Entscheidungsstichwort (Thema)

Beweiserleichterung. fahrlässige Schädigung durch gemeingefährliches Mittel

 

Leitsatz (amtlich)

1. Härteausgleich nach § 10a OEG kann eine vor dem 16.5.1976 verletzte Person nur verlangen, wenn sie durch einen vorsätzlichen tätlichen Angriff iS des § 1 OEG geschädigt wurde.

2. Die Verletzung durch einen Revolverschuß, der nicht erkennbar auf einen vorsätzlichen tätlichen Angriff (§ 1 Abs 1 OEG) zurückzuführen ist (vgl BSG vom 22.6.1988 - 9/9a RVg 3/87 = BSGE 63, 270 = SozR 1500 § 128 Nr 34), ist nicht ohne weiteres als wenigstens fahrlässige Schädigung durch ein gemeingefährliches Mittel (§ 1 Abs 2 Nr 2 OEG) zu werten.

 

Orientierungssatz

1. Ist der Täter unbekannt geblieben und kann aus den Tatumständen nicht auf eine vorsätzliche Personenschädigung geschlossen werden, ist eine Beweiserleichterung etwa im Sinne einer Beweislastumkehr nicht gerechtfertigt (vgl BSG aaO; Beschluß vom 22.6.1988 - 9/9a BVg 4/87 = SozR 1500 § 128 Nr 35).

2. Zum Begriff des "gemeingefährlichen Mittels" iS von § 1 Abs 2 Nr 2 OEG.

 

Normenkette

OEG § 1 Abs 1, § 1 Abs 2 Nr 2, § 10a Abs 1 S 1

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 28.01.1988; Aktenzeichen L 7 Vg 382/87)

SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 04.12.1986; Aktenzeichen S 5 Vg 955/86)

 

Tatbestand

Die Klägerin beantragte 1985 Versorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz -OEG-) wegen der Folgen einer Kopfschußverletzung (hirnorganisches Psychosyndrom und Teillähmung). Sie wurde in der Nacht zum 1. Januar 1960, als sie aus dem Fenster heraus das Silvestertreiben beobachtete, am Kopf von einem 11 mm-Walzenrevolver-Geschoß, das als Querschläger beurteilt wurde, getroffen. Ermittlungen der Staatsanwaltschaft nach einem Täter wegen fahrlässiger Körperverletzung blieben erfolglos. Das Versorgungsamt lehnte eine Entschädigung ab, weil ein vorsätzlicher Angriff nicht erwiesen sei (Bescheid vom 4. April 1986). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 4. Dezember 1986). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 28. Januar 1988). Eine Härte-Versorgung nach § 10a OEG setze eine Schädigung iS des § 1 OEG voraus. Eine solche sei nicht erwiesen. Ein vorsätzlicher - in feindlicher Willensrichtung begangener - tätlicher Angriff sei nicht mehr als wahrscheinlich, was nicht genüge. Äußere Tatumstände in der Silvesternacht ließen nicht auf einen wenigstens bedingten Vorsatz schließen. Auch die längere Flugbahn spreche gegen einen gezielten Schuß. Die Verwundung sei schließlich nicht durch eine wenigstens fahrlässige Herbeiführung einer Gefahr für einen anderen mit einem gemeingefährlichen Mittel iS des § 1 Abs 2 Nr 2 OEG verursacht worden.

Die Klägerin rügt mit der - vom LSG zugelassenen - Revision eine Verletzung der §§ 1, 10 bis 10b OEG, des § 286 Zivilprozeßordnung sowie des Allgemeinen Gleichheitssatzes (Art 3 Abs 1 Grundgesetz -GG-). Der Grundsatz des strengen Beweises sei in zahlreichen Vorschriften des Sozialrechts wegen einer typischen Beweisnot durchbrochen, und das müsse auch hier für den Vorsatz gelten, zumal bei nicht aufklärbaren Altfällen. Das LSG habe zu Unrecht nach den Tatumständen einen bedingten Vorsatz verneint. Außerdem hätte es dem aus großer Entfernung abgefeuerten Querschläger konsequenterweise nicht die Eigenschaft eines gemeingefährlichen, dh nicht beherrschbaren Mittels absprechen dürfen. Die Versagung einer Entschädigung verletzte den Gleichheitssatz, weil der Fall ebenso entschädigungsbedürftig sei wie bei den genannten Gesetzestatbeständen.

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid des Beklagten aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr unter Anerkennung eines Zustandes nach Kopfschußverletzung mit hirnorganischem Psychosyndrom, Peronäusläsion links, Restlähmung des linken Armes und Wirbelsäulenbeschwerden sowie unter Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um wenigstens 70 vH ab 1. Dezember 1984 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist nicht begründet.

Zutreffend hat das LSG auch für eine Entschädigung nach der "Härteregelung" des § 10a OEG (idF des Ersten Gesetzes zur Änderung des OEG vom 20. Dezember 1984 -BGBl I 1723-, Bekanntmachung der Neufassung vom 7. Januar 1985 -BGBl I 1-) eine Schädigung iS des § 1 OEG vorausgesetzt und verneint. Für eine solche Entschädigung abweichend von der ursprünglichen Regelung, daß Folgen einer Verletzung vor dem Inkrafttreten des OEG (16. Mai 1976) nicht entschädigt werden konnten (§§ 10 und 12 OEG vom 11. Mai 1976 -BGBl I 1181-; dazu BSGE 56, 90 = SozR 3800 § 10 Nr 1; BVerfG SozR 3800 § 10 Nr 2), muß eine Person zusätzlich schwerbeschädigt und bedürftig sowie nach § 10a Abs 1 Satz 1 OEG 1984 in der Zeit zwischen dem 29. Mai 1949 und dem 15. Mai 1976 "geschädigt" worden sein (Altfälle). Dann kann es sich allein um die Folgen einer Schädigung iS des § 1 OEG handeln. Das wird bestätigt durch die neue Vorschrift des § 10 Satz 2 OEG 1984, nach der ua § 1 für Ansprüche aus den vor dem 16. Mai 1976 begangenen Taten "nach Maßgabe der §§ 10a und 10b" gilt. Die Härteregelung setzt naturgemäß einen Tatbestand voraus, der, abgesehen vom Zeitpunkt der Schädigung, sonst allgemein nach diesem Gesetz von dessen Inkrafttreten ab einen Entschädigungsanspruch begründet. Die Anwendung auf Altfälle, für die an sich eine Entschädigung ausgeschlossen ist, erfordert nur Zusätzliches, was bei einer Schädigung nach dem Inkrafttreten des OEG nicht gegeben zu sein braucht. Keineswegs sollen für Altfälle die Beweisanforderungen erleichtert werden.

Ein Schädigungstatbestand iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG, dh eine Schädigung durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff gegen den Verletzten oder eine andere Person, ist nach den nicht erfolgreich angegriffenen Tatsachenfeststellungen des LSG (§§ 183, 184 Abs 2 Satz 1 und 3 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) nicht erwiesen. Die Vorinstanzen haben insbesondere nicht die Überzeugung gewonnen, daß die Klägerin einem solchen "vorsätzlichen" Angriff zum Opfer gefallen sei. Ihre Annahme, das Geschoß, das sich als Querschläger mit langer Flugbahn erwies, sei nicht mit einem größeren Gewißheitsgrad als einer Wahrscheinlichkeit auf eine bestimmte Person abgefeuert worden, genügt nicht für einen Entschädigungsanspruch aus § 1 OEG. Insoweit wird auf die ausführliche Begründung des Berufungsurteils verwiesen. Sie ist durch die spätere Rechtsprechung des Senats bestätigt worden (BSGE 63, 270 = SozR 1500 § 128 Nr 34). In Fällen wie dem gegenwärtigen, in denen der Täter unbekannt geblieben ist und nicht aus den Tatumständen auf eine vorsätzliche Personenschädigung der genannten Art geschlossen werden kann, ist eine Beweiserleichterung etwa im Sinne einer Beweislastumkehr nicht gerechtfertigt (BSG aaO; ebenso Beschluß vom 22. Juni 1988 in SozR 1500 § 128 Nr 35). Auch ein Glaubhaftmachen durch Angaben des Antragstellers, das nach der im Beschluß vom 22. Juni 1988 behandelten Vorschrift des § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung genügen kann, führt hier nicht weiter, weil die Klägerin über die Herkunft des Geschosses nichts sagen konnte. Auch vermag kein Anscheinsbeweis den Vorsatz des Täters als Grundlage des Entschädigungsanspruchs der Klägerin zu begründen (vgl zum Nachweis des Vorsatzes auch BGH JZ 1988, 1085). Bei dieser Rechtsprechung zum OEG verkennt der Senat nicht den allgemeinen Rechtsgrundsatz, daß Beweisanforderungen nicht bis zum Leerlaufen des sachlichen Rechts überzogen werden dürfen (Urteil des Senats zu Beweisschwierigkeiten bei der Auslandsversorgung in SozR 3100 § 64c Nr 1 S 3 f und 6).

Die Klägerin kann auch keine Entschädigung nach § 1 Abs 2 Nr 2 iVm Abs 1 Satz 1 OEG beanspruchen. Nach Abs 2 Nr 2 steht die wenigstens fahrlässige Herbeiführung einer Gefahr für Leib und Leben eines anderen durch ein mit gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen einem tätlichen Angriff iS des Abs 1 gleich. Auf gemeingefährliche Weise in diesem Sinn wird jemand nur dann verletzt, wenn das schädigende Mittel - hier das Geschoß - nach seiner Beschaffenheit und nach der Art seiner Verwendung für eine unbestimmte Zahl anderer Personen eine konkrete Möglichkeit einer Gefährdung von Leib und Leben geschaffen hat und wenn der Täter die Wirkung der entfesselten Kraft nicht bestimmend abgrenzen und beherrschen kann (Begründung zum Entwurf eines OEG BT-Drucks 7/2506 S 14; Schoreit/Düsseldorf, Gesetz über die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten, 1977, § 1 Abs 2 Rz 167, 168; Schulz-Lüke/Wolf, Gewalttaten und Opferentschädigung, 1977, § 1 Rz 235 bis 237, 239; Wilke/Sailer, Soziales Entschädigungsrecht, 6. Aufl 1987, § 1 OEG Rz 16). Insoweit knüpft das OEG an den allgemeinen strafrechtlichen Begriff der Gemeingefährlichkeit an, der über die besonderen Tatbestände der §§ 306 ff Strafgesetzbuch (StGB) hinausgeht und namentlich bei einem der Mordtatbestände des § 211 Abs 2 StGB gegeben sein muß. Diese besondere Kennzeichnung aus dem Strafrecht zu übernehmen, ist schon nach dem Wortlaut des § 1 Abs 2 Nr 2 OEG geboten; denn die erforderliche Gefahr muß "durch ein mit gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen" herbeigeführt worden sein. Ebenfalls ist vom Zweck der Entschädigung nach dem OEG her für dieses Rechtsgebiet jener strafrechtliche Begriff maßgebend (vgl allgemein zur Beziehung zwischen OEG und StGB: BSGE 60, 147, 149 = SozR 1300 § 45 Nr 24 mN; BSG SozR 1500 § 128 Nr 35). Wenn der Grundtatbestand des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG eine Gewalttat iS eines tätlichen Angriffs in feindseliger Willensrichtung gegen eine bestimmte Person voraussetzt (BSGE 56, 234 = SozR 3800 § 1 Nr 4), muß auch der ihm gleichgestellte Tatbestand des § 1 Abs 2 OEG auf die Verwirklichung einer besonders ausgeprägten, verbrecherisch herbeigeführten Gefahr beschränkt bleiben. Dazu gehört in der Regel nicht ein einzelner Schuß aus einem Revolver, der nicht unter § 1 Abs 1 OEG fällt, falls - wie hier - nichts über nähere Tatumstände bekannt ist. Die Beurteilung der Gemeingefährlichkeit iS des Strafrechts ist nicht unbestritten (vgl Brandts, JA 1985, 491 f; Rengier, Strafverteidiger 1986, 405 ff). Aber über den Kerngehalt des Begriffes besteht insoweit Einigkeit, als die eingangs genannten Voraussetzungen erfüllt sein müssen, die hier nicht gegeben sind (BGH, NJW 1985, 1477, 1478 = MDR 1985, 511 f = JZ 1985, 640 = Strafverteidiger 1985, 280; Jähnke in: Leipziger Kommentar zum StGB, 10. Aufl 1980, § 211 Rz 59 mN; Schönke/Schröder/Eser, StGB, 23. Aufl 1988, § 211 Rz 29 mN; Dedes, MDR 1984, 100, 102; Horn, JR 1986, 32 f). In diesem Sinn gemeingefährlich kann allenfalls eine Schußserie aus einer Maschinenpistole sein, wenn ein nicht geübter Schütze die Waffe nicht beherrschen kann (OLG Dresden, NJW 1947/48, 247, allgemein zustimmend im Schrifttum zitiert). Falls - wie hier - nicht mehr als das Abfeuern eines Schusses aus einem Revolver in der Silvesternacht bekannt ist, kann eine Schädigung durch ein gemeingefährliches Verbrechen gemäß Abs 2 Nr 2 nicht angenommen werden. Nach dem OEG sollen nicht allgemein Unfallfolgen ausgeglichen werden, um die es sich hier handelt (BSGE 63, 270, 271; vgl auch zu den Grenzen: BSGE 49, 104 = SozR 3800 § 2 Nr 1 und die darauf aufbauende Rechtsprechung des Senats).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

NJW 1989, 2709

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