Leitsatz (amtlich)

Die Tätigkeit des Vertreters eines niedergelassenen Zahnarztes ist grundsätzlich nicht versicherungspflichtig. Dies gilt auch, wenn die Vertretung nur kürzere Zeit dauert und wenn der Vertreter vorher versicherungspflichtig beschäftigt gewesen ist.

 

Normenkette

RVO § 165 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1952-08-13; AVG § 1 Nr. 1 Fassung: 1945-03-17; AVAVG § 69 Nr. 2; AVAVG 1927 § 69 Nr. 2

 

Tenor

Die Revision der beigeladenen Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 3. Mai 1957 wird zurückgewiesen.

Die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen

 

Gründe

I.

Der Kläger, ein im April 1950 approbierter Zahnarzt, war bis zum Ende des Jahres 1952 als Zahnarztassistent tätig und entrichtete seit dem 1. Mai 1952 Sozialversicherungsbeiträge an die Barmer Ersatzkasse. Vom 1. bis zum 10. Januar 1953 führte er als Urlaubsvertreter die Praxis des Zahnarztes Dr. W... Als Entgelt erhielt er vereinbarungsgemäß 150,-- DM; weitere Vereinbarungen über die Vertretung wurden nicht getroffen. Am 12. Januar 1953 meldete sich der Kläger arbeitslos.

Als die Barmer Ersatzkasse im Februar 1953 auf Anregung des Arbeitsamts von Dr. W... Sozialversicherungsbeiträge für die Tätigkeit des Klägers als Urlaubsvertreter nachforderte, beantragte der Kläger beim Versicherungsamt H... die Feststellung, daß seine Tätigkeit in der Praxis des Dr. W... nicht versicherungspflichtig gewesen sei, weil er sich als Urlaubsvertreter nicht im Angestelltenverhältnis befunden habe. Das Sozialgericht Hamburg, auf das die Sache bei Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) übergegangen war, hob nach Beiladung der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA.), der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (BfArb.) und des Dr. W... den Beitragsbescheid der Barmer Ersatzkasse auf und stellte fest, der Kläger sei als Urlaubsvertreter Dr. W... nicht versicherungspflichtig gewesen.

Die Berufung der BfArb. wies das Landessozialgericht (LSG.) Hamburg mit der Begründung zurück, der Kläger sei zwar wirtschaftlich, nicht aber persönlich von Dr. W... abhängig gewesen, denn dieser habe nicht die Verfügungsgewalt über seinen Arbeitseinsatz gehabt. Der Beigeladene habe dem Kläger keinerlei Weisungen erteilt, sondern ihm die Führung der Praxis während der Vertretungszeit allein überlassen. Die persönliche Abhängigkeit ergebe sich auch nicht aus den besonderen Bindungen, denen Dr. W... als Kassenzahnarzt unterliege, denn der im Auftragsverhältnis tätige Kläger sei als Praxisvertreter ebenso unabhängig wie der Praxisinhaber. Das Urteil, in dem das LSG. die Revision zugelassen hat, wurde der BfArb. am 12. Juni 1957 zugestellt.

Mit der am 9. Juli 1957 beim Bundessozialgericht (BSG.) eingelegten und am 6. August 1957 begründeten Revision rügt die BfArb. die Verletzung der §§ 165 und 165 b der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der Fassung der Ersten Vereinfachungsverordnung vom 17. März 1945 (RGBl. I S. 41) sowie des § 69 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) a.F..

Sie ist der Auffassung, der Kläger sei als Urlaubsvertreter auch persönlich von Dr. W... abhängig und deshalb versicherungspflichtig gewesen. Dabei komme es nicht darauf an, ob im Einzelfall tatsächlich Weisungen erteilt worden seien, sondern darauf, ob der Praxisinhaber seinem Urlaubsvertreter gegenüber ein Weisungsrecht gehabt habe. Das sei hier der Fall gewesen; der Kläger habe von Dr. W... jedenfalls insoweit Weisungen erhalten, als beide Zahnärzte stillschweigend davon ausgegangen seien, daß der Kläger die Sprechstunden Dr. W... einzuhalten und die von ihm im einzelnen Fall begonnene Behandlungsweise fortzuführen habe. Es könne nicht angenommen werden, daß Dr. W... einem Zahnarzt, der noch nie selbständig praktiziert habe, seine Praxis ohne derartige Weisungen anvertraut habe.

Die BfArb. beantragt,

die Klage unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung auch im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BStBl. 1953 Teil III S. 142) für zutreffend.

II.

Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt (§§ 164, 166 SGG). Gegen die Zulässigkeit der nur vom Träger der Arbeitslosenversicherung eingelegten Revision bestehen - ebensowenig wie gegen die Zulässigkeit der Berufung - auch insoweit keine Bedenken, als es sich um die Versicherungspflicht des Klägers in der Kranken- und Rentenversicherung handelt, denn seine Versicherungspflicht in der Arbeitslosenversicherung hing nach der hier maßgebenden Vorschrift des § 69 AVAVG a.F. von der Versicherungspflicht in der Kranken- oder Angestelltenversicherung ab. Die Versicherungspflicht in diesen Versicherungszweigen beurteilt sich in der hier streitigen Zeit (1. bis 10. Januar 1953) nach §§ 165, 165 b RVO, § 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) in der Fassung der Ersten Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung vom 17. März 1945 (RGBl. I S. 41).

Die Revision ist jedoch unbegründet, denn das LSG. hat die Sozialversicherungspflicht des Klägers während seiner Tätigkeit als Vertreter des beigeladenen Zahnarztes Dr. W... mit Recht verneint.

Wie der erkennende Senat in seiner Entscheidung vom 27. Mai 1959 in dem Rechtsstreit AOK. B... gegen Dr. Sch. - 3 RK 18/55 - näher ausgeführt hat, unterliegt der Vertreter eines niedergelassenen Arztes grundsätzlich nicht dem für ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis wesentlichen Direktionsrecht des Praxisinhabers. Zwar betrifft der vorliegende Rechtsstreit nicht - wie in dem genannten Fall - den Vertreter eines Röntgenfacharztes, sondern eines Zahnarztes. Die für die Versicherungsfreiheit des Vertreters eines Röntgenfacharztes oder eines praktischen Arztes sprechenden Gründe liegen aber auch bei dem Urlaubsvertreter eines in freier Praxis tätigen Zahnarztes vor.

Das LSG. hat festgestellt, daß der Kläger als Vertreter des beigeladenen Zahnarztes keinen Beschränkungen unterworfen war, die über die Verpflichtung zur Benutzung der Praxisräume und zur Einhaltung der Sprechstunden hinausgingen. Der Kläger war somit bei der Ausübung seiner Tätigkeit als Zahnarztvertreter nicht den Weisungen des Praxisinhabers unterworfen, der von ihm vertretene Zahnarzt war insbesondere nicht berechtigt, in die zahnärztliche Behandlung des Klägers durch Weisungen einzugreifen. Der Kläger trug während der durch den Urlaub bedingten Abwesenheit des Praxisinhabers nach den Feststellungen des Berufungsgerichts allein die Verantwortung für die Behandlung der Patienten und die sachgemäße Fortführung der ihm anvertrauten Praxis. Zwar kann seine Tätigkeit, wie auch das LSG. mit Recht hervorgehoben hat, nicht schon deshalb als selbständig angesehen werden, weil er über die zahnärztliche Behandlungsweise frei entscheiden konnte, denn ein solches Recht könnte auch dem Oberarzt einer Zahnklinik, der Angestellter ist, vertraglich eingeräumt sein. Wesentlich ist jedoch, daß der Kläger - ohne an Weisungen des Praxisinhabers gebunden zu sein - die gesamte Praxis in eigener Verantwortung geführt hat. Die in der Regel gegenüber dem Inhaber der Praxis bestehende Pflicht, die Praxis in der gewohnten Weise fortzuführen und dabei auch die kassenzahnärztlichen Verpflichtungen - z.B. hinsichtlich wirtschaftlicher Behandlungsweise - bei der Behandlung der Versicherten zu erfüllen, stellen vertragliche Bindungen dar, die sich zwar auch auf die zu leistenden Dienste beziehen; der Vertreter erfüllt aber diese Pflichten im Rahmen seiner zahnärztlichen Aufgaben auf Grund freier Entschließung und nicht auf Grund eines vom Praxisinhaber nach dessen Ermessen auszuübenden Weisungsrechts. Die vertraglich übernommene Verpflichtung des Klägers, die Praxis in der gewohnten Weise fortzuführen, steht daher einer selbständigen Tätigkeit grundsätzlich nicht entgegen; seine Arbeit bleibt selbstbestimmt, weil dem abwesenden Inhaber der Praxis ein Weisungsrecht, kraft dessen er jeweils nach seinem Willen in die Ausführung der Obliegenheiten des Vertreters bestimmend eingreifen könnte, nicht zustand. Der Umstand, daß die Vertretung nur verhältnismäßig kurze Zeit gedauert hat und daß der Kläger vor Übernahme der Vertretung und nach ihrer Beendigung als Zahnarztassistent eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt hat, ist, wie das Berufungsgericht mit Recht ausgeführt hat, für die rechtliche Beurteilung der hier streitigen Tätigkeit als Vertreter eines im Urlaub befindlichen Zahnarztes nicht entscheidend. Maßgebend für die Versicherungspflicht des Vertreters eines Zahnarztes kann grundsätzlich nur seine Rechtsstellung als Vertreter, nicht aber das auf anderen rechtlichen Grundlagen beruhende, zwischen anderen Personen begründete vorhergehende oder nachfolgende Beschäftigungsverhältnis sein.

Da der Kläger in der Praxis des von ihm vertretene. Zahnarztes keine persönlich abhängige Arbeit verrichtet hat, muß die Revision als unbegründet zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324062

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