Leitsatz (amtlich)

1. Bei einem Versicherten, der vorübergehend und ohne Entgelt zu erhalten, in der Landwirtschaft beschäftigt gewesen und bei dieser Tätigkeit verunglückt ist, gilt für die Feststellung des Jahresarbeitsverdienstes § 941 Abs 1 S 1 RVO auch dann, wenn kein Versicherungsverhältnis besteht, das nach § 942 RVO zum Lastenausgleich zwischen dem Träger der landwirtschaftlichen und dem Träger der allgemeinen Unfallversicherung führen würde.

2. RVO § 566, nach dem unter bestimmten Voraussetzungen der Jahresarbeitsverdienst nach billigem Ermessen festzustellen ist, enthält eine Ermächtigung an den Versicherungsträger, eine Ermessensentscheidung zu treffen.

3. Leistungen auf Grund des SVFAG, die nicht bereits vor dem Inkrafttreten des Gesetzes festgestellt waren, sind frühestens von diesem Zeitpunkt an zu gewähren.

4. Hat das LSG eine nach SGG § 75 Abs 2 notwendige Beiladung unterlassen, so liegt darin kein Mangel des Verfahrens, der in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu berücksichtigen wäre (Anschluß BSG 1955-07-20 3 RK 6/55 = BSGE 1, 158-164).

 

Normenkette

RVO § 564 Abs. 1 Nr. 5 Fassung: 1942-03-09, § 565 Fassung: 1942-03-09, § 566 Fassung: 1942-03-09, § 941 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-03-09; SVFAG § 17 Abs. 1, § 20 Abs. 1; SGG § 75 Abs. 2, § 162 Abs. 1 Nr. 2

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 5. Januar 1956 und das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. Dezember 1954 werden aufgehoben mit Ausnahme der Entscheidungen über die Kosten des Verfahrens und über die Festsetzung der Gebühren des Prozessbevollmächtigten der Klägerin.

Die Entscheidung des Beschwerdeausschusses der Versicherungsanstalt Berlin vom 22. April 1952 und der Bescheid der Versicherungsanstalt Berlin vom 5. November 1951 worden insoweit aufgehoben, als sie sich auf die Zeit nach dem 31. März 1952 beziehen.

Die Beklagte wird für verpflichtet erklärt, der Klägerin vom 1. April 1952 an eine Witwenrente zu gewähren unter Zugrundelegung eines Jahresarbeitsverdienstes, der unter Beachtung der nachstehenden Gründe festzustellen ist.

Soweit die Klage sich auf die Zeit vor dem 1. April 1952 bezieht, wird sie abgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Ehemann der Klägerin war seit dem Jahre 1924 als kaufmännischer Angestellter in der Berliner Niederlassung der Harburger G... -Fabrik P... AG. beschäftigt. Sein Gehalt betrug seit 1935 monatlich 380,-- RM. Am 18. April 1935 wurde er zum Wehrdienst einberufen. Nach dem Zusammenbruch Deutschlands war er von August 1945 bis Juni 1946 mit Unterbrechungen insgesamt 19 Wochen als Bauhilfsarbeiter und Gartenarbeiter in Berlin tätig. Ende Mai 1945 bemühte er sich vergeblich um seine Wiedereinstellung bei der P. AG. Die Firma teilte ihm mit Schreiben vom 4. Juni 1946 unter Hinweis darauf, dass ihre Betriebe in den letzten Kriegsmonaten erheblich zerstört worden waren, u.a. mit:

"Wir haben unter diesen Umständen leider für Sie weder in Berlin noch an anderer Stelle eine Beschäftigungsmöglichkeit und sehen uns deshalb zu unserem großen Bedauern gezwungen, auch Ihr Anstellungsverhältnis unter Beachtung der gesetzlichen Kündigungsschutzfrist zum 31. Dezember 1946 zu kündigen.

Ihr durch Ihre Einberufung unterbrochener Anstellungsvertrag lebt nun wieder auf und es treten ab 1. d.M. Ihre früheren Bezüge in Höhe von 380.-- RM in Kraft. Auf diesen Betrag müssen Sie sich allerdings Ihren dortigen Verdienst anrechnen lassen ......

Wenn ...... in Berlin wieder zu irgendeiner Zeit ein Niederlassungsbetrieb eröffnet werden sollte und sich für Sie eine Beschäftigung bietet, werden wir uns gestatten, an Sie heranzutreten."

Im Juli oder August 1946 begaben sich die Eheleute K... nach D. (Insel Usedom). Dort wollte die Klägerin sich nach einer Operation erholen. Sie wohnte im Hause des Bauern S..., den sie einige Jahre vorher kennengelernt hatte. Der Ehemann der Klägerin fand bei dem Ortsbürgermeister Unterkunft. Für die Beköstigung bei S... wurde kein Entgelt entrichtet, doch half die Klägerin dafür im Haushalt; auch hatten die Eheleute dem Bauern Fahrradreifen, Stoffe und verschiedene andere Sachen mitgebracht.

Am 18. August 1946, einem Sonntag, half der Ehemann der Klägerin dem Bauern S... beim Dreschen. Dabei stürzte er in die Tenne und starb an den Folgen der Verletzungen.

Die Versicherungsanstalt Berlin (VAB.) gewährte der Klägerin durch Bescheid vom 5. November 1951 Witwenrente vom 1. Januar 1951 an. Sie legte der Rentenberechnung einen Jahresarbeitsverdienst (JAV.) von 1.440.-- DM (das Dreihundertfache des Ortslohnes für Berlin) zugrunde. Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin binnen Monatsfrist Beschwerde unter Hinweis darauf, dass ihr Ehemann bis zu seinem Tode ein Monatseinkommen von 380,-- RM von der P.  AG. bezogen habe. Das Rechtsmittel hatte keinen Erfolg. In der Entscheidung des Beschwerdeausschusses der VAB. vom 22. April 1952 ist ausgeführt: Es sei davon auszugehen, dass der Ehemann der Klägerin nach dem Zusammenbruch nur gelegentlich als Arbeiter tätig gewesen sei. Das für diese Tätigkeiten bezogene Entgelt sei jedoch so niedrig, dass es eine unbillige Härte bedeuten würde, den JAV. hiernach zu berechnen. Deshalb müsse nach §§ 941 Abs. 2 und 563 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) das Dreihundertfache des Arbeitslohnes des Beschäftigungsorts D. als JAV. gelten. Da der Ortslohn für D. nicht feststellbar sei, habe die VAB. in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens mit Recht den höheren Ortslohn für Berlin (täglich 4,80 DM) zugrunde gelegt.

Diese Entscheidung hat die Klägerin am 12. Mai 1952 mit der Berufung zum Sozialversicherungsamt Berlin angefochten. Von dieser Stelle ist das Verfahren auf das Sozialgericht (SG.) Berlin übergegangen. In dieser Instanz ist zunächst die Hannoversche landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft als Rechtsnachfolgerin der aufgelösten VAB., später die Bundesausführungsbehörde für Unfallversicherung auf Grund des § 7 des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes vom 7. August 1953 (FremdRG) als Beklagte aufgetreten. Das SG. hat die Bundesausführungsbehörde für Unfallversicherung durch Urteil vom 21. Dezember 1954 für verpflichtet erklärt, der Klägerin vom 1. Januar 1951 an eine Witwenrente unter Zugrundelegung eines JAV. von 4.560.-- DM zu gewähren. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das SG. ausgeführt: Als JAV. sei kein Durchschnittssatz (§ 932 RVO) festzusetzen, weil der Ehemann der Klägerin bei dem Bauern S... nicht in einem Arbeitsverhältnis gestanden habe, sondern im Sinne des § 537 Nr. 10 RVO vorübergehend tätig gewesen sei. Auch § 941 Abs. 2 RVO sei nicht anwendbar, weil der Ehemann der Klägerin nicht in der Landwirtschaft "eingesetzt" gewesen sei. Es liege eine vorübergehende Beschäftigung ohne Entgelt nach § 564 Abs. 1 Nr. 5 RVO vor. Diese Vorschrift sei in Verbindung mit § 941 Abs. 1 RVO auf den vorliegenden Fall anzuwenden. Somit komme es auf das Erwerbseinkommen im Kalenderjahr vor dem Unfall an. Da dieses jedoch infolge der besonderen Zeitumstände ungewöhnlich niedrig gewesen sei, müsse die Berechnung des JAV. nach § 564 RVO als unbillige Härte angesehen werden. Deshalb sei gemäß § 566 RVO der JAV. nach billigem Ermessen festzusetzen. Billig sei es allein, den JAV. dem jahrzehntelang und bis zu seinem Tode bezogenen Einkommen des Verstorbenen aus seiner Tätigkeit bei der P.  AG. (12 x 380 = 4.560.-- RM) gleichzusetzen.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte binnen Monatsfrist Berufung eingelegt mit der Begründung, die Ausnahmeregelung des § 941 Abs. 1 in Verbindung mit § 564 Nr. 5 RVO setze das Bestehen eines anderweitigen Versicherungsverhältnisses voraus; das Arbeitsverhältnis des Verunglückten bei der P.  AG. sei aber am 17. April 1945 beendet und später nicht wieder hergestellt worden.

Das Landessozialgericht (LSG.) hat die Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie als den für die Produktionsstätte der P.  AG. zuständigen Versicherungsträger und die Großhandels- und Lagerei-Berufsgenossenschaft, bei der das Personal der Berliner Verkaufsorganisation der P.  AG versichert war, im Hinblick auf § 942 RVO beigeladen.

Durch Urteil vom 5. Januar 1956 hat das LSG. die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Es hat die Rechtsauffassung des SG. im wesentlichen gebilligt. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung, die es der Auslegung des § 941 Abs. 1 RVO beigemessen hat, hat das LSG. die Revision zugelassen.

Gegen das ihr am 14. Februar 1956 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 24. Februar 1956 Revision eingelegt. Innerhalb der um einen Monat verlängerten Begründungsfrist hat sie das Rechtsmittel durch Schriftsätze vom 26. März und 17. April 1956 wie folgt begründet: Die Ausnahmeregelung des § 564 Abs. 1 Nr. 5 RVO sei über § 941 Abs. 1 Satz 1 RVO nur anwendbar, wenn neben der Beschäftigung in der Landwirtschaft ein anderes Versicherungsverhältnis bestanden habe. Dies ergebe sich sowohl aus dem Zusammenhang zwischen § 941 und § 942 RVO als auch aus der Entstehungsgeschichte des § 564 Abs. 1 Nr. 5 RVO; als diese Vorschrift durch Gesetz vom 9. März 1942 in die RVO eingefügt worden sei, habe man sich in einer Zeit der Vollbeschäftigung befunden und deshalb nicht vorstellen können, dass ein vorübergehend und ohne Entgelt Beschäftigter nicht gleichzeitig in einem anderen Unternehmen hauptberuflich in vollversicherter Weise nach § 537 Nr. 1 RVO tätig sei. Außerdem habe das LSG. verkannt, dass nach § 564 Abs. 1 RVO nur das Erwerbseinkommen des Versicherten zu berücksichtigen sei. Was der Kläger nach seiner Entlassung vom Wehrdienst von der P.  AG. bezogen habe, sei keine Vergütung für irgendeine Tätigkeit, sondern gewissermaßen eine Abfindung aus sozialen Gründen gewesen. Infolgedessen hätten die Zahlungen der P.  AG. der Bemessung des JAV. nicht zugrunde gelegt werden dürfen. Im übrigen sei es zweifelhaft, ob der Ehemann der Klägerin nicht doch gegen Entgelt beim Dreschen geholfen habe, jedoch möge dies, da die Beklagte in den früheren Instanzen diesen Standpunkt vertreten habe, dahingestellt bleiben; gegen die tatsächlichen Feststellungen des LSG. werde insoweit kein Angriff erhoben. Schließlich habe das LSG. die Vorschriften über den Beginn der Rente unrichtig angewandt. Sie, die Beklagte, sei nicht verpflichtet, für einen Zeitraum vor dem 1. April 1952 Rente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und den Bescheid der VAB. vom 5. November 1951 wiederherzustellen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie bezieht sich auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils. Die beigeladene Großhandels- und Lagerei- Berufsgenossenschaft schließt sich den Ausführungen der Beklagten an. Beide Beigeladenen halten sich zu einem Lastenausgleich mit der Beklagten (§ 942 RVO) nicht für verpflichtet.

Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Der Senat hat von der durch § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassenen Möglichkeit, in dieser Weise zu verfahren, Gebrauch gemacht.

II

Die Revision ist, weil das LSG. sie zugelassen hat, statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, also zulässig. Sie ist jedoch nur teilweise begründet.

Die Beklagte ist, wie unter den Beteiligten unstreitig ist, nach § 1 Abs. 1 und 2 Nr. 1, § 7 Abs. 1 Nr. 1 FremdRG verpflichtet, der Klägerin Witwenrente zu gewähren; denn ihr Ehemann war aus Anlass seiner Hilfe beim Dreschen in D. bei einem deutschen Träger der landwirtschaftlichen Unfallversicherung versichert, der sich außerhalb des Bundesgebiets und des Landes Berlin befindet.

In der landwirtschaftlichen Unfallversicherung gelten in der Regel Durchschnittssätze als Jahresarbeitsverdienste (§ 932 RVO). Jedoch sind nach § 941 Abs. 1 RVO die §§ 564, 565 RVO auch auf Verletzte entsprechend anzuwenden, für die durchschnittliche Jahresarbeitsverdienste festgesetzt sind. Das LSG. hat daher im vorliegenden Falle mit Recht § 564 über § 941 Abs. 1 RVO entsprechend angewandt. Die Auffassung der Revision, § 564 RVO sei sowohl in der allgemeinen als auch - über § 941 Abs. 1 RVO - in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung nur anwendbar, wenn neben der unfallbringenden Beschäftigung ein anderes Versicherungsverhältnis bestanden habe, findet im Gesetz keine Stütze. Der Wortlaut des Gesetzes rechtfertigt eine solche einschränkende Auslegung nicht. Dasselbe gilt für die Entstehungsgeschichte der §§ 564 und 941 RVO, die ihre jetzige Fassung durch Art 1 Nr. 5 und 17 des Sechsten Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung vom 9. März 1942 (RGBl. I S. 107) erhalten haben. Dieses Gesetz wollte insbesondere den Unfallversicherungsschutz ausdehnen und die Rentenberechnung verbessern (vgl. Amtliche Begründung in AN. 1942 S. 199). Der Verbesserung der Rentenberechnung diente namentlich die Neufassung des § 564 RVO. Danach ist nicht das Arbeitsentgelt, sondern das Erwerbseinkommen für die Feststellung des JAV. maßgebend. Gerade diese Regelung ist weniger für die nach § 537 Nr. 1 RVO Beschäftigten, bei denen das Erwerbseinkommen in der Regel dem Arbeitsentgelt gleichkommt, als vielmehr für die selbständig Tätigen von Bedeutung. Diese letztere Gruppe steht aber häufig nicht in einem Versicherungsverhältnis der gesetzlichen Unfallversicherung und würde daher, wenn die Rechtsauffassung der Revision zuträfe, ohne Grund von der durch die Neufassung des § 564 RVO erreichten Besserstellung ausgeschlossen werden. Dasselbe gilt für Personen, die in der Regel nach § 537 Nr. 1 RVO beschäftigt sind, sich aber beim Übergang von einem Beschäftigungsverhältnis in ein anderes vorübergehend unentgeltlich oder in anderer Weise nach § 564 Abs. 1 RVO betätigen. Die angeführten Beispiele zeigen zur Genüge, dass die Auffassung der Revision nicht zutrifft, man habe sich im Jahre 1942 als einer Zeit der Vollbeschäftigung nicht vorstellen können, dass ein vorübergehend und ohne Entgelt Beschäftigter nicht gleichzeitig in einem anderen Unternehmen hauptberuflich in vollversicherter Weise tätig sei. Da § 564 RVO somit nicht notwendigerweise die Merkmale eines zweiten Versicherungsverhältnisses voraussetzt, ist er gemäß § 941 RVO auch in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung nach der Auffassung des Senats ohne die von der Revision für geboten erachtete Einschränkung anzuwenden. Es entspräche nicht der versichertenfreundlichen Tendenz des Sechsten Änderungsgesetzes, wenn trotz der uneingeschränkten Verweisung auf § 564 RVO (§ 941 RVO) die Versicherten der landwirtschaftlichen Unfallversicherung von der Verbesserung der Rentenberechnung ausgeschlossen sein sollten. Die Auffassung der Revision wird auch nicht durch § 942 RVO gestützt. § 942 RVO setzt lediglich die Möglichkeit voraus, dass der Verletzte in den Fällen des § 941 RVO in seiner hauptberuflichen Tätigkeit bei einem Träger der allgemeinen Unfallversicherung versichert ist, und regelt für diesen Fall den Lastenausgleich zwischen den beiden Versicherungsträgern.

Die Revision hat zwar in Zweifel gezogen, dass der Ehemann der Klägerin unentgeltlich für den Bauer S... tätig geworden sei, sie hat aber die tatsächliche Feststellung des LSG. nicht angegriffen, dass die Zuwendungen, welche die Klägerin und möglicherweise auch ihr Ehemann von S... erhalten hätten, keine Gegenleistung für die Hilfe des Ehemannes beim Dreschen gewesen seien. Diese Feststellung rechtfertigt die Folgerung, der Ehemann der Klägerin sei beschäftigt gewesen, ohne ein Entgelt zu erhalten. Damit ist der Tatbestand des § 564 Abs. 1 Nr. 5 RVO gegeben. Dem steht nicht entgegen, dass der Ehemann der Klägerin mit seiner Hilfe beim Dreschen nicht die Absicht verfolgt hat, einem Betriebsangehörigen des Bauern einen bezahlten Urlaub zu verschaffen. Dieses Tatbestandsmerkmal ist lediglich beispielsweise angeführt; die Anwendbarkeit der Vorschrift auf andere Fälle wird hierdurch nicht ausgeschlossen (vgl. RVA. in EuM. 51 S. 12 und Breith. 1945 S. 22 [24]; Lauterbach, Unfallversicherung, 2. Aufl., § 564 Anm. 9).

Unbegründet ist auch die Rüge der Revision, das LSG. habe § 564 RVO insofern verletzt, als es die von der P.  AG. im Jahre 1946 gezahlten Bezüge als Erwerbseinkommen des Verstorbenen behandelt und der Berechnung seines JAV. zugrunde gelegt habe. Die Rüge geht von unzutreffenden Voraussetzungen aus. Das LSG. hat den JAV. nicht nach § 564, sondern nach § 566 RVO festgesetzt (§ 941 Abs. 1 Satz 3 RVO). Auf § 564 RVO ist es nur insofern eingegangen, als es zunächst den JAV. ermittelt hat, der nach dieser Vorschrift festzusetzen gewesen wäre, wenn die Festsetzung nicht zu einer unbilligen Härte geführt hätte. Dabei hat es keine von der P.  AG. für die Zeit nach Beendigung der tatsächlichen Beschäftigung (April 1945) gezahlten Bezüge berücksichtigt.

Nach § 566 RVO, dessen Anwendbarkeit auf den vorliegenden Fall das LSG. hiernach mit Recht aus § 941 Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 RVO hergeleitet hat, ist der JAV. unter zwei alternativ angeführten Voraussetzungen nach billigem Ermessen festzustellen, nämlich im Falle der Undurchführbarkeit oder der Unbilligkeit der Berechnung nach §§ 564, 565 RVO. Das LSG. hat die zweite Voraussetzung als gegeben erachtet, indem es angenommen hat, es sei unbillig, den JAV. nach dem Erwerbseinkommen des Jahres 1945 festzusetzen, weil es nur auf die Einberufung zum Wehrdienst und auf den verlorenen Krieg zurückzuführen sei, dass der Ehemann der Klägerin von April bis Dezember 1945, abgesehen von kurzfristigen Beschäftigungen als Bauhilfsarbeiter und Gartenarbeiter, keine Gelegenheit gehabt habe, Einkommen zu erzielen. Gegen diese Auffassung bestehen keine rechtlichen Bedenken.

Dagegen konnte nicht gebilligt werden, dass das LSG. die vom SG. vorgenommene Festsetzung des JAV. auf einen bestimmten Betrag bestätigt hat. Die Revision hat dies zwar nicht ausdrücklich angegriffen, das Revisionsgericht hat jedoch bei zulässiger Revision das angefochtene Urteil in vollem Umfang nachzuprüfen (vgl. BSG. 3 S. 180). In der Vorschrift des § 566 RVO, dass unter bestimmten Voraussetzungen der JAV. "nach billigem Ermessen festzustellen" ist, sicht der Senat eine Ermächtigung an den Versicherungsträger, eine Ermessensentscheidung zu treffen. Dieser Begriff, der durch Art. 12 des Gesetzes vom 14. Juli 1925 (RGBl. I S. 97) Eingang in das Unfallversicherungsrecht gefunden hat (damals § 569 a RVO), ist auch in anderen Gesetzen anzutreffen, z.B. in § 6 der Reichsabgabenordnung vom 13. Dezember 1919 (RGBl. I S. 1993), in § 2 des Steueranpassungsgesetzes vom 16. Oktober 1934 (RGBl. I S. 925), in § 40 Abs. 3 des Gesetzes über Mieterschutz und Mieteinigungsämter vom 1. Juni 1923 (RGBl. I S. 353) sowie in §§ 315, 317, 319 des Bürgerlichen Gesetzbuches. In allen diesen Fällen setzt die justizförmige Kontrolle erst ein, nachdem die Stelle oder die Person, welcher die Ermessensbetätigung eingeräumt ist, eine Entscheidung getroffen hat. Dies gilt insbesondere, wenn auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts eine Behörde zu einer Ermessensentscheidung ermächtigt ist (vgl. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Allgemein. Teil, 6. Aufl. S. 83). Im vorliegenden Falle hätte also dem Versicherungsträger Gelegenheit gegeben werden müssen, die ihm obliegende Ermessensentscheidung zu treffen. Darin, dass dies nicht geschehen ist, die Vorinstanzen vielmehr ihr eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltungsbehörde gesetzt haben, liegt ein Verstoß gegen den durch die Verfassung geschützten Grundsatz der Trennung der Gewalten (vgl. BSG. 2 S. 142 [149] und 3 S. 180 [191]).

Die angefochtene Entscheidung lässt allerdings die Auslegung zu, dass der Vorderrichter den angeführten Grundsatz nicht übersehen, aber angenommen hat, er könne deswegen sein eigenes Ermessen an die Stelle desjenigen des Versicherungsträgers setzen, weil es nach Lage des Falles nur eine billige Feststellung des JAV. gebe, nämlich diejenige unter Zugrundelegung eines Monatsgehalts von 380.-- DM. Ob in solchen Ausnahmefällen, in denen alle denkbar möglichen Verhaltensweisen mit Ausnahme einer einzigen eine fehlerhafte Ermessensausübung bedeuten würden, das Gericht den Versicherungsträger verpflichten darf, sein Ermessen in einem bestimmten Sinne und mit einem bestimmten Ergebnis auszuüben (vgl. hierzu BSG. 2 S. 149), braucht hier nicht entschieden zu werden, weil nach der Auffassung des Senats nicht von vornherein feststeht, dass als Grundlage für die Feststellung des JAV. nur ein Monatsgehalt von 380.-- DM in Betracht kommt. Lässt sich schon die Auffassung vertreten, dass unter Berücksichtigung der Fähigkeiten, der Ausbildung, der Lebensstellung und der Erwerbstätigkeit des Verletzten zur Zeit des Unfalls ein geringfügiger Abstrich von 380.-- DM nicht unbedingt unbillig wäre, so kommt noch hinzu, dass § 566 Satz 2 RVO keine erschöpfende Aufzählung der bei der Feststellung des JAV. zu berücksichtigenden Umstände enthält (vgl. Amtliche Begründung, AN. 1942 S. 200 und Lauterbach a.a.O., § 566 Ann. 4). Dem Versicherungsträger darf nicht die Möglichkeit genommen werden, alle nach seiner Auffassung für die Bemessung des JAV. bedeutsamen Umstände einer Würdigung zuzuführen. Das LSG. hätte daher die Festsetzung des JAV. durch das SG. nicht bestätigen dürfen, vielmehr der Beklagten Gelegenheit geben müssen, das ihr eingeräumte Ermessen auszuüben.

Die Entscheidung des LSG. hält auch insoweit einer Nachprüfung nicht stand, als die Beklagte - wie die Revision mit Recht gerügt hat - nicht hätte verurteilt werden dürfen, schon für die Zeit vor dem 1. April 1952 der Klägerin eine Rente zu gewähren. Das FremdRG, auf dem die Verpflichtung der Beklagten zur Rentenzahlung beruht, billigt Leistungen, die nicht bereits vor dem Inkrafttreten des Gesetzes festgestellt waren, erst vom Tage seines Inkrafttretens, also vom 1. April 1952 an zu (§ 17 Abs. 1 in Verbindung mit § 20 Abs. 1 FremdRG; vgl. BSG. vom 14.3.1958 - 2 RU 300/55; Hoernigk-Jahn-Wickenhagen, Kommentar zum FremdRG, § 20 Anm. 2). Eine andere Auffassung lässt sich auch nicht - wie das LSG. meint - aus den Besonderheiten des Berliner Unfallversicherungsrechts herleiten. Es mag - was hier nicht geprüft zu werden brauchte zutreffen, dass auf Grund der §§ 12, 14 Abs. 2 und 26 Abs. 5 des Gesetzes über Zulagen und Mindestleistungen in der gesetzlichen Unfallversicherung und zur Überleitung des Unfallversicherungsrechts im Lande Berlin vom 29. April 1952 (UZG - BGBl. I S. 253) die vom Bundesminister für Arbeit als Nachfolgerin der VAB. bestimmte Hannoversche landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft mit Rückwirkung vom 1. Januar 1951 an in die Pflichtenstellung ihrer Vorgängerin eingetreten ist. Entsprechende Vorschriften bestehen jedoch nicht für den Übergang der Zuständigkeit von der Hannoverschen landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft auf die Beklagte. Eine solche Regelung war auch nicht geboten, da die Hannoversche landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft im Unterschied zur VAB. noch besteht und infolgedessen noch leistungsfähig ist.

Nach alledem ist die Revision insofern begründet, als die Beklagte nicht für verpflichtet erklärt werden durfte, der Rentenberechnung einen ziffernmäßig bestimmten JAV. zugrunde zu legen, und ihr auch keine Rentenzahlung für die Zeit vor dem 1. April 1952 auferlegt werden durfte. Das angefochtene Urteil war daher mitsamt der durch es bestätigten Entscheidung des SG. aufzuheben, und das Bundessozialgericht hatte in der Sache selbst zu entscheiden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Obwohl der Antrag der Klägerin, den Rentenbescheid der VAB. vom 5. November 1951 durch anderweitige Feststellung des JAV. von 1.440.-- auf 4.560.-- DM zu ändern, nach den vorangegangenen Ausführungen nicht begründet ist, ist die Klage nicht abzuweisen. Dem Klageantrag wohnt der weniger weitgehende Antrag inne, den angefochtenen Rentenbescheid aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, einen neuen, der Rechtsauffassung der Klägerin über die Anwendbarkeit des § 566 RVO entsprechenden Bescheid zu erteilen. Bin solcher Antrag ist nach § 54 Abs. 1 SGG zulässig. Ihm war in der durch § 131 Abs. 3 SGG geregelten Weise zu entsprechen. Dass § 131 Abs. 3 SGG nicht nur auf Fülle unterlassener Verwaltungsakte, sondern auch dann anzuwenden ist, wenn ein ergangener Verwaltungsakt nicht gerechtfertigt ist und die Ermessensbefugnisse der Verwaltungsbehörde noch nicht erschöpft sind, hat der Senat bereits in seiner Entscheidung in BSG. 3 S. 180, hier S. 191, ausgesprochen.

Für die Zeit vor dem 1. April 1952 ist die Klage abweisungsreif. Insoweit kommt nicht die Beklagte, sondern die Hannoversche landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft als leistungspflichtig in Betracht. Im vorliegenden Rechtsstreit kann dieser Versicherungsträger jedoch nicht verurteilt werden, weil er am Verfahren nicht beteiligt ist. Ob er vom LSG. auf Grund des § 75 Abs. 2 SGG hätte beigeladen werden müssen und ob in der Unterlassung der Beiladung ein wesentlicher Mangel des Verfahrens zu sehen ist, kann dahingestellt bleiben, weil ein solcher Mangel nicht gerügt ist und er, wie bereits der 3. Senat des Bundessozialgerichts entschieden hat (BSG. 1 S. 158 [159]), nicht zu den schwerwiegenden Verfahrensmängeln gehört, denen aus Gründen des öffentlichen Interesses entgegengewirkt werden muss und die deshalb von Amts wegen zu berücksichtigen sind (vgl. auch BSG. 2 S. 245 [253]). Dem öffentlichen Interesse ist nach der Auffassung des Senats dadurch Genüge getan, dass widersprüchlichen Entscheidungen, die in dem vorliegenden und einen möglicherweise folgenden Vorfahren gegen die Hannoversche landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft ergehen können, aufgrund der §§ 180, 181 SGG wirksam begegnet werden kann. Die Sache war daher nicht zur Nachholung der unterlassenen Beiladung an das LSG. zurückzuverweisen, vielmehr musste die Klage, soweit mit ihr höhere Rentenansprüche für die Zeit vor dem 1. April 1952 gegen die Beklagte verfolgt werden, abgewiesen werden. Insoweit hat die Klägerin im Verfahren gegen die Beklagte auch keinen Anspruch darauf, dass der Bescheid der VAB. vom 5. November 1951 und die Entscheidung des Beschwerdeausschusses der Versicherungsanstalt Berlin vom 22. April 1952 aufgehoben werden.

Für die Zeit vom 1. April 1952 an mussten der Rentenbescheid der VAB. und die angeführte Entscheidung des Beschwerdeausschusses aufgehoben werden, weil ihnen die unrichtige Rechtsauffassung zugrunde liegt, § 566 RVO sei auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar. Der Rentenbescheid wird insoweit durch einen neuen, die Rechtsauffassung des erkennenden Senats berücksichtigenden Bescheid der Beklagten zu ersetzen sein.

Da das Revisionsgericht die Rechtsauffassung der Klägerin im wesentlichen, namentlich in der Auslegung der §§ 564, 941 Abs. 1 RVO, gebilligt hat, hat es in Anwendung des § 193 SGG die der Klägerin günstigen Kostenentscheidungen der beiden Vorinstanzen bestehen lassen und die Beklagte für verpflichtet erklärt, der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Fundstellen

BSGE, 269

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