Leitsatz (amtlich)

AVAVG § 76 Abs 2 regelt die Verfügbarkeit von Arbeitslosen, die nur Heimarbeit übernehmen können, abschließend. Er gilt nur für das Arbeitslosengeld, nicht aber für die Arbeitslosenhilfe.

 

Leitsatz (redaktionell)

Anwendung des AVAVG § 76:

GG Art 6 hat nicht die Folge, daß eine fehlende Anspruchsvoraussetzung als vorhanden angesehen werden darf.

 

Normenkette

AVAVG § 76 Abs. 2 Fassung: 1957-04-03, § 144 Fassung: 1957-04-03; GG Art. 6 Fassung: 1949-05-23

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 21. April 1959 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Die in B... wohnhafte Klägerin kann wegen der Betreuung ihrer minderjährigen pflegebedürftigen Tochter nur Heimarbeit verrichten und war von Mai 1955 ab auch mehrfach als Heimarbeiterin tätig. Vom 6. August 1956 an bezog sie Arbeitslosenunterstützung (Alu) und anschließend Arbeitslosenhilfe (Alhi). Während dieser Zeit war sie vom 16. August bis 17. Oktober 1956 und vom 31. Juli bis zum 2. September 1957 wiederum als Heimarbeiterin tätig, ihr letztes Beschäftigungsverhältnis dauerte vom 5. September bis zum 14. November 1957. Am 15. November 1957 meldete sie sich erneut arbeitslos und beantragte die Gewährung von Alhi. Das Arbeitsamt lehnte ihren Antrag mit Bescheid vom 26. November 1957, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 29. Januar 1958, mit der Begründung ab, die Klägerin stehe der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung, weil sie nicht bereit und in der Lage sei, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben. Die Ausnahmevorschrift des § 76 Abs. 2 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) über die Begünstigung von Heimarbeitern finde für den Bereich der Alhi keine Anwendung.

Am 13. Januar 1958 hat die Klägerin wiederum Arbeit als Heimarbeiterin aufgenommen. Sie beschränkte demgemäß ihre Klage gegen die Bescheide der Beklagten auf den Zeitraum vom 15. November 1957 bis zum 12. Januar 1958.

Das Sozialgericht (SG) hob die Bescheide der Beklagten dem Antrag der Klägerin gemäß auf und ließ die Berufung zu. Das Landessozialgericht (LSG) änderte auf die Berufung der Beklagten durch Urteil vom 21. April 1959 die Entscheidung des SG ab und stellte die Bescheide der Beklagten insoweit wieder her, als sie den Zeitraum vom 15. November 1957 bis zum 12. Januar 1958 betreffen. Es war der Auffassung, § 76 Abs. 2 AVAVG gelte nur für das Arbeitslosengeld (Alg), nicht aber für die Alhi; daher stehe die Klägerin der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung. Das LSG ließ die Revision zu.

Die Klägerin legte gegen das am 15. Mai 1959 zugestellte Urteil am 12. Juni 1959 Revision ein und begründete sie am 2. Juli 1959. Sie meint, § 76 Abs. 2 AVAVG gelte auch für die Alhi. Es sei ein Unterschied zu machen zwischen "echten" Heimarbeitern und solchen, die nur durch vorübergehende Beschäftigungszeiten einen Anspruch auf Alg erworben hätten. Die Klägerin sei vor der hier strittigen Zeit bereits mindestens zehn Jahre ausschließlich als Heimarbeiterin tätig gewesen. Sinn und Zweck der Alhi würden durchbrochen, wenn für solche echten Heimarbeiter nur eine Unterstützung durch die öffentliche Fürsorge in Betracht käme. Es handele sich hierbei um die Frage der Gleichbehandlung. Bei einer anderen Auslegung sei Art. 6 des Grundgesetzes (GG) verletzt. Denn wenn die Klägerin eine Arbeit außerhalb ihrer Wohnung annehmen müßte, wäre damit zu rechnen, daß ihr das Sorgerecht für ihr Kind entzogen würde. Dann wäre der Schutz des Art. 6 GG in Frage gestellt.

Die Klägerin beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des LSG Berlin vom 21. April 1959 die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Berlin vom 21. August 1958 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II.

Die durch die Zulassung statthafte, auch form- und fristgerecht eingelegte Revision ist nicht begründet.

Die Klägerin kann Unterstützung aus der Alhi nur erhalten, wenn sie außer anderen hier nicht zu erörternden Voraussetzungen der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht (§ 145 Abs. 1 Nr. 1 AVAVG). Eine eigene Erläuterung dieses Begriffs enthalten die Vorschriften über die Alhi nicht. Vielmehr gelten nach § 144 Abs. 1 Satz 2 die sonstigen Vorschriften des AVAVG sinngemäß, soweit nicht die Besonderheiten der Alhi entgegenstehen. Es ist also § 76 AVAVG, der die Voraussetzungen der Verfügbarkeit für die Arbeitsvermittlung bei Beziehern von Arbeitslosengeld regelt, im Rahmen des § 144 Abs. 1 Satz 2 AVAVG auf die Alhi anwendbar. Nach § 76 Abs. 1 steht der Arbeitsvermittlung zur Verfügung, wer ernstlich bereit,... nach seinem Leistungsvermögen imstande und nicht durch sonstige Umstände ... gehindert ist, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben. Kann der Arbeitslose nur Heimarbeit übernehmen, so steht dies für die Dauer seines Anspruchs auf Alg der Annahme, daß er der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht, nicht entgegen, wenn er innerhalb der Rahmenfrist des § 85 mindestens 26 Wochen versicherungspflichtige Beschäftigung als Heimarbeiter ausgeübt hat (§ 76 Abs. 2). Da die Klägerin wegen der Betreuung ihres Kindes nur Heimarbeit übernehmen kann, ist zunächst zu prüfen, ob der Abs. 2 des § 76 auf die Alhi anzuwenden ist und den Anspruch der Klägerin rechtfertigt. Dies ist nicht der Fall. Abs. 2 ist besonders auf das Alg zugeschnitten und entspricht dem Versicherungsprinzip, das dem Alg zugrunde liegt. Heimarbeiter gelten nach § 195 AVAVG als Arbeitnehmer im Sinne der Vorschriften über Arbeitslosenversicherung und Alhi. Sie sind nach § 68 AVAVG auch grundsätzlich versicherungspflichtig. Um zu verhüten, daß eine durch Heimarbeit erworbene Anwartschaft nicht zum Versicherungsschutz in der Arbeitslosenversicherung führt, ist für die Heimarbeiter die Ausnahmevorschrift des § 76 Abs. 2 AVAVG geschaffen worden. Diese Gedankengänge gelten aber, wie sich aus der amtlichen Begründung ergibt, nur für das Alg, nicht dagegen für die Alhi (Bundestagsdrucksache Nr. 1274 der 2. Wahlperiode 1953, 121). Ein Heimarbeiter, der seine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung als Heimarbeiter entrichtet hat, soll dafür zum Ausgleich Alg erhalten, auch wenn er in aller Regel nicht in eine übliche Arbeit vermittelt werden kann und deshalb die Arbeitslosenversicherung "das Wagnis für diesen am Rande des Arbeitsmarktes lebenden Personenkreis nicht übernehmen kann." Diese Einschränkung des § 76 Abs. 2 AVAVG folgt auch deutlich aus dem Wortlaut des Gesetzes ("für die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld"). Die Wortfassung ist nicht zufällig entstanden, sondern kennzeichnet den Willen des Gesetzgebers, die Begünstigung der Heimarbeiter auf das Alg zu beschränken. Für die Alhi ist daher die Vorschrift nicht anwendbar, wie ebenfalls die amtliche Begründung ausdrücklich besagt. Die Klägerin hätte daher nur dann Anspruch auf Alhi, wenn sie der allgemeinen Arbeitsvermittlung zur Verfügung stünde. Dies ist aber nicht der Fall.

Der Senat hatte zu § 87 aF (vgl. Urteil vom 25. Februar 1960, SozR AVAVG § 87 aF Nr. 6) ausgeführt, wenn ein Arbeitsloser lediglich Heimarbeit übernehmen könne, so sei Verfügbarkeit und damit Arbeitslosigkeit nur dann anzunehmen, wenn die Heimarbeit in dem für den Arbeitslosen räumlich in Betracht kommenden Gebiet mindestens einen nennenswerten Teil des allgemeinen Arbeitsmarktes darstelle. Diese Rechtsprechung ist aber, wie bereits am Schluß des Urteils angedeutet, durch die Neufassung des AVAVG und die ausdrückliche Regelung in § 76 Abs. 2 AVAVG überholt. § 76 Abs. 2 regelt die Verfügbarkeit von Arbeitslosen, die nur Heimarbeit übernehmen können, abschließend. § 76 Abs. 1 AVAVG ist für Heimarbeiter nur anzuwenden, wenn sie auch für andere Beschäftigung als Heimarbeit zur Verfügung stehen. Die Klägerin hat mithin keinen Anspruch auf Alhi.

Dieses Ergebnis verstößt nicht gegen Art. 6 GG. Nach dessen Abs. 1 stehen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung, und Abs. 4 gibt jeder Mutter Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. Diese Vorschrift begründet eine Pflicht der Behörden zum Schutz und zur Fürsorge für jede Mutter, und notfalls müßte, wenn keine andere Abhilfe geschaffen werden kann, die öffentliche Fürsorge eintreten. Art. 6 GG hat dagegen nicht die Folge, daß eine fehlende Anspruchsvoraussetzung als vorhanden angesehen werden darf.

Die Revision ist daher zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 227

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