fast drei Stunden gedauert hatte. Da grundsätzlich nach einer Unterbrechung auf dem weiteren Weg von dem Ort der Tätigkeit Versicherungsschutz nach § 550 Abs. 1 RVO besteht, erscheint eine Zeitdauer von etwa einer Stunde, nach der bei einer wesentlich nur privaten Zwecken dienenden Unterbrechung Versicherungsschutz nicht mehr wiederaufleben soll, als zu gering. Der Senat erachtet vielmehr nach erneuter Prüfung auch in den Fällen, in denen lediglich private Gründe Art und Dauer der Unterbrechung bestimmt haben, im Einklang mit den angeführten Entscheidungen bei einer Unterbrechung bis zu zwei Stunden den Versicherungsschutz auf dem weiteren Weg von dem Ort der Tätigkeit nicht für ausgeschlossen.

Die Klägerin hatte nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG ihren Weg von dem Ort der Tätigkeit nach Hause höchstens 1 1/2 Stunden unterbrochen. Der Versicherungsschutz der Klägerin lebte somit nach der Unterbrechung wieder auf. Die Klägerin ist, wie das LSG weiter festgestellt hat, nach der Unterbrechung erst auf einem Teil der Wegstrecke verunglückt, die von dem Ort der Tätigkeit zu ihrer Wohnung führt. Die Klägerin hat demnach im Zeitpunkt des Unfalls wieder unter Versicherungsschutz gestanden. Die Klägerin hat Verletzungen erlitten, die einen Entschädigungsanspruch in Mindesthöhe aus der gesetzlichen Unfallversicherung wahrscheinlich erscheinen lassen, so daß die Beklagte dem Grunde nach zu verurteilen war, die Klägerin aus Anlaß des Arbeitsunfalls am 10. Mai 1973 zu entschädigen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647434

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