Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 27.01.1988)

SG Marburg (Urteil vom 10.08.1987)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 27. Januar 1988 geändert. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 10. August 1987 wird zurückgewiesen.

Kosten sind in allen Rechtszügen nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist, ob Arbeitgebern ein Einarbeitungszuschuß (EZ) auch dann gewährt werden kann, wenn wegen der Einarbeitungsschwierigkeiten eines Arbeitnehmers ein geminderter Lohn gezahlt wird.

Die Klägerin befaßt sich mit der Aufstellung und dem Betrieb von Spielautomaten. Sie beantragte im Dezember 1985 die Gewährung eines EZ für den gelernten Kraftfahrzeugmechaniker T. … D. … (im folgenden: D.), der von ihr vom 2. Januar bis zum 31. Dezember 1986 als Automatenmechaniker eingearbeitet werden sollte. Nach dem Arbeitsvertrag sollte D. anfänglich einen Bruttostundenlohn von DM 8,30 erhalten, der sich alle Vierteljahre über DM 9,75 und 11,19 auf DM 12,72 ab 1. Oktober 1986 erhöhen sollte. Mit Bescheid vom 27. Oktober 1986 lehnte die Beklagte den Antrag ab, weil D. nicht von Anfang an den ihm nach erfolgreicher Einarbeitung zustehenden Lohn erhalte. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 12. Dezember 1986).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 10. August 1987). Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG geändert und unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide die Beklagte verurteilt, die Klägerin unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des LSG erneut zu bescheiden (Urteil vom 27. Januar 1988). Zur Begründung hat es ausgeführt, daß entgegen der Auffassung des SG ein EZ nicht schon dann zu versagen sei, wenn sich der Arbeitgeber bei der Entlohnung während der Einarbeitungszeit nicht an die nach Einarbeitung geltende tarifliche oder ortsübliche Lohnhöhe halte. Es sei nicht Sinn des § 49 Arbeitsförderungsgesetz (AFG), dem Arbeitnehmer während der Einarbeitungszeit ein bestimmtes tarifliches oder ortsübliches Arbeitsentgelt zu garantieren. Maßgebend sei vielmehr der für die Dauer der Einarbeitung vorhandene Unterschied zwischen der tatsächlichen Leistung des einzuarbeitenden Arbeitnehmers und den Anforderungen am vorgesehenen Arbeitsplatz. Da die Beklagte die Voraussetzungen für ihr Ermessen verkannt habe, sei sie zur erneuten Bescheidung unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichtes verpflichtet.

Dagegen richtet sich die Revision der Beklagten. Sie rügt eine Verletzung des § 49 Abs 1 Satz 1 und 2 AFG. Erhalte der Arbeitnehmer während der Einarbeitungszeit ein seiner geminderten Leistungsfähigkeit entsprechendes Entgelt, so führe die Gewährung eines EZ zu einer ungerechtfertigten Subventionierung des Arbeitgebers. Er werde dadurch besser gestellt als ein Arbeitgeber, der ein tarifliches oder ortsübliches Arbeitsentgelt zahle. Genausowenig wie sie als Körperschaft des öffentlichen Rechts den Abschluß von untertariflich entgoltenen Beschäftigungsverhältnissen durch Arbeitsvermittlung fördern dürfe, dürfe sie dies durch Gewährung von EZ tun; der Schutz von Arbeitnehmern vor Übervorteilung sei ein wichtiger Grund für die Einführung des Alleinvermittlungsrechts gewesen. Die Gewährung eines EZ sei daher nicht zulässig, wenn der einzuarbeitende Arbeitnehmer nicht wenigstens das tarifliche oder ortsübliche Arbeitsentgelt erhalte.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit es der Berufung der Klägerin stattgegeben hat, und die Berufung gegen das Urteil des SG zurückzuweisen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Zahlung eines geringeren als des tariflichen oder des ortsüblichen Entgelts während der Einarbeitungszeit schließe die Gewährung eines EZ nicht aus. Das während der Einarbeitungszeit gezahlte Entgelt sei immer noch höher als die tatsächliche Arbeitsleistung wert gewesen sei. Mit der stufenweisen Anhebung des Entgelts sei beabsichtigt gewesen, nicht nur die Steigerung der Fähigkeiten zu honorieren, sondern auch die Motivation zu erhöhen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Urteil des LSG mußte geändert werden. Das Urteil des SG, das einen Anspruch der Klägerin auf Gewährung eines EZ verneint hat, war zu bestätigen.

Nach § 49 Abs 1 Satz 1 AFG, der hier idF des Siebten Gesetzes zur Änderung des AFG vom 20. Dezember 1985 (BGBl I 2484) anzuwenden ist, kann die Beklagte Arbeitgebern Zuschüsse für Arbeitnehmer gewähren, die eine volle Leistung am Arbeitsplatz erst nach einer Einarbeitungszeit erreichen können. Dies führt § 19 Abs 1 Satz 1 der aufgrund der Ermächtigung des § 39 AFG erlassenen Anordnung über die individuelle Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung (AFuU) in der Weise aus, daß ein EZ gewährt werden kann, wenn der Arbeitgeber durch eine über die übliche Einweisung hinausgehende Maßnahme dem Arbeitnehmer im Rahmen eines Einarbeitungsplanes qualifizierende berufliche Kenntnisse und Fertigkeiten in einem Arbeitsverhältnis vermittelt, die zu einer Verbesserung der beruflichen Mobilität des einzuarbeitenden Arbeitnehmers führen. Die Dauer und die Höhe des Zuschusses soll sich gemäß § 19 Abs 3 Satz 1 AFuU grundsätzlich nach der Minderleistung des Arbeitnehmers richten. Aus dem Wort „kann” in § 49 AFG folgt, daß die Gewährung des EZ in das Ermessen der Beklagten gestellt ist (BSG SozR 4100 § 49 Nrn 2 und 3).

Das LSG hat angenommen, daß die gesetzlichen und satzungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung eines EZ gegeben seien und die Beklagte nur noch ihr Ermessen auszuüben habe. Diese Annahme trifft nicht zu. Es fehlt die Feststellung, daß während der Einarbeitungsphase eine Minderleistung vorgelegen hat, die durch einen EZ auszugleichen wäre. Die Entscheidung darüber liegt nicht im Ermessen der Verwaltung, sondern gehört zu den Voraussetzungen der Ermessensausübung. Ohne Vorliegen einer Minderleistung des Arbeitnehmers darf ein EZ nicht gewährt werden, weil sonst eine Begünstigung des Arbeitgebers die Folge wäre, wie von der Beklagten zu Recht ausgeführt wird. Der EZ soll aber nicht den Arbeitgeber durch Senkung seiner Lohnkosten gegenüber Wettbewerbern begünstigen, sondern nur einen Ausgleich für eine der Arbeitsleistung noch nicht angemessene, also objektiv überhöhte Lohnzahlung bieten. Im Streitfall ist über die Voraussetzung der Minderleistung von den Tatsachengerichten mit Bindungswirkung für die Verwaltung (§ 131 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) und das Revisionsgericht (§ 163 SGG) zu entscheiden.

Das LSG hat zwar festgestellt, daß das tatsächlich gezahlte Arbeitsentgelt geringer war als der ortsübliche Vollohn. Die Minderleistung kann aber nur darin liegen, daß der Wert der Arbeitsleistung noch geringer war als das tatsächlich gezahlte Arbeitsentgelt. Ausführungen dazu fehlen. Das LSG hat dies zwar für möglich gehalten; nur so ist die Verpflichtung der Verwaltung zur Neubescheidung zu erklären. Angesichts der gegenteiligen Feststellung des SG wären aber eindeutige Ausführungen darüber erforderlich gewesen.

Der Rechtsstreit ist trotzdem nicht mangels ausreichender Feststellungen zurückzuverweisen; denn ein EZ ist nicht zu gewähren, wenn – wie hier – der Arbeitgeber die Minderleistung des Arbeitnehmers bereits durch Minderung des nach erfolgter Einarbeitung zu zahlenden Lohnes im Einvernehmen mit dem Arbeitnehmer berücksichtigt hat. Es besteht dann kein Raum mehr für eine auszugleichende Minderleistung, auch nicht insoweit, als die Minderleistung nur zum Teil durch einen Minderlohn von dem Arbeitnehmer getragen wird und der verbleibende Teil von dem Zuschuß aufgefüllt werden könnte. Das liegt nicht nur an der praktischen Unmöglichkeit, solche Unterschiede zu messen, sondern vor allem an der Erkenntnis, daß der frei ausgehandelte Lohn grundsätzlich der der Leistung angemessene Lohn ist.

Der in seinem Kern verfassungsrechtlich (Art 1 und 2 GG) geschützte Grundsatz der Privatautonomie (BVerfGE 70, 123; 72, 170) beruht auf dem Gedanken, daß die freie Vereinbarung, die zwei einander mit unterschiedlichen Interessen gegenüberstehende Parteien rechtmäßig abschließen, im Vergleich zu allen anderen denkbaren Regelungen die größte Gewähr dafür bietet, daß sie vom Standpunkt der Gerechtigkeit aus für beide Teile tragbar ist (vgl dazu Alfred Hueck, Der gerechte Lohn in arbeitsrechtlicher Sicht, in: Th. Heckel, Der gerechte Lohn, 1963 S 18, 28; Richardi, Lohngerechtigkeit und Leistungslohn, RdA 1969, 234). Davon hat auch grundsätzlich die Verwaltung auszugehen. Nur in Ausnahmefällen ist sie verpflichtet zu prüfen, ob anstelle des vereinbarten Arbeitsentgelts ein anderes Entgelt leistungsgerecht wäre. Das ist etwa der Fall, wenn das Arbeitsentgelt mit dem Ehegatten oder einem nahen Verwandten vereinbart worden ist (vgl § 112 Abs 5 Nr 3 AFG), weil dann nicht ohne weiteres die Gewähr gegeben ist, daß die Vereinbarung einen Ausgleich unterschiedlicher Interessen widerspiegelt. Bei Anwendung des § 49 AFG ist die Verwaltung nur verpflichtet zu prüfen, ob die Arbeitnehmer „eine volle Leistung am Arbeitsplatz erst nach einer Einarbeitungszeit erreichen können”. Die Verpflichtung besteht darin, eine im Vergleich zum gezahlten Lohn verbleibende Minderleistung überhaupt zu ermitteln. Wird festgestellt, daß das Arbeitsentgelt bereits unter Berücksichtigung dieser Minderleistung vereinbart worden ist, ist die Verwaltung nicht verpflichtet weiter zu ermitteln, ob die Leistungsminderung auch der Höhe nach zutreffend in der Minderung des Arbeitsentgelts zum Ausdruck kommt. Ob und inwieweit bei der Ermessensentscheidung über die Höhe des EZ das Ausmaß der Minderung festzustellen ist, braucht hier nicht geklärt zu werden.

Fehlt es danach an der Notwendigkeit, die Klägerin wegen einer Minderleistung von D. teilweise von den Lohnkosten zu entlasten, so braucht nicht mehr geprüft zu werden, ob der EZ auch aus einem anderen Grunde zu versagen wäre: Sollte es im Gewerbe der Automatenaufsteller allgemein üblich sein, mangels einer eigenen Berufsausbildung Arbeitnehmer aus anderen Branchen, wenn auch mit verwertbaren handwerklichen Vorkenntnissen, einzustellen und für die besonderen Anforderungen des Automatenaufstellergewerbes einzuarbeiten, so wäre ein EZ deshalb nicht zu gewähren, weil diese Leistung nicht an die Stelle von entsprechenden Leistungen der Arbeitgeber treten soll, die diese im allgemeinen im eigenen wirtschaftlichen Interesse erbringen (BSG SozR 4100 § 49 Nr 2). Dazu gehört auch die Ausbildung des erforderlichen Nachwuchses.

Die Kostentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1175132

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