Leitsatz (amtlich)

Arbeitseinkommen iS des RVO § 587 Abs 1 ist auch die Vergütung, welche der Verletzte während der Umschulung für einen anderen Beruf erhält.

 

Normenkette

RVO § 587 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. April 1968 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der im Jahre 1925 geborene Kläger ist gelernter Maurer. In diesem Beruf verunglückte er am 21. Juni 1963. Die Beklagte gewährte ihm durch Bescheid vom 5. August 1964 für die Folgen des Unfalls eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v.H. vom 1. April 1964 an. Die Rente ist seit dem 21. Juni 1965 Dauerrente.

Vom 1. April 1964 bis 30. April 1967 wurde der Kläger auf Veranlassung der Beklagten für den Beruf eines Schriftsetzers umgeschult; er übt diesen Beruf seit dem 1. Mai 1967 aus. Während der Lehrzeit erhielt der Kläger von seiner Lehrfirma eine monatliche Vergütung von 123,- DM im 1. Lehrjahr, 152,- DM im 2. Lehrjahr und 180,- DM im 3. Lehrjahr. Außerdem wurden ihm Rente wegen Berufsunfähigkeit aus der Arbeiterrentenversicherung und Unterhaltsbeiträge von der Beklagten im Wege der Berufsfürsorge gewährt.

Der Kläger beantragte die Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente nach § 587 der Reichsversicherungsordnung (RVO), weil er während der Lehrzeit ohne Arbeitseinkommen sei. Diesen Antrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 22. März 1966 mit der Begründung ab, der Kläger sei nicht ohne Arbeitseinkommen, da er als teilweisen Gegenwert für seine Leistungen während der Ausbildung zum Schriftsetzer monatlich 152,- DM vergütet erhalte.

Mit der Klage wird geltend gemacht, der Kläger habe von seiner Lehrfirma keine Vergütung als Gegenwert für geleistete Arbeit, sondern nur eine Erziehungsbeihilfe erhalten.

Das Sozialgericht (SG) Detmold hat durch Urteil vom 2. August 1967 die Beklagte verurteilt, die Teilrente des Klägers für die Dauer der Ausbildung zum Schriftsetzer vom 1. April 1964 bis zum 30. April 1967 unter Anrechnung der von der Beklagten während dieser Zeit gezahlten Unterhaltsleistungen auf die Vollrente zu erhöhen. Zur Begründung ist ua ausgeführt: Die Lehrlingsvergütung stelle kein Arbeitseinkommen im Sinne des § 587 RVO dar. Nach dieser Vorschrift bestehe Anspruch auf die Vollrente nicht nur für die Dauer einer unfallbedingten Arbeitslosigkeit, sondern stets dann, wenn der Verletzte wegen des Arbeitsunfalls überhaupt ohne Arbeitseinkommen sei. Sinn und Zweck der Vorschrift sei es, unzumutbare wirtschaftliche Schäden von dem Verletzten abzuwenden, der wegen der Unfallfolgen zeitweilig keinen Arbeitsplatz ausfüllen könne und solange auf den Bezug einer Teilrente angewiesen sei. Daß die Lehrlingsvergütung bei der Berechnung des Jahresarbeitsverdienstes (JAV) als Arbeitseinkommen zu berücksichtigen sei, stehe der Anwendung des § 587 RVO nicht entgegen; insoweit sei der Begriff Arbeitseinkommen nicht einheitlich auszulegen.

Das SG hat die Berufung zugelassen.

Die Beklagte hat die Berufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG) hat dem Rechtsmittel durch Urteil vom 22. April 1968 stattgegeben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung ist ua ausgeführt: Die Lehrlingsvergütung sei als Arbeitseinkommen im Sinne des § 587 RVO anzusehen. Mit der Wahl der Worte "ohne Arbeitseinkommen" habe der Gesetzgeber eine Formulierung gewählt, die zugleich in anderen Vorschriften der Reichsversicherungsordnung - so für die Berechnung des JAV - Eingang gefunden habe. Es sei nicht anzunehmen, daß der Begriff Arbeitseinkommen in den verschiedenen Vorschriften unterschiedliche Bedeutung haben solle. Als Arbeitseinkommen im Sinne der §§ 571 ff RVO sei in der Regel jedes Entgelt anzusehen, das ua der Lohnsteuerpflicht unterliege. Zum steuerpflichtigen Arbeitslohn in diesem Sinne gehöre auch die Lehrlingsvergütung. Entgegen der Auffassung des Klägers komme es nicht darauf an, ob die Lehrlingsvergütung in den Tarifverträgen regelmäßig eine gesonderte Behandlung erfahre und einem nicht der Pfändung unterliegenden Erziehungsgeld im Sinne des § 850 Buchst. a Nr. 6 der Zivilprozeßordnung gleichzusetzen sei. Von besonderer Bedeutung sei der weitere Gesichtspunkt, daß § 587 RVO eine Sonderregelung enthalte, die Härtefälle mildern und der wirtschaftlichen Sicherstellung des Verletzten dienen solle. Ein solcher Fall liege beim Kläger jedoch nicht vor. Er habe im letzten Jahr vor dem Unfall einen JAV von 10.682,- DM erzielt. Dem stünden Einnahmen im 1. Lehrjahr an Lehrlingsvergütung, Berufsunfähigkeitsrente, Unfallrente und Unterhaltsbeiträgen in Höhe von 6.786,- DM, im 2. Lehrjahr von 8.287,- DM und anschließend von 8.904,- DM gegenüber.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Das Urteil ist dem Kläger am 29. Mai 1968 zugestellt worden. Er hat am 6. Juni 1968 gegen das Urteil Revision eingelegt und sie am 18. Juni 1968 wie folgt begründet: Die Vorinstanzen, die bei der Auslegung des Begriffs "ohne Arbeitseinkommen" zu gegensätzlichen Ergebnissen gelangt seien, hätten ihre Auffassungen mit nicht überzeugenden Ausführungen begründet. § 587 RVO sei unabhängig von der Bedeutung dieses umstrittenen Begriffs in §§ 571 ff RVO "aus sich" auszulegen. Die Lösung der Frage, was unter Arbeitseinkommen zu verstehen sei, müsse von der inneren Funktion der Norm her gefunden werden; diese sei ihrem Sinn und Zweck nach auf die Sicherstellung des Unterhalts des Verletzten gerichtet. Dabei sei von dem Grundsatz auszugehen, daß Doppelleistungen in der Sozialversicherung, die auf denselben Zweck gerichtet seien, vermieden werden müßten. Demzufolge solle erzieltes Arbeitseinkommen die Zahlung der Vollrente verhindern. Andererseits solle der Verletzte nicht in seiner Existenz bedroht sein, wenn er infolge des Unfalls ohne Arbeitseinkommen sei. Hieraus folge, daß weder die Ansicht des SG noch die des LSG zutreffe. Es komme nicht darauf an, ob die Lehrlingsvergütung als "echter" Lohn zu werten sei. Offensichtlich liege dem § 587 RVO die Vorstellung des Gesetzgebers zugrunde, daß dem Verletzten mindestens die Vollrente zustehen solle, wenn das Fehlen des Arbeitseinkommens durch einen Arbeitsunfall verursacht sei. Da Renten aus der Rentenversicherung zum Ausgleich fehlender Erwerbsfähigkeit anstelle von Arbeitseinkommen gewährt würden, seien sie dem Arbeitseinkommen gleichzustellen. Im Wege ergänzender Rechtsfindung sollte daher § 587 RVO dahin ausgedehnt werden, daß, solange der Verletzte infolge des Arbeitsunfalls ohne ein die Vollrente erreichendes Arbeitseinkommen oder an dessen Stelle tretende Leistungen der Sozialversicherung sei, der Träger der Unfallversicherung den an der Vollrente fehlenden Betrag zu gewähren habe.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil erster Instanz zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie pflichtet den Ausführungen des angefochtenen Urteils bei und meint vor allem, der Anspruch des Verletzten aus § 587 Abs. 1 RVO entfalle stets, wenn der Verletzte irgendeine Art von Arbeitseinkommen beziehe; Lehrlingsvergütung sei Entgelt im Sinne des § 160 RVO und damit Arbeitseinkommen im Sinne des § 587 RVO.

II

Die Revision ist zulässig. Sie hatte aber keinen Erfolg.

Die Entscheidung über den Klaganspruch hängt davon ab, ob die Vergütung, welche der Kläger während der unfallbedingten Umschulung für den Schriftsetzerberuf von seiner Lehrfirma erhielt, Arbeitseinkommen im Sinne des § 587 Abs. 1 RVO ist. Der erkennende Senat hat dies in Übereinstimmung mit dem LSG bejaht. Dem steht nicht entgegen, daß das LSG die Vergütung, welche der Kläger als Ausbildungsbeihilfe bezog, als Lehrlingsvergütung bezeichnet. Die Folgerung, die es hieraus gezogen hat, daß nämlich diese Vergütung ohne weiteres als ein grundsätzlich der Lohnsteuerpflicht unterliegendes Entgelt für im Dienste des Lehrbetriebes geleistete Arbeit anzusehen sei, trifft zu. Allerdings ist in der Rechtslehre nicht unbestritten, ob eine Lehrlingsvergütung Arbeitsentgelt oder lediglich ein zu den die Durchführung der Berufserziehung sicherstellenden Kosten des Unterhalts des Lehrlings geleisteter Beitrag ist, der den Entgeltcharakter der Vergütung mindestens in Frage stellt (vgl. Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 7. Aufl., Band I S. 83 ff und 736 ff; Herold "Über die Erziehungsbeihilfe für Lehrlinge" in Blätter für Steuerrecht, Sozialversicherung und Arbeitsrecht, 1. Halbj. 1962, S. 22; LAG Stuttgart, Urteil vom 25. Mai 1949 in RdA 1950 S. 358). Einer Entscheidung dieser Frage bedurfte es indessen aus Anlaß des vorliegenden Streitfalles nicht. Nach der Auffassung des erkennenden Senats lag der Vergütung, welche dem Kläger für seine einer geregelten Berufsausbildung dienende Beschäftigung im Dienste des Lehrunternehmens gewährt wurde, kein Berufserziehungsverhältnis, sondern ein Beschäftigungsverhältnis zugrunde. Der Kläger hatte nach den das Revisionsgericht bindenden tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) bereits mitten im Berufsleben gestanden, als er unter dem Zwang der Unfallfolgen die Lehre für den Umschulungsberuf aufnahm. Er war zu dieser Zeit 39 Jahre alt. Die besonderen Umstände, unter denen er sich in diesem Lebensalter und bei seiner beruflichen Vergangenheit der Umschulung für den neuen Beruf widmete, rechtfertigen es nach der Meinung des erkennenden Senats, das Verhältnis des Klägers zum "Lehrherrn" in entscheidendem Maße unter dem Gesichtspunkt der Berufsausbildung, jedenfalls nicht der Berufserziehung, zu beurteilen, die bei einem jugendlichen Lehrling freilich in Betracht zu ziehen wäre. Dementsprechend ist die dem Kläger nach dem Lehrvertrag in von Lehrjahr zu Lehrjahr steigenden Monatsbeträgen gewährte Ausbildungsbeihilfe nicht als Erziehungsbeihilfe anzusehen.

Die Frage, ob diese Ausbildungsbeihilfe Arbeitseinkommen im Sinne des § 587 Abs. 1 RVO ist, hängt davon ab, ob sie als Entgelt im Sinne des § 160 Abs. 1 RVO gewährt wird. Das LSG hat dies mit Recht bejaht. Wie in dem angefochtenen Urteil zutreffend ausgeführt ist und von der Revision auch nicht ernstlich bezweifelt wird, hat der Begriff "Arbeitseinkommen" in § 587 Abs. 1 und in § 571 Abs. 1 RVO keine unterschiedliche Bedeutung. Ob die umstrittene Vergütung des Klägers als Entgelt und damit Arbeitseinkommen anzusehen ist, richtet sich nach ihrer lohnsteuerrechtlichen Behandlung (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 6. Aufl., Band II S. 310 a, b und q; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., S. 419 Anm. 2 c zu § 571 RVO). Insoweit bestehen keine Bedenken, die dem Kläger auf Grund seines Lehrvertrages gewährte Ausbildungsbeihilfe als lohnsteuerpflichtiges Einkommen zu werten, wobei es unerheblich ist, ob die Steuer von ihr tatsächlich erhoben wurde oder wegen Unterschreitung der für die Lohnsteuerpflicht bestehenden Einkommensmindestgrenze entfiel.

Der Kläger war sonach während der Zeit, für die er die Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente nach § 587 Abs. 1 RVO begehrt, nicht ohne Arbeitseinkommen. Der Klaganspruch ist daher unbegründet.

Ein anderes Ergebnis rechtfertigt auch nicht das Vorbringen der Revision. Ihrer Ansicht, dem Kläger könne, obwohl er in der fraglichen Zeit noch Arbeitseinkommen erzielte, auf Grund einer von der inneren Funktion der Norm her zu findenden Auslegung des § 587 Abs. 1 RVO zum Bezug der Vollrente verholfen werden, ist nicht zuzustimmen. § 587 Abs. 1 RVO ist der von der Revision für möglich erachteten Auslegung nicht zugänglich. Entgegen ihrer Meinung beschränkt sich der auf Grund dieser Vorschrift dem Träger der Unfallversicherung obliegende Schadensausgleich nicht auf die Ausfüllung einer Lücke, welche der Differenz zwischen dem Betrag der Vollrente und demjenigen Betrag entspricht, der sich aus der Teilrente, einem Arbeitseinkommen des Verletzten oder Leistungen an ihn aus der Sozialversicherung ergibt. § 587 Abs. 1 RVO beschränkt im Gegensatz zu dem bis zum Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes geltenden § 562 RVO, der die Möglichkeit einer Erhöhung der Teilrente "bis zur" Vollrente vorsah, die dem Versicherungsträger obliegende Leistung nicht auf einen Anteil an der Erhöhung der Teilrente, sondern läßt für seine Leistungspflicht nur Raum, wenn sich diese auf den gesamten Aufstockungsbetrag aus § 587 Abs. 1 RVO erstreckt. Überdies stünde die Ansicht der Revision auch mit dem insoweit klaren Wortlaut des § 587 Abs. 1 RVO nicht im Einklang, der eindeutig die unfallbedingte Einkommenslosigkeit des Verletzten zur Anspruchsvoraussetzung erhebt.

Da hiernach die vom Kläger beanspruchte Erhöhung seiner Teilrente auf die Vollrente daran scheitert, daß er während der Umschulung Arbeitseinkommen hatte, mußte die Revision als unbegründet zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung ergeht auf Grund des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2284901

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