Entscheidungsstichwort (Thema)

Heimatvertriebener. Jahresarbeitsverdienst nach billigem Ermessen. Eingliederungsprinzip

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Feststellung des Jahresarbeitsverdienstes bei Heimatvertriebenen, die im Unfallzeitpunkt noch kein volles Jahr in der Bundesrepublik Deutschland gearbeitet haben.

 

Orientierungssatz

1. Bei der Anwendung des § 577 RVO ist bei Vertriebenen und Flüchtlingen zu beachten, daß im Sozialversicherungsrecht der Bundesrepublik Deutschland zugunsten der Vertriebenen und Flüchtlinge durchweg das sogenannte Eingliederungsprinzip gilt, wonach die (sozialversicherungsrechtlichen) Ansprüche der Vertriebenen und Flüchtlinge so behandelt werden, als ob sie ihr Arbeits- und Versicherungsleben in der Bundesrepublik zurückgelegt hätten (vgl BSG 6.12.1979 GS 1/79 = BSGE 49, 175, 184 ff).

2. Es wäre in erheblichem Maße unbillig iS des § 577 RVO, wenn zwar ein Heimatvertriebener, der im Vertreibungsland einen Arbeitsunfall iS des § 5 FRG erleidet, auch hinsichtlich des Jahresarbeitsverdienstes einem entsprechenden Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland gleichgestellt würde, nicht aber ein Heimatvertriebener, der den Unfall während seiner noch nicht vollzogenen Eingliederung in der Bundesrepublik Deutschland erlitten hat.

 

Normenkette

RVO § 577 S 1 Fassung: 1963-04-30; BVFG § 13 Abs 1; FRG § 8; RVO § 575

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 25.07.1984; Aktenzeichen L 6 U 184/84)

SG Oldenburg (Entscheidung vom 01.03.1984; Aktenzeichen S 7a U 59/83)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte der Verletztenrente des Klägers (Bescheid vom 14. Januar 1983, Widerspruchsbescheid vom 3. März 1983; Minderung der Erwerbsfähigkeit: 30 vH -MdE-) einen zu niedrigen Jahresarbeitsverdienst (JAV) zugrunde gelegt hat.

Der Kläger übersiedelte am 18. März 1980 aus der Volksrepublik Polen in das Bundesgebiet; er ist Heimatvertriebener. Im Anschluß an die Teilnahme an Lehrgängen wurde er am 6. Januar 1981 als Rohrschlosser versicherungspflichtig tätig. Bereits am 3. Februar 1981 erlitt er den hier interessierenden Arbeitsunfall.

Da der Kläger seit Anfang 1980 in Polen nicht mehr beschäftigt war, berechnete die Beklagte den JAV ua nach dem Entgelt, das der Kläger im Jahr vor dem Unfall bis zum Beginn seiner Tätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland nach einer entsprechenden Auskunft durch seine bisherige Tätigkeit in Polen erzielt haben würde (umgerechnet 8.985,94 DM). Da zusammen mit dem in der Bundesrepublik erzielten Entgelt der Mindest-JAV des § 575 Abs 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht erreicht wurde, legte die Beklagte der Berechnung der Verletztenrente diesen zugrunde (16.848,-- DM).

Dem hiergegen erhobenen Widerspruch half die Beklagte mit der Begründung nicht ab, die Berechnung des JAV beruhe auf §§ 571 Abs 1 Satz 1 und 2, 575 RVO und sei nicht unbillig iS von § 577 RVO, weil der Kläger im Bundesgebiet noch nicht länger als drei Monate gearbeitet habe und der Unfall erst nach neunmonatiger Tätigkeit in der Bundesrepublik eingetreten sei.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 1. März 1984). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG- (BSG SozR 2200 § 577 Nr 4) sei die vorliegende Berechnung des JAV nicht unbillig, weil der Kläger sich im Unfallzeitpunkt infolge seiner erst kurzzeitigen Beschäftigung in der Bundesrepublik noch nicht auf den bundesdeutschen Lebensstandard eingerichtet gehabt habe.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verurteilt, dem JAV anstelle des in Polen voraussichtlich erzielten Entgelts dasjenige zugrunde zu legen, was der Kläger an seinem gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet erreicht haben würde (Urteil vom 25. Juli 1984). Der Kläger könne nicht schlechter gestellt werden als ein Vertriebener, der den Unfall vor der Übersiedlung erlitten hätte; in diesem Falle müßte die Beklagte bei der Berechnung des JAV nach §§ 7 und 8 des Fremdrentengesetzes (FRG) entsprechend dem Urteilsausspruch verfahren. Diese Vorschriften seien hier entsprechend zu berücksichtigen. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Nach dem Vorbringen der Revision sind die Sonderregelungen des FRG einer ausdehnenden Auslegung nicht zugänglich, zumal da wegen der in der RVO vorhandenen Vorschriften hierfür kein zwingendes Bedürfnis bestehe. Eine etwa vorhanden gewesene erhebliche Unbilligkeit bei der Berechnung des JAV sei durch die Zugrundelegung des Mindest-JAV nach § 575 Abs 1 Nr 1 RVO beseitigt worden. Es sei zu berücksichtigen, daß der Lebensstandard des Klägers über Jahre durch das in Polen erzielte Arbeitseinkommen bestimmt gewesen sei.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 25. Juli 1984 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 1. März 1984 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Nach seiner Überzeugung entspricht das angefochtene Urteil dem allgemeinen Prinzip, wonach Heimatvertriebene den in der Bundesrepublik lebenden Personen gleichgestellt werden sollen. Das folge aus den vom LSG angewendeten Vorschriften des FRG und ergebe sich darüber hinaus aus § 11 FRG. Dies müsse bei der Anwendung des § 577 RVO berücksichtigt werden.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist im wesentlichen nicht begründet. Der Bescheid vom 14. Januar 1983 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. März 1983 ist rechtswidrig.

Die dem Kläger von der Beklagten durch den Bescheid vom 14. Januar 1983 gewährte Verletztenrente gehört zu den Leistungen in Geld, die nach dem JAV berechnet werden (§ 581 iVm § 570 RVO). Für dessen Berechnung finden die §§ 571 bis 578 RVO Anwendung. Nach § 571 Abs 1 Satz 1 RVO gilt der Gesamtbetrag aller Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen des Verletzten im Jahre vor dem Arbeitsunfall als JAV. Für Zeiten, in denen er im Jahre vor dem Arbeitsunfall kein Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen bezog, wird das Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen zugrunde gelegt, das durch eine Tätigkeit erzielt wird, die der letzten Tätigkeit des Verletzten vor dieser Tätigkeit entspricht (§ 571 Abs 1 Satz 2 RVO). Erreicht der so errechnete JAV nicht die in § 575 Abs 1 RVO festgesetzte Mindesthöhe, ist der JAV nach dieser Vorschrift festzusetzen. Ist der JAV im Einzelfall in erheblichem Maße unbillig, so ist er nach billigem Ermessen bis zum Höchst-JAV des § 575 Abs 2 RVO oder der Satzung des Trägers der Unfallversicherung festzustellen (§ 577 Satz 1 RVO).

Die Berechnungsweise der Beklagten erfolgte - ausgenommen die Anwendung des § 577 RVO - in der vorgeschriebenen Weise. Unter zutreffender Anwendung der Vorschriften des § 571 Abs 1 Satz 1 und 2 RVO errechnete sie einen JAV, welcher die Mindesthöhe nach § 575 Abs 1 Nr 1 RVO nicht erreicht, so daß sie ihren weiteren Überlegungen den Mindest-JAV zugrunde legte. Bei der Überprüfung des so festgestellten JAV nach § 577 Satz 1 RVO berücksichtigte weder die Beklagte noch das SG alle Besonderheiten des vorliegenden Falles ausreichend. Der erkennende Senat ist mit dem LSG der Überzeugung, daß die Grundgedanken, welche gegenüber Vertriebenen im Sinne des Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (BVFG) vom 19. Mai 1953 in der Fassung vom 3. September 1971 (BGBl I S 1565) und des Fremdrentengesetzes (FRG) bei ihrer sozialrechtlichen Behandlung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland allgemein beachtet werden, auch im vorliegenden Falle nicht außer acht gelassen werden dürfen.

Das BSG hat bisher im Rahmen des § 577 RVO zumeist entschieden, welche Grundsätze Anwendung finden, wenn der JAV bei ausländischen Arbeitnehmern, die im Jahr vor dem Arbeitsunfall nicht nur oder nicht durchgehend in der Bundesrepublik gearbeitet haben, zu überprüfen ist (s zB BSGE 36, 209 = SGb 1974, 377 mit zustimmender Anmerkung von Watermann; 43, 204; 51, 178; SozR 2200 § 571 Nr 21; § 577 Nr 4). Dabei hat es, ebenso wie bei deutschen Staatsbürgern (zB BSG SozR 2200 § 571 Nrn 10 und 15), in erster Linie auf den Lebensstandard des Verletzten abgestellt; denn gemäß § 577 Satz 2 RVO ist bei der Feststellung des JAV nach billigem Ermessen ua von den Fähigkeiten, der Ausbildung und der Lebensstellung des Verletzten auszugehen und die zur Zeit des Arbeitsunfalls ausgeübte oder eine gleichartige Erwerbstätigkeit zu berücksichtigen. Der Verletzte erhält dabei die Verletztenrente grundsätzlich in der Höhe, die seinem in dem maßgeblichen Zeitraum erarbeiteten Einkommen entspricht (§ 571 Abs 1 Satz 1 RVO) bzw entsprochen hätte (§ 571 Abs 1 Satz 2 und 3 RVO), wobei durch die Bestimmung von Höchst- und Mindest-JAV nach § 575 Abs 1 und 2 RVO ein sozialer Ausgleich vorzunehmen ist. Erhebliche Unbilligkeiten werden im Rahmen des § 577 RVO beispielsweise ausgeglichen, wenn der Versicherte infolge der Einführung von Kurzarbeit zur Selbstvorsorge nicht ausreichend imstande war (BSG SozR 2200 § 571 Nr 15), oder wenn die Anwendung von § 571 Abs 1 Satz 2 oder 3 zu einem über der bisherigen Selbstvorsorge liegenden JAV führt (BSGE 51, 178; BSG SozR 2200 § 571 Nr 21).

Bei der Anwendung des § 577 RVO ist jedoch bei Vertriebenen und Flüchtlingen zu beachten, daß im Sozialversicherungsrecht der Bundesrepublik Deutschland zugunsten der Vertriebenen und Flüchtlinge durchweg das sogenannte Eingliederungsprinzip gilt, wonach die (sozialversicherungsrechtlichen) Ansprüche der Vertriebenen und Flüchtlinge so behandelt werden, als ob sie ihr Arbeits- und Versicherungsleben in der Bundesrepublik zurückgelegt hätten (BSGE 49, 175, 184 ff mwN). Dieser Grundsatz kommt, worauf das LSG zutreffend hinweist, in den Regelungen des FRG zum Ausdruck. Er hat insbesondere in § 13 Abs 1 BVFG Niederschlag gefunden, wonach dieser Personenkreis Rechte und Vergünstigungen erst dann nicht mehr in Anspruch nehmen darf, wenn er "in das wirtschaftliche und soziale Leben ... eingegliedert ist".

Die im Rahmen des § 571 Abs 1 RVO erforderliche Berücksichtigung des im Vertreibungsland erzielten Arbeitseinkommens widerspricht dem Eingliederungsgedanken, weil dadurch in Wirklichkeit eine wirtschaftliche Rückgliederung erfolgt. Für diese rechtliche und wirtschaftliche Benachteiligung schafft § 575 RVO nur dann einen annehmbaren Ausgleich, wenn die Berücksichtigung des Mindest-JAV nicht in erheblichem Maße unbillig ist. Es wäre jedoch in erheblichem Maße unbillig iS des § 577 RVO, wenn zwar ein Heimatvertriebener, der im Vertreibungsland einen Arbeitsunfall iS des § 5 FRG erleidet, auch hinsichtlich des JAV einen entsprechenden Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland gleichgestellt würde, nicht aber ein Heimatvertriebener, der den Unfall während seiner noch nicht vollzogenen Eingliederung in der Bundesrepublik Deutschland erlitten hat.

Die Beklagte hat, worauf das LSG mit Recht hinweist, diese hier ausschlaggebenden Erwägungen nicht berücksichtigt. Sie hat vielmehr den JAV beim Kläger ohne Beachtung seiner Stellung als Vertriebener festgesetzt und damit das ihr im Rahmen des § 577 RVO zum Zwecke der Beseitigung unbilliger Härten eingeräumte Ermessen (BSG SozR 2200 § 577 Nr 9) fehlerhaft ausgeübt. Sie hat, da die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit ihre Auffassung nicht an die Stelle des Ermessens der Verwaltungsbehörde setzen dürfen (BSGE 2, 142, 148 und SozR 2200 aaO), erneut zu entscheiden und bei ihrer erneuten Entscheidung ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung entsprechend auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (§ 39 Abs 2 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - -SGB I-). Dabei wird sie insbesondere die vom erkennenden Senat und auch vom LSG ausgesprochenen Gedanken beachten.

Der Ausspruch des LSG war insoweit richtigzustellen und die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1665188

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